Im Frühling zeigt sich die Natur von ihrer schönsten Seite. Eine Blütenvielfalt bringt eine Farbenpracht hervor, an der wir uns alle erfreuen. In diesen Tagen möchte die Leichtathletik es der Natur gleichtun. Nach einem langen Winterschlaf und in Erwartung eines interessanten Sommers macht auch sie mit zwei Blüten auf sich aufmerksam, die widersprüchlicher nicht sein könnten. Es sind Blüten ohne Farbe, sie sind allenfalls grau oder schwarz und sie verweisen damit auf das Verblühen und den Spätherbst einer Sportart. Das Bild der traurigen Blüten steht für zwei Projekte in denen das Faszinosum Weltrekord im Zentrum der Aufmerksamkeit ist. Eine Expertenkommission der EAA schlägt vor, sämtliche Weltrekorde der Vergangenheit mit der Etikette „ehemalig“ zu versehen und mit Beginn der Kongressentscheidung beim IAAF-Kongress in London im August 2017 die Vergabe von Weltrekorden neu zu konstituieren. Man glaubt dabei, dass sämtliche Dopingverfehlungen in der Leichtathletik aufgeklärt und sanktioniert werden können und man schlägt utopische Bedingungen für die Anerkennung von Weltrekorden vor. Beides wird sich sehr schnell als illusorisch und unrealisierbar erweisen. Das Anliegen der Expertengruppe ist ohne Zweifel anerkennenswert, auch wenn deren schludrige Arbeitsweise von einer gehörigen Portion Naivität geprägt ist.
Für das zweite Projekt, das sich im krassen Gegensatz zu den Bemühungen der EAA befindet, kann eine derartige Bewertung nicht übernommen werden. Das Projekt ist maßgeschneidert, langfristig vorbereitet, voll mit Expertisen, aber ganz gewiss nicht anerkennenswert – im Gegenteil, die Partnerschaft zwischen Sport und Wirtschaft zeigt sich bei diesem Projekt von ihrer schlimmsten Seite. Der Sport wird für Interessen genutzt, die selbst unter kaufmännischen Gesichtspunkten fragwürdig sind. Von was ist die Rede? Ein Sportausrüster unternimmt einen Weltrekordversuch im Marathonlauf, um der Welt zu beweisen, dass mit seinen Schuhen die historische Distanz von 42,195km am schnellsten gelaufen wird. Er will beweisen, dass mit seiner Marke die besten Athleten der Welt ausgestattet sind. Was das Wort „Weltrekord“ bedeutet, definiert bei diesem Vorhaben nicht der Welt-Leichtathletikverband, sondern der Sportartikelhersteller und die Athleten sind bereit, ohne Sanktionen von ihren Verbänden zu befürchten, sich auf diesen Regelbruch einzulassen. Man könnte dieses Projekt mit dem Begriff „Leichtathletik clean“ oder „Leichtathletik artificial“ umschreiben, der in gewisser Weise einer „athletics natural“, einer natürlichen Leichtathletik gegenübersteht. Doch leider wissen wir heute weder was mit den Begriffen „clean“ und „artificial“, noch was mit dem Begriff „natürlich“ in der problematischen olympischen Sportart Leichtathletik gemeint ist. Im Projekt des Sportausrüsters bezieht sich „clean“ auf die Bedingungen des Wettkampfes, der kein echter Wettkampf ist. Alles muss dabei auf Optimierung ausgerichtet sein. Deshalb wird früh morgens gelaufen, Windstille – allenfalls ein erlaubter Rückenwind – wird gesucht, in Monza auf einer Formel1-Rennstrecke findet man die idealen Bedingungen. Weder Kurven, rutschige Phasen oder ablenkende Gebäude, nicht einmal Zuschauer sind dabei zugelassen. Positiv sanktioniert wird dies wie üblich durch eine bestimmte Variante von Sportwissenschaft, die dabei einmal mehr ihrer Funktion als „Hure für alles“ entspricht. Die Biomechanik hat sich auf diesem Gebiet besonders häufig ausgezeichnet und sie tut es auch beim Weltrekordversuch des Sportartikelherstellers. In dieser Wissenschaftsdisziplin scheint die Frage nach ihrem Erkenntnisinteresse ganz offensichtlich keine Rolle zu spielen. Biomechanische Tests haben dabei ihren Wert an sich. Die Ergebnisse lassen sich in Abhängigkeit ihres Auftraggebers deuten. Im Falle Pistorius und des Weitspringers Rehm hat diese Disziplin bereits zweimal eine vergleichbare unwürdige Rolle gespielt. Der Marathonlauf von Monza kann als weitere Steigerung bewertet werden.
Der Lauf von Monza ist ganz gewiss kein Schritt in eine bessere Zukunft der Sportart Leichtathletik. Er ist vielmehr ein Rückfall in vergangene Zeiten, so wie im 18. Jahrhundert der Mensch gegen das Pferd angetreten ist, wie später Wettläufe zwischen Maschine und Mensch stattgefunden haben und wie es bei Kirmesereignissen durch Mensch-und-Maschinen-Vergleiche Spektakel gegeben hat, so ist auch der Marathonlauf von Monza ein Schlag in das Gesicht des modernen Sports. Mit seinen konstitutiven Merkmalen des Fair Play, der vereinbarten Regelgebundenheit, dem Gebot der Unversehrtheit des Athleten und dem Respekt vor dem Gegner steht er in einem krassen Gegensatz zu dem Marathonprojekt „Monza“. Selbst unter Marketinggesichtspunkten ist dabei die Frage nach dem Ausgang des Projekts von Monza völlig irrelevant. Wäre die angebliche Schallmauer von zwei Stunden unterboten worden, so hätten vermutlich einige der Veranstalter geglaubt, dass ihr Projekt erfolgreich sei. Dabei ist der Zeitunterschied zwischen einer Zeit über zwei Stunden und unter zwei Stunden völlig irrelevant und er lässt sich wohl auch unter Marketinggesichtspunkten mit verlässlichen Messindikatoren nicht einordnen. Das Scheitern ermöglicht Wiederholung, der Erfolg hätte Einmaligkeit bedeutet. Was dabei den höheren Marketingwert hätte, lässt sich mit den üblichen Messinstrumenten des Marketings nicht beurteilen. Es kann deshalb auch kaum überraschen, dass andere Sportausrüster den Fehdehandschuh, den der amerikanische Konkurrent mit seinem Projekt in den Ring geworfen hat, bislang nicht aufgegriffen haben. Würde der größte europäische Konkurrent mit seinen Vertragsathleten an einem anderen Ort unter vergleichbaren absurden Bedingungen einen ähnlichen Versuch unternehmen, so ist ein vergleichbares Scheitern vorhersehbar.
Der Versuch einer Marketing-Leichtathletik scheitert zunächst und vor allem unter ethischen Gesichtspunkten, wenn dabei das Ethos des Sports die Bezugsgrundlage ist. Das Projekt scheitert aber auch aus ökonomischen Gesichtspunkten, sofern eine verantwortbare Ökonomie einer Wirtschaftsethik folgt, deren kennzeichnenden Merkmale sich von einer Ethik des Sports so gut wie nicht unterscheiden.
Verfasst: 17.05.2017