‚München‘ 1972 – ein Modell für zukünftige Olympische Spiele

Nach der gescheiterten Bewerbung von Berlin sind zuletzt deutsche Olympia-Bewerbungen für Winterspiele in München und für Sommerspiele in Hamburg vor allem wegen des energischen Protestes der Einwohner gescheitert. Wie stand es um Vorbehalte und Bedenken der Bevölkerung rings um die vorläufig letzten deutschen „Heimspiele“ in München im Jahr 1972? Oder wurden die Menschen damals gar nicht gefragt?

H.D.: Heute wäre eine Bewerbung ohne Bürger-Votum wohl undenkbar. Doch zu jener Zeit Anfang der 60er Jahre, als das NOK der Bundesrepublik unter Führung von Willi Daume seine Bewerbung beim IOC eingereicht hat, wurde dieser Schritt von der deutschen Öffentlichkeit so gut wie gar nicht wahrgenommen. Dieser Vorgang wurde als eine Angelegenheit des NOK, der Stadt München und des Bundeslandes Bayern angesehen. Die Idee, dass bei einer derartigen Bewerbung im Vorfeld zwingend eine Volksbefragung stattzufinden habe, gab es zu dieser Zeit noch nicht. Man kann jedoch davon ausgehen, dass die sinnvollen Ziele, die München mit den Spielen verfolgte, die Einwohner damals überzeugt hätten und diese Bewerbung sicher eine deutliche Mehrheit auch im gesamten Bundesgebiet gefunden hätte.

Wie haben Sie die Atmosphäre im Lande und in der Gastgeberstadt damals erlebt?

H.D.: Schon der Bau des architektonisch einmaligen Olympiastadions hatte nicht nur die Münchner Bevölkerung fasziniert, sondern erzeugte im gesamten Land bis hinauf in den Norden nach Kiel, wo ja die Olympischen Segelwettbewerbe stattfanden, eine Vorfreude auf ein Ereignis, bei dem sich Deutschland zum ersten Mal nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als weltoffener und freundlicher Gastgeber präsentieren konnte. Die Baustelle für den Olympia-Park und das Stadion mit seiner ausgesprochen mutigen, futuristischen Dachkonstruktion habe ich mir mehrmals aus nächster Nähe angesehen. Vor allem hatte mich dieses Dach sofort in seinen Bann gezogen, das ja später zum weltweiten Vorbild für viele solcher Glaskonstruktionen geworden ist. Willi Daumes Visionen wurde nahezu in allen Punkten in Zusammenarbeit mit Architekten, Designern, Künstlern und Wissenschaftlern erfüllt, was nicht zuletzt auch durch die vorbildliche politische Unterstützung von Oberbürgermeister Vogel möglich wurde.

Wie nahe dran waren Sie damals am Geschehen, was war bei „München ´72“ Ihre spezielle Aufgabe?

H.D.: Im Vorfeld dieser besonderen Olympischen Spiele gab es einen besonderen wissenschaftlichen Kongress, an dem ich als wissenschaftlicher Assistent von Ommo Grupe, der die Leitung innehatte, einige der internationalen Referenten betreute. Dieser Kongress mit dem Titel „Sport in unserer Welt – Chancen und Probleme“ fand im Auftrag des Organisations-Komitees für die Spiele der XX. Olympiade München 1972 vom 21. bis 25. August statt und war und ist wohl bis heute der größte wissenschaftliche Kongress, den es jemals aus Anlass von Olympischen Spielen gab. Die Spiele selbst habe ich dann zu Hause in Tübingen am Fernseher von morgens bis abends verfolgt und die besonderen Helden dieser Spiele sind mir bis heute in Erinnerung geblieben, so als ob dieses Ereignis erst vor wenigen Wochen stattgefunden hätte. Ich denke dabei an Heide Rosendahl, an das Duell der Speerwerfer zwischen dem Letten Janis Lusis und Klaus Wolfermann, an den Schwimmer Marc Spitz und seine sieben Goldmedaillen. Ich denke auch an Valerie Borsow, der über 100 Meter und 200 Meter zum Sieg sprintete, und an die Erfolge der DDR-Mannschaft, die im Medaillen-Spiegel hinter der Sowjetunion und den USA einkam – einen Platz vor dem Team der Bundesrepublik.

Was muss man sich unter einem solchen wissenschaftlichen Kongress des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) vorstellen?

H.D.: Willi Daume sah in dieser Veranstaltung in Verbindung mit den Olympischen Spielen eine informierende, reflektierende und kritische Instanz, bei der sich Wissenschaft nicht nur als angewandt und Praxis bezogen in der Betreuung von Athleten auszeichnet, sondern die Spiele aus allen denkbaren Perspektiven auf einen Prüfstand zu stellen vermochte. Dieser Anspruch spiegelte sich schon in der enormen Zahl von insgesamt 2.200 Kongress-Teilnehmern aus 72 Ländern wider. Einhundert herausragende Wissenschaftler aus 30 Ländern waren der Einladung als Referenten gefolgt. Unter den vielen herausragenden Wissenschaftlern sollen hier stellvertretend lediglich B. Cratty, B. Sutton – Smith, H. Lenk, H. von Hentig, E. Jokl, K. Heinilä, G. Erbach und V. E. Frankl genannt werden. Zugleich gab es rund um den Kongress die Ausstelllungen „100 Jahre deutsche Ausgrabungen in Olympia“, „Sport und Medizin“ sowie zum Thema Literatur und Sport.

Welchen „Nährwert“ versprachen sich IOC und Gastgeber von solchen, die Wettkämpfe ergänzenden Veranstaltungen?

H.D.: Willi Daume sah sich mit seinen Ideen in der Tradition von Pierre de Coubertin. Olympische Spiele waren für ihn immer mehr als nur ein bloßes sportliches Ereignis, sehr viel mehr als jede noch so spektakuläre Weltmeisterschaft. Der olympische Sport war für ihn ein bedeutsamer Teil einer Kultur einer modernen Gesellschaft, wie sie überall in der Welt erwünscht sein sollte. Deshalb zeichnen sich die Münchner Spiele durch eine Symbiose von Kunst, Literatur, Architektur, Wissenschaft und Olympischem Sport aus, wie sie meines Erachtens weder zuvor noch danach bei Olympischen Spielen der Neuzeit angetroffen werden konnte. Mit seinem genialen Ansatz ragen diese Spiele vor 50 Jahren bis heute heraus. Mit seinem kreativen Konzept steht „München `72“ bis heute einzigartig da.

Zum Programm Olympischer Spiele gehörten früher auch Wettbewerbe auf kulturellem Gebiet, bei denen es ebenso um Medaillen ging wie bei den sportlichen Vergleichen. Warum sind diese Facetten inzwischen aus dem Programm verschwunden?

H.D.: Bei den wenigen Spielen, bei denen es solche Wettbewerbe gab, hatten diese leider nicht jene Beachtung gefunden, die man sich für sie gewünscht hätte. Durch die Dominanz des olympischen Sportprogramms, durch die ständige Ausweitung der Spiele und durch die zunehmenden kommerziellen Interessen ist es zur Vernachlässigung dieser wichtigen Programminhalte gekommen. Gerade vor diesem Hintergrund war es für Daume ein äußerst wichtiges Anliegen, den kulturellen Charakter der Olympischen Spiele mit neuen Akzenten zu versehen.

Sie meinen, bei Spielen mit zunehmend mehr Sportarten, einer größeren Zahl von Teilnehmern, Funktionären und Presseleuten sprich: der rasanten Ausdehnung der sportlichen Wettkämpfe sei fürs „Nichtsportliche“ immer weniger Platz gewesen, wäre das wissenschaftlich-kulturelle Begleitprogramm auf immer weniger Interesse gestoßen?

H.D.: Bei fast allen Olympischen Spielen nach 1972 wurde immer wieder versucht, dem Vorbild von München zu folgen. Doch angesichts der meines Erachtens äußerst problematischen ständigen Ausweitung des olympischen Wettkampfprogramms und angesichts der massenmedialen Aufwertung der Athletinnen und Athleten und von deren Wettkämpfen wurden die zum Teil durchaus beachtlichen kulturellen Programme der jeweiligen Gastgeber meist nicht mehr wahrgenommen. Vor allem auch deshalb, weil die Besucher der Spiele gar keine Zeit mehr zum Besuch solcher Kulturveranstaltungen und Ausstellungen parallel zum sportlichen Geschehen finden konnten. Und wenn sich die Besucher während der Spiele untereinander treffen, dann treffen sich die Deutschen im „Deutschen Haus“, die Italiener im „Casa Italia“, die Österreicher im „Haus Austria“, die Schweitzer im „Schwyzer Hus“ etc. Eine Begegnung mit der Kultur des Gastgebers findet auf diese Weise so gut wie gar nicht mehr statt.

Überschattet wurden die Spiele vor 50 Jahren von den Schreckensbildern des Attentates vom 5. September, bei dem elf israelische Athleten und Trainer, ein Polizist und fünf der palästinensischen Terroristen ums Leben kamen. Wie haben Sie diesen furchtbaren Tag erlebt?

H.D.: Wie fast alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland habe ich ab der ersten Nachricht wie gelähmt die Berichte über das Attentat im Fernsehen verfolgt. Nach den Nazi-Verbrechen, die wir Deutsche vor und während des zweiten Weltkriegs gegenüber unseren jüdischen Mitbürgern und gegenüber vielen Menschen und Nationen in der ganzen Welt begangen hatten, war es ja das besondere Anliegen der Münchner Spiele, uns der Welt als eine neue Gesellschaft zu präsentieren, die weltoffen und gastfreundlich ist und die aus ihren Fehlern in der Vergangenheit die notwendigen Konsequenzen und Lehren gezogen hat. Mit diesem Attentat wurde dieses wichtige Anliegen von einem Moment auf den anderen grundsätzlich infrage gestellt.

Wie war Ihnen zumute, als IOC-Präsident Avery Brundage anschließend bei der Trauerfeier verkündete: „The games must go on“?

H.D.: Ich teilte die Meinung, dass angesichts der besonderen Ideen des „Modernen Olympismus“ die Spiele fortzuführen sind. Für mich war schon damals klar und ist es bis heute geblieben, dass die besondere Botschaft von Olympischen Spielen in der Idee von „Olympic Truce“, also in der Idee von einem „Frieden auf Zeit“ zu liegen hat und dass man diese Idee gegen alle Widerstände verteidigen muss. IOC-Präsident Avery Brundage gehört für mich zu jenen Präsidenten, deren Wirken eher kritisch zu beurteilen ist. Meines Erachtens ist es auch ein Fehler, dass man den mittlerweile berühmten Satz „The Games must go on“ nur mit ihm verbindet. Er verkörperte ja nicht allein und als Einziger die IOC-Exekutive. Es war nicht zuletzt auch Willi Daume, der eine Fortsetzung der Spiele befürwortete und die Auffassung vertrat, dass gerade angesichts des Attentats und im Gedenken an die israelischen Opfer die Friedensbotschaft des Sports aufrecht zu erhalten sei.

Was würden Sie heute anders oder besser machen als die Organisatoren damals?

H.D.: Sicherheitsvorkehrungen, wie sie heute bei Olympischen Spielen üblich sind, gab es damals noch nicht. Man sollte dies jedoch nicht als einen Fehler der damaligen Organisatoren bezeichnen. Ich bin dankbar dafür, dass ich noch eine Zeit habe erleben können, in der man in ein Flugzeug ohne elektronische Kontrollen und ohne Videoüberwachung einsteigen konnte und in der man einen Olympiapark wie in München ohne ständige Überwachung mit seinen Schönheiten der Architektur und der Natur bewundern konnte. Ich würde mir wünschen, dass jüngere Menschen in der näheren Zukunft solche Bedingungen wieder antreffen und zum Beispiel Olympia für sie im besten Sinne wieder greifbarer werden könnte. Die politische Realität auf dieser Welt ist leider jedoch eine völlig andere.

Was können heutige Bewerbungen und Bewerber Ihres Erachtens von „München ´72“ lernen?

H.D.: München hat für mich auf einmalige Weise gezeigt, dass man städtebauliche Visionen mit der Ausrichtung von Olympischen Spielen Wirklichkeit werden lassen kann, dass notwendige Modernisierungsprozesse durch die Spiele für die jeweiligen Ausrichterregionen durchgeführt werden können und dass man eine ganze Nation für die Schönheit der Spiele begeistern kann. Mit der „IOC Agenda 2020 und 2020 +5“ lassen sich nun, nach vielen Fehlern, die in der Vergangenheit gemacht wurden, zukünftig auch in anderen Ländern dieser Welt Spiele nach dem „Münchner Modell“ durchführen. Allerdings ist dabei erforderlich, dass sie nicht größer sein sollten als jene, die in München stattgefunden haben, der Aufwand für die Organisation der Spiele sich in vertretbaren Grenzen hält, dass die Kosten von den Ausrichtern verantwortungsvoll kalkuliert werden und sich Einnahmen und Ausgaben in einer sinnvollen Balance befinden.

Sportlich stand im deutsch-deutschen Spannungsverhältnis vor 50 Jahren die beinharte Auseinandersetzung zwischen den Mannschaften der DDR und der Bundesrepublik im Vordergrund – oder ist es gar nicht so gewesen?

H.D.: Die Spiele in München fanden inmitten des „Kalten Krieges“ statt. Die politische System-Auseinandersetzung war demzufolge unverkennbar. Dies gilt vor allem für das deutsch-deutsche Prestige-Duell, bei dem die DDR unter sportlichen Gesichtspunkten eindeutig als Sieger hervorging.

Im Rückblick und der Nachbereitung scheinen die DDR-Medaillen ab 1972 nicht das Ergebnis knallharten Trainings, sondern zuerst das Resultat von Doping und Manipulation…

H.D.: Die heute noch weitverbreitete Annahme, dass jeglicher sportlicher Erfolg der DDR auf einen staatlich verordneten Medikamenten-Missbrauch zurückzuführen ist, war und ist weder angemessen noch weiterführend. Mit Blick auf das nach wie vor ungelöste Dopingproblem des olympischen Sports waren die Spiele von München ohne Zweifel auch „Dopingspiele“, Bei denen sich sehr viele Athletinnen und Athleten aus den großen Sport Nationen mit Leistungen präsentierten, bei denen u.a. auch pharmakologische Unterstützung eine wichtige Rolle gespielt haben. Dies gilt für die Sowjetunion und die USA gleichermaßen wie für Großbritannien, die Bundesrepublik und die DDR.

Wie ist aus Ihrer persönlichen Sicht die bisherige Aufarbeitung der deutschen Sportgeschichte seit 1945 einzuschätzen? Was ist gut und was weniger gut gelaufen?

H.D.: Aus sporthistorischer Sicht ist meines Erachtens die Entwicklung des Sports seit 1945 in beiden deutschen Staaten bis 1990 und die weitere gemeinsame Entwicklung sehr gut erforscht und ausreichend wissenschaftlich dokumentiert. Die diesbezüglichen Erkenntnisse sind allerdings einer breiten Öffentlichkeit nach wie vor nicht bekannt. Somit wird diese Entwicklung häufig mit Vorurteilen und einseitigen Bewertungen diskutiert, die der Sache nicht gerecht werden. Die massenmediale Aufbereitung dieser Entwicklung ist völlig unzureichend.

Was braucht es für eine objektive Bewertung?

H.D.: Leider schreitet die „Boulevardisierung“ der Massenmedien immer weiter voran. Hintergrund-Berichterstattung auf der Grundlage guter Recherchen ist immer seltener geworden. Und Sport als ständiges Thema eines jeden guten Feuilletons deutscher Tageszeitungen ist kaum noch eine Realität, sondern höchstens noch eine Wunschvorstellung von Leuten wie mir, die deswegen der Naivität bezichtigt werden.

In Nordrhein-Westfalen existiert noch immer das Paradoxon einer Olympia-Bewerbungsgesellschaft mit Michael Mronz an der Spitze, obwohl die Rhein-Ruhr-Region für die Ausrichtung der Sommerspiele 2032 längst das Rennen gegen Brisbane in Australien verlor und offiziell keine neue Bewerbung von deutscher Seite existiert. Wie groß ist Ihre Hoffnung, noch einmal Olympische Spiele in Deutschland mitzuerleben?

H.D.: In Deutschland fehlt es am gemeinsamen Willen, wirklich und aufrichtig Olympische Spiele ins Land holen zu wollen. Will man sie wirklich, so bedarf dies einer vertraulichen Vorbereitung, bei der die Unterstützung des gesamten Parlaments zu sichern ist. Der Bundespräsident und der Bundeskanzler mit seiner Regierung müssen genauso hinter einer deutschen Bewerbung stehen wie sämtliche Parteien des Bundestages. Eine finanzielle Absicherung der Bewerbung ist dabei eine selbstverständliche Voraussetzung. Erst wenn es dieses Fundament gibt, verträgt eine Bewerbung des DOSB eine massenmediale Öffentlichkeit. Eine kostenintensive Volksabstimmung, die immer von den jeweils relevanten Tagesthemen abhängig und auch deshalb hinsichtlich des Ergebnisses nahezu unkalkulierbar und deshalb gefährlich ist und bei der meist eine fachliche Expertise keine Rolle spielt, würde sich dann vermutlich erübrigen. Heute meint jeder nachgeordnete Sportfunktionär, seine Ideen über zukünftige Spiele in Deutschland im Fernsehen, in den Tageszeitungen und in den sozialen Medien vortragen zu müssen, nur um seiner eigenen Eitelkeit gerecht zu werden. Selbst sehr gute Vorschläge werden auf diese Weise zerredet, ohne dass man zuvor die Möglichkeit des Machbaren geprüft hätte.
Für mich war und ist es eine kluge Idee, wenn Israel und Deutschland im historisch bedeutsamen Jahr 2036 gemeinsam Olympische Spiele austragen dürften, um die olympische Friedensidee mit neuer Kraft zu beleben. Hält man diesen Vorschlag für sinnvoll, dann sollte man sich jeder öffentlichen Diskussion so lange enthalten bis die Voraussetzungen zur Umsetzung dieser Idee erfüllt sind. Ich würde mir wünschen, dass der DSOB bereit wäre, diesen Weg zu gehen.

Die Fragen stellte Andreas Müller („Junge Welt“)