Randale beim Fußball – Hat das Fernsehen Schuld?

Sport im Fernsehen, das ist Unterhaltung für viele, kostengünstige Schleichwerbung für wenige, wichtige Informationsquelle über Ergebnisse und Tabellenplätze für Sportex­perten, reizvolles Zahlenspiel für Glücksritter und langweiliges Ritual für Desinteres­sierte. Gewinn oder Verlust, Überleben oder Zukunft, so lauten darüber hinaus die Fragen, die sich für Sportorganisationen, Veranstalter von Sportereignissen, für Athle­ten, aber auch für die Medien selbst mit dem Sport im Fernsehen stellen können. Sport im Fernsehen, das heißt Diktat der Wettkampfzeiten bei Olympischen Spielen durch amerikanische Sendeanstalten, Änderung der Sportregeln zugunsten der Fernsehdrama­turgie, das heißt aber auch weltweite Popularität der Sportstars, Transformation des Sports in eine universelle Kultur über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg. Der Sport im Fernsehen hat auf diese Weise eine kaum zu unterschätzende Breitenwirkung. Niemals wurde dies deutlicher als während der noch immer andauernden globalen Pandemie. Ohne Zuschauer vor Ort findet der Spitzensport fast ausschließlich als Fernsehsport statt. Die umfassende Präsentation des Sports im Fernsehen wertet die so ins Bild gesetzten Personen, Ereignisse und Institutionen ganz wesentlich auf, gibt ihnen Macht und Ein­fluss. Immer offensichtlicher wird dabei, dass das Fernsehen uns die Realität des Sports nicht nur in Ausschnitten vermittelt, sondern dass es diese auch selbst gestaltet, verän­dert und manipuliert, im positiven wie im negativen Sinne.

Wenn der Sport im Fernsehen ein immer bedeutsamerer Programmteil sowohl für das Fernsehen als auch für die Sporttreibenden und für die Institutionen des Sports ist, und immer mehr Menschen den Sport oftmals nur allein auf diese Weise, d.h., aus zweiter Hand, erleben, so ist es ebenso naheliegend, dass man nach den Wirkungen fragt, die solcher Sport bei den Zuschauern erzeugt. Wie wird ihr Wissen, ihr Denken, ihr Handeln, wie werden ihre Emotionen und ihre Einstellungen durch die Sportsen­dungen des Fernsehens beeinflusst? Mit Vermutungen und Vorwürfen ist man bei sol­chen Fragen in der Regel schnell zur Hand. Dem Sport im Fernsehen ist es ebenso ergangen. Bei Ausschreitungen von Fußballfans stellten Fußballfunktionäre, Sportpolitiker, aber einige Nationalspieler des öfteren die Vermutung in den Raum, dass nicht zuletzt das Fernsehen mit seiner Berichterstattung einen Katalysator für Ausschreitungen beim Fußball darstellen könnte. Vermutungen dieser Art haben Tradition. Auch jene kleine Gruppe von Sport­wissenschaftlern, die sich selbst Fanforscher nennen und immer dann auf den Plan gerufen sind, wenn Randale im Stadion droht oder stattgefunden hat, sprechen von einer Schuld der Sportjournalisten, vor allem von einer Schuld des Sportfernsehens.

Auf der Suche nach Faktoren, die Zuschauerausschreitungen im Sport hervorrufen, neigen dabei immer mehr Sportwissenschaftler dazu, die Massenmedien als beeinflus­senden Faktor für Einstellungen und Haltungen gegenüber der Gewalt im Sport anzu­führen. Vorzugsweise werden dabei psychologische Erklärungsmodelle verwendet. Ins­besondere die lerntheoretische Konzeption des Modellernens scheint dabei eine beson­dere Erklärungskraft für die im Sport anzutreffenden Phänomene zu haben. Das Prin­zip des Lernens am Erfolg, aber auch das Konzept der Rückkopplung legen zurecht die Vermutung nahe, dass dem Sportfernsehen eine Schlüsselrolle für die Gewaltausschrei­tungen zukommen könnte. Immerhin wissen wir, dass für die Fans die Sportberichter­stattung in den Medien, nicht zuletzt, wenn über ihre eigenen Ausschreitungen und Gewalttaten berichtet wird, eine wichtige Angelegenheit ist. Die damit verknüpfte Annahme von Fanforschern, dass die Gewaltdarstellungen in den Medien auf die Fans im Sinne einer positiven Verstärkung Auswirkungen haben, ist nicht weniger nahelie­gend. Es wird deshalb die Vermutung geäußert, dass durch die Sportberichterstattung das Gruppendenken der Fans begünstigt wird und dass bereits im Vorfeld von Sportereignissen die Einstellungen der Fans zugunsten von Gewalttaten beeinflusst und Aggressionen stimuliert werden. Besonders kritisiert wird in diesem Zusammenhang der nachlässige Jargon und die Kommentierung der aggressiven Handlungen durch Sportjournalisten. Es wird befürchtet, dass die sprachli­che Verharmlosung von Fouls, die Tolerierung von Regelverstößen bei den Zuschauern den Eindruck des „legitimen Fouls“ erzeugen, zumindest würde dadurch möglich, aggressives Verhalten als zum Sport zugehörig zu empfinden bzw. es zu entschuldigen. Besonders problematisch sind jene Kommentierungen des Foulspiels, die sich durch chauvinistische Einseitigkeit auszeichnen. Vor allem Jugendliche – so wird angenom­men – lernen über die Sportberichterstattung modellhaft gewalttätige Handlungen im Interesse sportlichen Erfolges und sind danach in ihrer eigenen Sportpraxis eher bereit, das negativ Erlernte anzuwenden. Kritisiert wird dabei auch, dass in den Sportmedien der Gewalt ein hoher Unterhaltungswert zugebilligt wird. Durch die Präsentierung und Kommentierung von Gewaltszenen des Sports wird Gewalt zu einem Teil sportlicher Wirklichkeit, auf den man nur schwer verzichten kann.

Diese Vermutungen sind gewiss nicht als unberechtigt von der Hand zu weisen. Die Gefahr der Verharmlosung und Tolerierung gewalttätiger Handlungen im Sport, die Gefahr des Chauvinismus durch Sportberichterstattung ist ganz ohne Zweifel gegeben. Ebenso wichtig ist es aber auch, dass man erkennt, dass es sich dabei in erster Linie um Vermutungen handelt. Die meisten Kritiker des Sportfernsehens, aber auch die Mehr­heit der sogenannten ‚Fanforscher‘ geben vor, etwas von der Masse der Fernseh­zuschauer zu verstehen, die Wirkung der Fernsehberichterstattung überprüft zu haben, deshalb auch das Mandat zu besitzen, Urteile über das Sportfernsehen zu äußern. Prüft man diese Voraussetzungen jedoch etwas genauer, so muss man feststellen, dass die Kri­tiker der Sportberichterstattung die genannten Voraussetzungen in der Regel nicht erfüllen. Das Gemeinsame der vielen Spekulationen über das Sportfernsehen zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass pauschal und stellvertretend für eine anonyme Masse der Zuschauer über diese geredet wird.  Befunde zu den unterschiedlichen Sehgewohnheiten bei Sportfernsehsendungen werden dabei ebenso wenig beachtet wie jene weiterführenden Erkenntnisse, die in der allgemeinen Medienwirkungsforschung zum Problem des Fernsehens bereitstehen. Pauschal ist das Reden über das Sportfernsehen auch deshalb, weil in solchen Diskussionen nur sehr selten nach Sendeinhalt und nach Sendeform unterschieden wird und weil vor allem nicht jene beobachtet werden, über die man spricht. Will man über Wirkungen des Sportfernsehens reden, so müsste man die Zuschauer selbst beob­achten und zwar nicht zu einem einzigen Zeitpunkt, sondern über einen längeren Zeitraum unter dem Aspekt einer überdauernden Veränderung in Bezug auf deren Denken, Wissen, Fühlen und Handeln. Erst dann könnte sinnvoll über Wirkungen des Sportfernsehens gesprochen werden. Anspruchsvolle Wirkungsuntersuchungen, die tatsächlich überprüfen, inwieweit die vermutete Wirkung eingetreten ist, sind leider derzeit im Bereich des Sports nicht aufzuweisen.

Angesichts der Vielfalt von Faktoren, die neben dem Sportfernsehen in der Diskussion über die Ursachen der Gewalt im Sport zu beachten sind, scheint es deshalb eher gefährlich zu sein, im Sinne einseitiger oder vorschneller Schuldzuweisung eine mögliche Ursache besonders zu gewichten. Meist geschieht dies deshalb, weil man damit sich selbst oder andere von der eigenen Verantwortung entlastet. Dies gilt sowohl für die Athleten als auch für die Sportfunktionäre. Wer wie der Deutsche Fußball-Bund das Problem der Fußballrandale zumeist der anonymen Gesellschaft anlastet und nicht begreift, dass er selbst Teil dieser Gesellschaft ist, hat kaum einen konstruktiven Beitrag zur Lösung des Pro­blems anzubieten. Wer Fans immer nur dann als willkommenen Partner betrachtet, wenn diese die Einnahmen der Vereine mit dem Kauf von Fanutensilien steigern, oder wenn beim Torschuss der Jubel durch die Westkurve erwünscht ist, der hat kein Recht, den moralischen Zeigefinger auf andere zu richten. Die sozialen Probleme unserer Gesellschaft, die sich ihren Ausdruck in der Randale der Fans verschaffen, können gewiss nicht vom Sport allein gelöst werden. Wer jedoch lediglich auf Ausgrenzung und Bestrafung oder auf einseitige Schuldzuweisung setzt, wie dies allzu oft Politiker und Sportfunktionäre getan haben, den interessieren ganz offensichtlich die Ursachen dieser Probleme nicht.

Mit solchen Hinweisen soll die Sportberichterstattung gewiss nicht entlastet werden. Wer wie das Fernsehen die Gewalt im Sport immer nur dann aufgreift, wenn es bereits brennt, ist kaum als ein konstruktiver Partner in dieser Angelegenheit zu bezeichnen. Ein konstruktiver Beitrag – bezogen auf das hier diskutierte Problem – dürfte jedoch vom Sportfernsehen auch zukünftig nicht zu erwarten sein. Die Massenmedien sind für die Welt des Sports schon längst nicht mehr ein ehrlicher Seismograph von dessen Wirklichkeit. Sie haben vielmehr bewirkt, dass die Welt des Sports sich gespalten dar­stellt. Es gibt jenen Sport, der in erster Linie Selbstzweck ist, den die Menschen aus Freude an Bewegung, Spiel und Sport im Sinne einer sinnvollen Freizeit aufsuchen, und der ihnen wichtige individuelle Erfahrungen ermöglicht, und der immer häufiger alltäglich auf vielfache Weise betrieben wird. Daneben gibt es den morbiden, hyper­trophen, zirzensischen Sport, so wie er fast ausschließlich in den Massenmedien zur Darstellung kommt. Der Athlet ist dabei immer mehr der manipulierte Akteur einer Show, die Regeln moderner Dramaturgie folgt, deren Quantität und Qualität mit Einschaltquoten gemessen wird. Auf diese Weise erzeugter Sport ist längst in der Gefahr zur Karikatur seiner selbst zu werden. Fernsehsport ist deshalb immer häufiger Personenkult, unkritische Verkürzung sportlicher Leistung, Maßstabslosigkeit und nicht wenige Sportjournalisten sind Komplizen der Sportindustrie geworden. Sportfernseh-Journalismus verkommt immer häufiger zum Public-Relations-Geschäft, Sport im Fernsehen reduziert sich immer mehr auf Show und Kommerz.  Eine berufsethische Einstellung ist bei immer weniger Journalisten zu erkennen. Die Zahl jener nimmt zu, die sich aus jeglicher gesellschaftlichen Verantwortung davonstehlen. In einem Fernsehen, das den Gesetzen der Unterhaltungsindustrie folgt, und in dem nichts anderes zählt als die Einschaltquote, scheint dies ein konsequenter Weg zu sein: „The show must go on“. Zukünftige Hoffnung auf die Massenmedien dürfte somit eher vergeblich sein. Einen Erziehungsauftrag werden sie vermutlich kaum erfüllen, sie werden auch nicht die Rolle eines Korrektors einnehmen können. Dennoch sind sie eine Macht, die ganz wesentlich die weitere Entwicklung des Sports prägen wird.

Letzte Überarbeitung: 08.06.2021