Olympische Spiele – ein Weg aus der Krise

Der moderne Olympismus, mit seinen Olympischen Spielen im Zentrum des Ideengebäudes, ist schon seit längerer Zeit in einer schweren Krise. Die Zukunft der Spiele scheint keineswegs gesichert zu sein. Es stellt sich sogar die Frage, ob die Olympische Idee gescheitert ist.
Eine Krise bedeutet jedoch immer auch eine Chance. Wenn erkannt wird, dass die alten Wege nicht mehr weiterführen, so muss man neue Wege suchen. Für den Moraltheologen Jürgen Moltmann, der sich mit der Krise des Olympismus in einer äußerst grundlegenden Weise auseinandergesetzt hat, gibt es dabei die einmalige Chance zur Lösung der gegenwärtigen Krise der Olympischen Spiele, wenn die olympische Idee neu durchdacht, sie besser verstanden und konsequenter vertreten wird als bisher. Will man diese Chance nutzen, so ist zunächst zu klären in welcher Krise die Spiele sich derzeit befinden.

Merkmale der aktuellen Krise

Nach Auffassung der großen Mehrheit der kritischen Beobachter der Olympischen Spiele befinden sich diese in einer politischen Krise. Einmal mehr wurde dies im Vorfeld der Olympischen Winterspiele und auch während deren Durchführung in Peking im Februar 2022 in Peking deutlich. An der Oberfläche spiegelt sich diese Krise in den Boykottforderungen einiger westlicher Nationen, deren führenden politischen Repräsentanten und einiger Teile der Massenmedien gegenüber dem IOC und gegenüber den Athletinnen und Athleten wider, die an Olympischen Spielen in bestimmten Ländern teilnehmen möchten. Zu boykottieren sind demnach all jene möglichen Gastgebernationen, die den politischen Frieden gebrochen haben und/oder in denen die Menschenrechte nicht in jener Weise eingehalten werden, wie es von den westlichen Nationen erwartet wird. Demnach wäre es eine grundsätzliche Voraussetzung für die Veranstaltung Olympischer Spiele, dass „politischer Frieden“ gewährleistet ist. Bei dieser Forderung stellt sich jedoch sehr offensichtlich die Frage, wann jemals dieser politische Frieden auf der ganzen Welt erreicht sein kann und wer hat das moralische Recht, diesen Frieden festzustellen und mögliche Friedensbrecher anzuklagen und ggfls. zu sanktionieren.
Dieselbe Frage stellt sich für die Einhaltung der Menschenrechte. Folgt man jenen Organisationen, die für sich den Anspruch erheben, für die Kontrolle der Einhaltung der Menschenrechte verantwortlich zu sein, so muss festgestellt werden, dass in allen Nationen, die seit 1896 Gastgeber von Olympischen Spielen gewesen sind, nach den Maßstäben dieser Organisationen Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren waren.  Allein der Sachverhalt, dass von der UN die Todesstrafe als ein Verstoß gegen die Menschenrechte bewertet wird, macht deutlich, dass zukünftig bei einer Beibehaltung dieser Regel nach heutigem Stand 93 Nationen von der Durchführung und Teilnahme an olympischen Spielen auszuschließen wären. Hinzukommt, dass dabei auch nicht geklärt wäre, welche Instanz über die Teilnahme und den Ausschluss entscheidet.
Politischer Frieden und die Einhaltung der Menschenrechte können deshalb meines Erachtens nicht als notwendige Voraussetzung für die Durchführung von Olympischen Spielen definiert werden.

Die eigentliche politische Krise der Olympischen Spiele, folgen wir weiter den Erkenntnissen von Moltmann, zeigt sich uns vielmehr in der Olympischen Idee selbst, die die Olympischen Spiele der Neuzeit seit ihrem Neubeginn verfolgt haben. Coubertins Olympische Idee war von Anfang an eine politische Idee, denn Sport und Spiel sollten nicht nur um ihrer selbst willen stattfinden, sondern sollten auch andere Zwecke repräsentieren. Folgt man der Interpretation von Moltmann, so hatte Coubertin zwei politische Interessen im Blick:

Sein innenpolitisches Interesse zielte auf die ungeheure Beschwichtigungskraft des Sports für soziale Konflikte. Der Sport war für ihn ein „sozialer Blitzableiter“, er ist ein „Verbindungsglied zwischen den verschiedenen Klassen“. Siege von Athletinnen und Athleten der eigenen Nation ermöglichen eine kollektive Identifikation. In der Aussage „wir haben gewonnen“ treten soziale Unterschiede zurück und bestehende Konflikte werden kurzfristig vergessen oder hintangestellt. Der Sport dient der Affirmation bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse, er stabilisiert die jeweils vorhandene gesellschaftliche Ordnung. Moltmann fügt hinzu, dass er aber auch die bestehende „gesellschaftliche Unordnung“ stabilisiert. Deshalb ist dieser Sport für Diktaturen in gleicher Weise attraktiv wie für Demokratien. Von einem emanzipatorischen Potenzial des Sports ist bei Coubertins Ideenwerk so gut wie nichts zu erkennen. Es spiegelt vielmehr die innenpolitischen Interessen eines Landes wie Frankreich im 19. Jahrhundert wider und wie sie auch in den meisten übrigen europäischen Nationen verfolgt wurden.

Das außenpolitische Interesse, das Coubertin mit der Wiederbelebung der antiken Olympischen Spiele verfolgte, ist auf die Ehrung des Vaterlandes ausgerichtet. Waren Siege im antiken Olympia Zeichen für die Gunst der Götter, so werden moderne Olympiasiege zu „Ruhmeszeichen der Nation“. „Der Wettkämpfer, der an den Spielen teilnimmt, erhöht damit sein Vaterland und seine Rasse“, so Coubertin. Jeder Athlet soll sich vor Augen halten, dass „sein sportliches Werk ein Einsatz für sein Vaterland ist“. Vor dem Hintergrund dieser Idee waren die Olympischen Spiele nicht zuletzt während des Kalten Krieges für die Konfliktparteien dieses „Krieges“ ein äußerst willkommenes Ereignis. Sozialistische Nationen, allen voran die Sowjetunion und die DDR wollten mit ihren sportlichen Erfolgen die Überlegenheit des eigenen politischen Systems öffentlich beweisen. Doch auch westliche Nationen mit ihren Präsidenten und Regierungen sahen im sportlichen Erfolg eine Repräsentation der eigenen Nation. „Wir müssen unsere olympische Überlegenheit wiedergewinnen“ verlangte Robert Kennedy 1960 für die USA. Vergleichbare Aussagen gibt es auch von Charles de Gaulle nach einem schlechten Abschneiden Frankreichs bei Olympischen Spielen. Englische Politiker bezeichneten ihre „olympische Niederlage“ bei den Spielen in Atlanta als eine „nationale Schande“. Von mehreren deutschen Politikern gibt es vergleichbare Aussagen, so zum Beispiel die von dem ehemaligen Innenminister Maihofer, der es bei keiner ihm bietenden Gelegenheit versäumte, der westdeutschen Nation kund zu tun, dass der Spitzensport immer auch ein „Wettstreit der Nationen“ ist und als solcher sogar zu einem „Gradmesser“ für die Leistungsfähigkeit des jeweiligen Systems wird, „ob wir es wollen oder nicht“.

Zur Geburtsidee der modernen Olympischen Spiele gehört somit eine „doppelte Politisierung“ dieser Spiele, was gleichzeitig den entscheidenden Gründungsfehler der modernen Olympischen Spiele offenlegt. Wer den Sport in seinen vielfältigen Varianten selbst auf die eine oder andere Weise betreibt oder betrieben hat, der weiß, dass der Sport eine äußerst interessante Dimension der Erfahrung des Lebens, des Glücks und der Freude bieten kann, die nicht im „Politischen“ aufgeht und darum durch politische Interessen und Rücksichtnahmen in einer gefährlichen Weise entfremdet wird. Diese Entfremdung des Sports von seiner möglichen eigenen Lebenserfahrung war von Anfang an mit den Ideen der modernen Olympischen Spiele verbunden. „Indem Coubertin den Weltsport mit nationalen Empfindungen und Gefühlen verkoppelte, lieferte er diesen Sport auch den national-staatlichen Konflikten aus“, schlussfolgert deshalb Moltmann. Wie viele Humanisten im 19. Jahrhundert glaubte er an eine „Harmonie der Nationen“. Inzwischen – das konnte er noch nicht sehen – sind aus national-staatlichen Konflikten die Weltkonflikte Kapitalismus – Sozialismus -Dritte Welt geworden, die in diesen Tagen in den aktuellen Konflikten zwischen den USA und der EU auf der einen Seite und China, Russland und einigen wichtigen Entwicklungsländern auf der anderen Seite, einen fürchterlichen Ausdruck gefunden haben. Diese Konflikte sind deshalb unvermeidlich auch die Konflikte der Olympischen Spiele.

Vor diesem Hintergrund stellt sich nahe liegend die Frage, ob die national-staatliche Organisation der Olympischen Spiele der „Sportlichkeit des Sports“ nützt oder ob sie nicht gerade durch diese Form der Organisation ruiniert wird.

Die national-staatliche Ausrichtung der Spiele verweist auf einen weiteren Aspekt der aktuellen Krise, der unmittelbar mit dieser Akzentsetzung zusammenhängt. In einer modernen Mediengesellschaft, in der wir ohne Zweifel leben, ist die nationale Repräsentanz mittels sportlicher Erfolge an spektakuläre Erfolge gebunden. Bei Olympischen Spielen ist deshalb „Sensationssport“ zu präsentieren und dieser Sensationssport zeigt sich uns in den Höchstleistungsvergleichen von professionellen Athleten und Athletinnen. Moltmann stellt deshalb zu Recht die Frage: „Sind die Olympischen Spiele eigentlich noch „Spiele“ – spielerisch und erfreulich? Und wenn man sich fragt welche Länder sich die Kosten für die Ausrichtung der Olympischen Spiele leisten können befindet man sich im exklusiven Zirkel der reichen Nationen“.

Die olympische Krise ist deshalb nicht nur eine politische Krise, sie ist auch eine ökonomische und eine moralische Krise: „Die klassischen Ideale der Humanität, die untrennbar mit der olympischen Idee verbunden sind, werden verleugnet, sobald die Machtinteressen großer Nationen berührt werden“, so Moltmann.

Will man dieser komplexen Krise entgegentreten, will man einen Ausweg finden, so muss vor allem erkannt werden, dass die Krise der Olympischen Spiele die moralische Krise der heutigen Welt widerspiegelt. Wer die Auffassung teilt, dass ein Weltfrieden, der – wie mühsam auch immer – nur durch eine Weltgemeinschaft garantiert werden kann, und wer anerkennt, dass dies keine idealistische Idee sondern die realistische Bedingung für das Überleben der Menschheit ist, der kann zu der Einsicht gelangen, dass die Olympische Idee in Wahrheit ein Teil dieser notwendigen Idee der kommenden Weltgemeinschaft sein sollte: „Wenn die Olympischen Spiele leiden, leidet die Weltgemeinschaft. Wenn die olympische Idee stirbt, ist das ein Anzeichen dafür, dass unsere Zukunft stirbt“.

Deshalb war und ist es ein Fehler, wenn langfristige politische Interessen an einer gemeinsamen Zukunft unserer Welt den kurzfristigen Interessen von Nationen untergeordnet werden und auf die wenigen Stätten der Begegnung von Menschen auf dem Wege zu dieser Weltgemeinschaft verzichtet wird. Allein deshalb muss alles getan werden, dass die Olympischen Spiele als ein Ort der Begegnung von Menschen auch zukünftig erhalten bleibt.

Empfehlungen für einen Weg aus der Krise

Die aktuelle Krise der Olympischen Spiele bedarf einer äußerst detaillierten und objektiven Beschreibung. Diese Beschreibung ist bislang nur sehr unzureichend erfolgt und die verschiedensten Wissenschaften sind eingeladen, diese Beschreibung zu vervollständigen. Dem IOC ist zu empfehlen, zu einer transparenten Bearbeitung dieser Aufgabe einen internationalen wissenschaftlichen Kongress durchzuführen, bei dem führende Wissenschaftler aus allen wissenschaftlichen Disziplinen zu Wort kommen, von denen eine Lösung für diese wichtige Aufgabe zu erwarten ist.

Doch bereits auf der Grundlage der hier versuchten Kennzeichnung der Krise lassen sich einige Empfehlungen ableiten, die möglicherweise dem IOC einen Weg aus der Krise aufzeigen. Auf der Suche nach derartigen Empfehlungen könnte es wichtig sein, dass wir noch einmal auf den Ursprung der Olympischen Idee selbst zurückgehen. Coubertin hat seine olympische Idee als eine „Religio Athletae“ beschrieben. Eine „Sportreligion“ soll die völkerverbindende Wegbereitung einer zukünftigen Weltreligion sein. Er bezieht sich dabei auf die Antike, in der die Religion die treibende Kraft für den friedlichen Wettkampf der Athleten gewesen ist. Sie war die moralische Instanz und das Forum für das olympische Fest. Die Spiele waren Teil der griechischen Religion. Die Religion ging voran. Die Spiele folgten. Moltmann weist darauf hin, dass es bei den modernen Olympischen Spielen genau umgekehrt ist: „Die Religion wird zu einem Teil der Spiele. Sie wird „gemacht“, weil man sie „braucht“. Sie ist somit nicht mehr als ein bloßes Artefakt. Für Coubertin sollte die neue olympische Religion den rivalisierenden Weltreligionen Frieden bringen. Hierzu bedient er sich aller nützlichen Rituale, die es in der antiken Olympischen Religion gegeben hat. Der Ort der Spiele ist der „Heilige Bezirk“, er ist ein „Wallfahrtsort“, der Einzug der Athleten gleicht einer „Prozession“, das Olympische Komitee ist ein „Priesterkollegium“, der olympische Eid ein „Reinigungsritus“, die Siegerehrung eine „Huldigung der Nationen“. Künstler sollten die Spiele zu einem religiösen Fest gestalten. Coubertin: „In Olympia versammelt man sich sowohl zu einem Pilgerzug in die Vergangenheit, als zu einer Vertrauenserklärung in die Zukunft. Dies stünde wirklich ebenso gut den wiederauferstandenen Olympiaden an“.

Coubertins Vorstellungen von einer Olympischen Religion sind bis heute in vielen Lobreden über die Olympischen Spiele wiederholt worden. Die Ideologie- und Religionskritik, die es zu diesen Ideen gibt, wurde vom IOC und dessen geschichtswissenschaftlichen Protagonisten allerdings bis heute nicht zur Kenntnis und schon gar nicht ernst genommen. Doch will man die Olympischen Spiele tatsächlich erneuern, so muss erkannt werden, dass die moderne olympische Religion lediglich „Wunschbild, Traumfabrik und Opium für das Volk“ ist. Für Moltmann ist sie „eine gefährliche Glorifizierung des Sports und eine Vergötterung der Spiele, die beiden ihre Menschlichkeit nimmt. Wem nützt diese Erhebung von Sport und Spiel in die weihevolle, erhabene Ebene des Religiösen? Denen, die Freude an Sport und Spiel haben, sicher nicht. Sie nützt nur denen, die Sport und Spiel für andere Zwecke ausnutzen wollen. Coubertin ging nicht von einer der bekannten Weltreligionen aus, sondern vom religiösen Patriotismus, um zum religiösen Internationalismus voranzuschreiten. Religiöser Patriotismus und religiöser Internationalismus sind aber selbst nur religiöse Derivate und dubiose Ersatzgebilde für das, was die großen Weltreligionen darstellen“.
Der religiöse Olympismus muss deshalb offensiv als das bezeichnet werden was er wirklich ist: Er ist ein künstlich arrangierter moderner Götzendienst. „Die religiösen Gewänder dieses Götzen sind aus anderen Religionen, vornehmlich den europäischen, geliehen. Die religiösen Symbole und Rituale sind nicht originell, sondern aus zweiter Hand übertragen. Die Olympischen Spiele werden nicht mehr zu Ehren der Religion veranstaltet, sondern die Religion wird zu Ehren der Olympischen Spiele okkupiert“. Bei den Olympischen Spielen „feiert der Mensch sich selbst, betet sich selbst an, opfert sich selbst und belohnt sich selbst. Eine Religion ohne Gott führt zur Vergötterung des Menschen und seiner Leistung. Die Vergötterung des Menschen aber führt zur Überforderung des Menschen und so zur Unmenschlichkeit“.

I.

Nach der bisherigen Analyse lässt sich ein erster Vorschlag an die Verantwortlichen im IOC ableiten. Sie sollten sich dringend von der ideologischen Überhöhung der Spiele verabschieden. Dazu gehört, dass sämtliche Rituale, die aus zweiter Hand stammen, auf ihre Eignung zu überprüfen und gegebenenfalls durch neue kreative Formen der Symbolisierung zu ersetzen sind.

II.

Ein zweiter Vorschlag müsste auf das konstitutive Merkmale der kulturübergreifenden Bedeutung der Spiele und des modernen Sports zurückgreifen. Diese liegt in erster Linie in der ursprünglichen menschlichen Lust am Sport, in der Freude am Gelingen der sportlichen Leistung und im Glück, das man bei einem gelungenen sportlichen Wettkampf oder beim Spiel im Sport empfindet. Sport und Spiel gehören zu den Menschen. Seit es den Menschen gibt,  sind sie Teil seiner Humanität. Im Sport findet der Mensch sich selbst, entdeckt er seine Kräfte, spürt seine Grenzen. Er spielt mit seinen körperlichen Möglichkeiten und gestaltet sein Leben. Im Spiel findet der Mensch seine Einstellungen zu anderen Menschen und gestaltet seine Gemeinschaft. Sport und Spiel haben eine grundlegende Bedeutung für die Menschwerdung des Menschen. Sie haben ihre eigene Würde und ihren Sinn in sich selbst.
Zu diesem Sinn gehört, dass beim Sport der Mensch nicht etwas herstellt, sondern sich selbst darstellt. In den relevanten Analysen zum Sinn des Sports und des Spiels wie sie von Philosophen und Wissenschaftlern wie Huizinga, Sutton -Smith, Lenk, Gebauer, Grupe aber auch von Sartre und Friedrich Schiller in ihren ästhetischen Aussagen zum Spiel dargelegt wurden, ist der Sportler und Spieler kein Techniker, er ist viel mehr mit dem Künstler zu vergleichen. Er produziert nicht etwas was man gebrauchen kann, sondern er stellt etwas dar, an dem man sich erfreuen kann. Die „Dimension des zweckfreien, aber in sich sinnvollen Spiels ist die wahre religiöse Dimension im Sport. Sport im Dienst des Vaterlands, Sport zu Ehren des Sozialismus, Sport als Hochleistung in der kapitalistischen Leistungsgesellschaft sind hingegen Entfremdung, Missbräuche, Zerstörungen der ursprünglich menschlichen und darin wahrhaft religiösen Dimension des Sports. Wer olympisch reitet, soll nicht „für Deutschland reiten“, sondern weil er gern und gut reitet.“
Der von Moltmann initiierte Vorschlag zielt auf eine Neuformulierung der Olympischen Idee. Damit sollen die Humanität des Sports und die Freiheit des Spiels geschützt und gefördert werden. Die Freiheitshoffnung, die in der ursprünglichen Erfahrung des Sports und des Spiels liegt, wurde von Coubertin richtig erkannt und durchaus auch sehr angemessen beschrieben.

III.

Bei einer Neuausrichtung der Olympischen Ideen ist es deshalb keineswegs notwendig, dass das gesamte Ideengebäude von Coubertin zurückgelassen wird oder gar zu überwinden ist.  Doch so wie jede Religion kann auch die olympische ambivalent sein: „Sie kann Opium des Volkes und Ferment der Freiheit sein“. Für Moltmann ist die Kritik an der „Religio Athletae“ dann sinnvoll, wenn sie das Opium in ihr zerstört und das Ferment der Freiheit zum Vorschein bringt. Hierzu bedarf es eines wachen politischen Bewusstseins derjenigen, die für das neue Ideengebäude der Olympischen Spiele verantwortlich sind. Olympische Spiele, wie Coubertin sie wollte, sollten „eine Vertrauenserklärung an die Zukunft sein“. Dies können Sie allerdings nur dann sein, wenn die Spiele nicht mehr so aufgemacht werden, dass die sozialen Konflikte beschwichtigt und die politischen Auseinandersetzungen vergessen oder gar bewusst ausgeklammert werden. In einem neuen Olympischen Ideengebäude muss ein „großes Protestpotenzial gegen die ökonomische Ausbeutung des Menschen, gegen die rassistische Erniedrigung des Menschen, gegen die maskuline Herabsetzung der Frau und gegen die nationalistische Trennung der Menschen“ einen zentralen Platz erhalten. Gleichzeitig müssen bei den Spielen selbst durch die Sportler eine Welt des friedlichen Wettkampfes, des Fair Play, der gegenseitigen Anerkennung und der Freundschaft dargestellt werden. Sie sind eine Alternative zu der realen Welt, in der wir leben und leiden.

Olympia wird auf diese Weise zu einem Symbol der Hoffnung, wenn sein Charakter als Protest, als Alternative und als Vorspiel der Freiheit gegenüber dem alltäglichen Leben in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft herausgestellt wird. Der unter IOC-Präsident Bach eingeschlagene Reformweg verweist dabei durchaus in die richtige Richtung. Die Agenda 2020 und die Agenda 2020 +5 sind erste Schritte, um die global existierende Freiheitshoffnung gegen politischen, sozialen und ökonomischen Missbrauch zu schützen. Allerdings sind weitere Schritte dringend erforderlich, will das IOC die aktuelle Krise der Olympischen Spiele überwinden

IV.

Wir müssen akzeptieren, dass der olympische Weltsport zu einem besonders erfolgreichen Zuschauersport geworden ist. Nicht zu akzeptieren ist jedoch, dass der Olympische Sport als Ersatz und Kompensation für die fehlenden Sporterfahrungen der Zuschauer wahrgenommen wird. Die besondere Herausforderung bei der Entwicklung einer neuen olympischen Idee muss deshalb darin liegen, dass die Olympischen Spiele zur Anregung zu eigenen sportlichen Erfahrungen werden, dass die Spiele tatsächlich einen Erziehungscharakter erhalten, wie dies von Pädagogen in den vergangenen zwei Jahrhunderten immer wieder gefordert wurde. Hierzu muss das IOC eine völlig neue aktive Beziehung zu den Bildungssystemen dieser Welt aufbauen und pflegen und bei den Spielen selbst muss der Vorbildcharakter der sportlichen Handlungen, die das Attribut olympisch verdienen, in einer ganz neuen Weise zur Darstellung kommen.

V.

Die von Moltmann  vorgelegte Analyse zur aktuellen Krise der Olympischen Spiele legt dem IOC eine weitere Veränderung  dringend nahe: Die nationalstaatliche Basis der modernen Olympischen Spiele muss möglichst sofort aufgegeben werden. Hierzu gehört nicht nur der Verzicht auf eine Nationenwertung und ein an Nationen ausgerichteter Medaillenspiegel. Notwendig ist auch eine organisatorische Neufassung des IOC und eine Überprüfung der Finanzierung der Olympischen Spiele. Moltmann schlägt beispielsweise vor, die Spiele zukünftig in enger Kooperation mit der UNO zu organisieren und sie über einen UNO Fonds zu finanzieren. Wenn Olympische Spiele ein Zeichen der Hoffnung sein sollen, so sollten sie nicht eine Sache der Nationen und dabei vor allem der reichen Nationen sein, sondern sie sollten eine Sache der Menschen werden. Hierzu müssten nationenübergreifende Wettkampfstrukturen gefunden und durchgesetzt werden. Die hierzu bei der Einführung der Olympischen Jugendspiele gefundenen ersten Ideen könnten sich dabei als eine hilfreiche Grundlage erweisen.

VI.

Die nach wie vor wachsende Kommerzialisierung des öffentlichen Sports hat ihn zur „Ware“ gemacht. Davon sind auch die Olympischen Spiele schon seit längerer Zeit betroffen. Durch den „Warencharakter“, den der Leistungssport angenommen hat, wurde die ihm mögliche eigene Lebensweise nahezu zerstört. Die wohl schwierigste Herausforderung für eine neue Begründung der olympischen Idee ist deshalb wohl darin zu sehen, die Olympischen Spiele aus dem bloßen Leistungs- und Konsumdenken heraus zu führen und sie mit einem einfachen, d.h. auch mit einem nachhaltigen Lebensstil zu verbinden. Hierzu kann durchaus einmal mehr auf Coubertin zurückgegriffen werden, denn dieser befürwortete die Ideen für eine asketischen Lebensweise. Eine asketische Lebensweise ist angesichts der ökonomischen und ökologischen Krisen unserer Welt sehr viel mehr als nur eine Tugend, die Olympischen Athletinnen und Athleten angeraten sein sollte.
Wir wissen längst, dass der Lebensstil der kommenden Weltgemeinschaft nur der Stil des „einfachen und gemeinsamen Lebens“ sein kann. Die Olympischen Spiele der Zukunft könnten für diesen Lebensstil eine herausragende Bühne bieten. Der Olympismus wäre dann ein Ausdruck und Reflex auf eine geteilte, unterdrückte und bedrohte Welt, die sich selbst in einer tiefen Krise befindet. Der Olympismus als „Alternative zur Gestaltung des Lebens“ wäre eine echte Alternative und Chance in der Krise in der sich in diesen Tagen die gesamte Menschheit dieser Welt befindet.
In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass das IOC seine Kooperation mit den  großen Wirtschaftsunternehmen und mit internationalen Medienkonzernen  auf den Prüfstand stellen sollte. Doch diese Kooperationen sind für die Entwicklung einer neuen olympischen Idee weit weniger problematisch als die bislang vorherrschende national- staatliche Ausrichtung der Spiele.  Für eine auf globale Kooperation ausgerichtete Wirtschaft, aber auch für die Massenmedien, können eine weltkulturelle Ausrichtung der Spiele und eine Distanz zu national-politischen Interessen durchaus attraktiv sein. Der „Stil des einfachen und gemeinsamen Lebens“ ist schon längst auch eine Herausforderung für die Wirtschaft und die Massenkommunikation geworden.

Zusammenfassende Empfehlungen

Will man den hier vorgeschlagenen Weg zu einer Reform der Olympischen Spiele akzentuiert zusammenfassen, so können an das IOC die abschließenden zwanzig Empfehlungen gerichtet werden:

  1. Die Olympische Charta bedarf einer Überarbeitung. Insbesondere müssen die Wahlverfahren überprüft werden, die eine Mitgliedschaft im IOC regeln. Zu prüfen ist, ob zukünftig die Wahl von Personen, die aktiv im Bereich der national-staatlichen Politik tätig sind, von der Wahl ausgeschlossen werden und ob auf die Wahl von Repräsentanten des Adels und des „neuen Geldadels“ verzichtet wird. Zu prüfen wäre auch die Möglichkeit, ob den zukünftigen Olympischen Komitees nur noch Personen angehören, die als Teilnehmer früherer Olympischer Spiele auf eine aktive olympische Erfahrung verweisen können. Zu empfehlen ist in diesem Zusammenhang eine Entscheidung auf der Grundlage eines wissenschaftlichen Gutachtens von international anerkannten Politikwissenschaftlern. Prinzipiell muss es dabei darum gehen, dass die demokratischen Strukturen des IOC verbessert und gestärkt werden.
  2. Eine Neugestaltung der olympischen Idee muss auch zukünftig zwingend an das Gebot einer politischen Neutralität der Olympischen Spiele gebunden sein. Der Politikbegriff und das Verständnis zu einer sinnvollen Beziehung zwischen den im IOC und seinen Olympischen Spielen und national-staatlicher Politik, wie sie in der Sportpolitik des derzeitigen IOC-Präsidenten verwendet werden, ist für die weitere Entwicklung der Olympischen Spiele tragfähig und möglichst von allen Verantwortlichen der Spiele zu beachten und in ihrem eigenen Handeln zu berücksichtigen.
  3. Bei zukünftigen Olympischen Spielen wird auf jegliche pseudo – religiöse Ritualisierung verzichtet. Eröffnungs- und Schlussfeier bedürfen einer neuen Ritualisierung und Symbolik. Konzepte und Vorschläge hierzu sollten von unabhängigen Künstlern, Dramaturgen und Regisseuren erarbeitet werden.
  4. Bei zukünftigen Olympischen Spielen wird auf den Einmarsch der Nationen verzichtet, sämtliche national-staatlich ausgerichteten Organisationsformen werden aufgegeben. Bei der Durchführung der Spiele ist das IOC bemüht, jegliche national-staatliche Repräsentation zu verhindern. Die Einrichtung von Gästehäusern (Deutsches Haus, Casa Italia etc.) sollte durch das IOC verboten werden.
  5. Die „kommerzielle Zurückhaltung“ des IOC bei der Vermarktung der Olympischen Spiele wird beibehalten. Gleiches gilt für die Beibehaltung des Werbeverbots in den Olympischen Sportstätten und für die bestehenden Werbebeschränkungen.
  6. Die kommerzielle Askese des IOC, die Beibehaltung des Werbeverbots und deren Begründung werden möglichst kontinuierlich öffentlich und proaktiv kommuniziert.
  7. Die am Prinzip der Solidarität ausgerichteten olympischen Hilfsprogramme werden vor dem Hintergrund des neuen, um das durch ein „Together“ ergänzten olympischen Mottos und der Neuausrichtung der Olympischen Idee, kontinuierlich und proaktiv kommuniziert.
  8. Die auf die globale Verantwortung des IOC ausgerichteten ökologischen Projekte werden ausgebaut und ihre öffentliche Darstellung wird verbessert.
  9. Die wichtigsten Stakeholder des IOC, die Olympischen Komitees und die internationalen Fachverbände, werden intensiver als bisher in ein neu zu schaffendes Regelwerk der Verantwortung und Pflichten eingebunden, um die neue ideelle Ausrichtung der Spiele zu gewährleisten. Hierzu sollte auch ein Sanktionskatalog gehören, wenn die Stakeholder ihre Pflicht nicht erfüllen.
  10. Die Partner aus den Bereichen der Wirtschaft und der Medien werden in die Neugestaltung der zukünftigen Spiele aktiv eingebunden. Sie müssen vermehrt in die Verantwortung zur Weiterentwicklung der Olympischen Spiele und in die Umsetzung der neuen olympischen Ideen eingebunden werden.
  11. Das IOC verzichtet zukünftig auf jeden „olympischen Luxus“. Diesbezüglich sind die Bereiche Transport, Unterkunft, Hospitality und Aufwandsentschädigung zu überprüfen und an den wünschenswerten Lebensstil anzupassen, der bei den Olympischen Spielen zur Darstellung gebracht werden soll.
  12. Die zukünftigen Olympischen Spiele müssen in vieler Hinsicht verkleinert werden. Zu verkleinern ist die Anzahl der teilnehmenden Athletinnen und Athleten, des technischen Personals, der Funktionäre, der anwesenden Journalisten und des sonstigen Medienpersonals. Das Wettkampfprogramm selbst muss entzerrt werden, damit mehr Zeit für die kulturelle Begegnung und gegenseitige Wertschätzung der Athletinnen und Athleten bei den Wettkämpfen selbst verbleibt. Sowohl für die Olympischen Sommerspiele als auch für die Olympischen Winterspiele sollten idealtypische Modelle erstellt werden, an denen sich zukünftige Ausrichtung orientieren könnten. Innerhalb der Modelle sollte es variable Module geben, durch die eine Anpassung an die anzutreffenden ökonomischen, sozialen und politischen Strukturen des jeweiligen Ausrichters möglich wird.
  13. Das Wettkampfprogramm, das ohne Zweifel das Zentrum der Olympischen Spiele darstellt, bedarf dringend einer Revision. Es muss vor allem an der Idee der Vorbildwirkung für eine weltweit erwünschte aktive Spiel- und Sportkultur ausgerichtet sein und den ökonomisch und ökologisch vertretbaren Lebensstil repräsentieren, der bei der Ausrichtung von Olympischen Spiele zum Ausdruck gebracht werden soll. Auf die Einführung von E-Sportwettbewerben sollte deshalb ebenso verzichtet werden wie auf die Ausweitung des Wettkampfprogramms in bestehenden Sportarten. Auf die Ausrichtung ökologisch fragwürdiger Wettkampfangebote sollte generell verzichtet werden.
  14. Die durch die Agenda 2020 und 2020 +5 initiierten Sparmaßnahmen zur Durchführung zukünftiger Olympischer Spiele müssen weiterentwickelt werden. Hierzu gehört eine ständige Anpassung an ökologische Erfordernisse und an die wirtschaftlichen Möglichkeiten interessierter Ausrichterländer. Die Idee eines UNO – Fonds und damit eine neue Form der Finanzierung zukünftiger Spiele sollte von den Verantwortlichen im IOC überprüft werden.
  15. Die Bildungs- und Erziehungsprogramme des IOC sind zu intensivieren und auszuweiten. Dies gilt vor allem für den Zeitraum der Spiele selbst und für den Aufenthalt der Athletinnen und Athleten im Olympischen Dorf. Die bestehenden Fair play- Initiativen des IOC sind fortzuführen und zu erweitern. Gleiches gilt für den Anti- Dopingkampf.
  16. Der Aufenthalt der Athletinnen und Athleten im Olympischen Dorf sollte sich möglichst über einen Zeitraum von drei Wochen erstrecken und zur verpflichtenden Bedingung werden, um an den Spielen teilnehmen zu können. Vorzeitiges Abreisen sind ebenso zu verhindern wie eine verspätete Anreise. Sonderbehandlungen von professionellen Starathleten werden nicht mehr genehmigt.
  17. Die Neuausrichtung der Spiele legt nahe, dass zukünftig auch das IOC im Olympischen Dorf wohnt und sich am Lebensstil der Athletinnen und Athleten und deren Betreuer orientiert.
  18. Die nach wie vor im sportpolitischen Gebäude des IOC existierende Dominanz der Europäer muss überwunden werden. In der weiteren und nahen Zukunft muss es gezielte Bemühungen geben, dass die Olympischen Spiele vermehrt bei ihrer Ausrichtung einem „kontinentalen Wechsel“ unterliegen und auch kleinere Länder Ausrichter der Spiele werden können. Die daran interessierte Dritte Welt muss eine besondere Unterstützung erhalten. Die Spiele müssen noch entschiedener zu einem Ausdruck einer „kulturellen Universalität“ werden.
  19. Die Spiele waren und werden in der weiteren Zukunft notwendigerweise immer auch ein „Zusammenprall unterschiedlicher Kulturen“ sein. Die entscheidende Frage ist dabei, ob der Zusammenprall zu einem Austausch führt, der vom IOC initiiert und gestaltet wird. Die Internationalisierung des die Spiele begleitenden Kulturprogramms sollte deshalb ein weiterführendes Ziel sein.
  20. Das IOC sollte die Institution eines „Olympic Mirror“ einrichten. Damit sollte den Mitgliedern des IOC von maximal 20 unabhängigen Personen mindestens alle zwei Jahre ein Spiegel zu ihrer Arbeit vorgehalten werden. Der Personenkreis, aus dem sich diese Institution zusammensetzt, könnte aus unabhängigen Personen aus den Bereichen Wissenschaft, Massenmedien, Wirtschaft, Kunst, Kultur etc. „auf Zeit“ berufen werden.

Literaturhinweis: Moltmann, J: Olympia zwischen Politik und Religion. In: Digel, H. (Hrsg.): Nachdenken über Olympia. Tübingen 2004, S.83-90

Letzte Bearbeitung: 18.Juli 2022