Ist der deutsche Hochleistungssport zukunftsfähig?

Will ein Trainer sich mit seinem Athleten der olympischen Konkurrenz stellen, hat sein Athlet dabei die höchsten Ziele im Blick, und ist er bereit sich über viele Jahre konsequent und systematisch auf das von ihm angestrebte olympische Finale vorzubereiten, so müssen Athleten und Trainer in ein modernes System des Hochleistungssports eingebunden sein. Dieses System muss ihnen über einen längeren Zeitraum ganzjährig wichtige Hilfen und Dienstleistungen bereitstellen.

Diese müssen fachlich höchsten Standards entsprechen und möglichst jenes Niveau aufweisen, das bei ihrer internationalen Konkurrenz angetroffen werden kann. Dies gilt für Schwimmerinnen gleichermaßen wie Kanuten, für Handballspieler ebenso wie für Tennisspieler und für Höchstleistungen im Wintersport gelten dabei die gleichen Maßstäbe wie für die olympischen Sommersportarten.

Betrachten wir auf der Grundlage dieser Prämisse die aktuelle Situation des deutschen Hochleistungssports, so müssen in den Gesichtern jener, die für diesen Hochleistungssport in Deutschland Verantwortung übernommen haben, große Sorgenfalten zu erkennen sein. In der großen Mehrheit der olympischen Sportarten ist die Nutzung der Trainingsmöglichkeiten durch die Athleten und Athletinnen und deren Trainer und Trainerinnen nicht optimal. Rahmentrainingspläne, wenn sie existieren, haben nur selten einen verbindlichen Charakter. Individuelle Trainingspläne stehen viel zu oft nur auf dem Papier, eine Evaluation des Trainings durch Dritte findet ganz selten statt. Eine kooperative Wettkampfplanung ist eher die Ausnahme. Nicht selten legen Manager fest, wann Athleten an den Start gehen und nicht jene, die für die langfristige Vorbereitung auf die Olympischen Spiele verantwortlich zeichnen. Das Gesundheitsmanagement der Athleten ist  mangelhaft, durch Überbelastung werden Verletzungen noch viel zu oft geradezu provoziert. Kurzfristige kommerzielle Interessen verhindern eine verantwortungsvolle Karriereplanung, notwendige Regenerierungsmaßnahmen werden zur Mangelware. Selbst Rehabilitationszeiten werden mit dem Blick auf die Gewinnmaximierung abgekürzt. Talente kommen dadurch gar nicht erst zur Entfaltung und mögliche Berufskarrieren von Hochleistungssportlern werden immer häufiger auf riskante Weise gefährdet. Medizinische Diagnosen legen viel zu oft offen, dass in einigen Sportarten falsch und verantwortungslos trainiert wird. Die Tendenz zur Selbstmedikation der Athleten verweist auf die ständige Gefahr, dass Leistungsgrenzen mittels medikamentöser Manipulation in unerlaubter Weise überschritten werden.

Wissenschaftlich fundierte Hilfen werden dem Hochleistungssport in Deutschland nur selten bereitgestellt. Wohl gibt es mehr als sechzig Universitäten und Hochschulen in Deutschland, doch es sind nur ganz wenige Wissenschaftler dieser Universitäten, die sich in ihrer Forschung den Fragen des Hochleistungssports stellen. Ihre Forschung zeichnet sich nur selten durch höchste Qualität aus und die Vermittlung der Forschungsergebnisse gelingt nur im Ausnahmefall. Ein Wissensmanagement, wie man es für den deutschen Hochleistungssport dringend benötigen würde, existiert allenfalls in Anfängen. Moderne Medien der Wissensvermittlung werden so gut wie nicht genutzt, ein Austausch auf internationaler Ebene ist eher selten. Die Forschungsagenda zu Fragen und Problemen des Hochleistungssports hat nahezu den Charakter der Beliebigkeit, viele Trainer beklagen zu Recht, dass sie in ihren Problemen, die sie sehen, nicht ernst genommen werden und dass die angeblichen Hilfen der Wissenschaft für sie viel zu oft wenig brauchbar oder gar unverständlich sind.

Die Kapazität an zentralen wissenschaftlichen Dienstleistungen, wie sie vom IAT oder FES bereitgestellt wird, ist unzureichend und kommt deshalb nur wenigen olympischen Athletinnen und Athleten zu Gute. Oft werden diese Dienstleistungen in einigen olympischen Verbänden mit Argumenten abgelehnt, die etwas wohlwollend betrachtet allenfalls noch als „ideologisch“ zu bezeichnen sind. Allerdings leidet die anwendungsorientierte Forschung dieser Institute teilweise unter einer mangelnden Anbindung an die Grundlagenforschung der Universitäten, so dass auch für diese Dienstleistungen die Gefahr besteht, dass allgemeine wissenschaftliche Erkenntnisse aus den sog. Mutterwissenschaften in den für die Entwicklung des Hochleistungssports relevanten wissenschaftlichen Disziplinen nur unzureichend zur Kenntnis genommen werden. Das Bundesinstitut für Sportwissenschaft als wissenschaftliche Steuerungsinstanz zu Gunsten des Hochleistungssports hat aus der Sicht vieler olympischen Verbände deren Erwartungen bis heute nicht erfüllen können. Dieses Institut befindet sich schon seit längerer Zeit in der Gefahr, in bürokratischen Strukturen zu erstarren, hat viel zu sehr den Charakter einer Behörde und wird personell mit wenigen Ausnahmen den Anforderungen eines modernen Forschungsinstituts zu Gunsten des Hochleistungssports nicht gerecht. Von einem Max-Planck-Institut zur Erforschung des Hochleistungssports ist man derzeit in der Bundesrepublik noch immer weit entfernt.

Den Charakter einer groß angelegten Bürokratie haben auch jene regionalen und lokalen Institutionen, die unter Organisations- und Steuerungsgesichtspunkten für den Hochleistungssport verantwortlich zeichnen. Aufgrund der föderalen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland bilden olympische Athleten mit ihren Trainern das Zentrum einer Verwaltungsbürokratie, die sehr unübersichtlich geworden ist. Eine Behörde in einem Bundesministerium steuert eine „Behörde“ in der Dachorganisation des Sports und diese wiederum steuert „Behörden“ in den olympischen Fachverbänden und Landesbehörden, die schließlich wiederum bemüht sind, regionale und kommunale „Behörden“ zu steuern. Das was an vertraglichen Strukturen in diesem Zusammenhang entstanden ist, ist meist unübersichtlich, nur ganz selten an Leistungsmaximen ausgerichtet und von einer kontrollierten Erfolgsorientierung kann dabei gewiss nicht gesprochen werden. Das hauptamtliche Personal in den Organisationen des Leistungssports ist nur selten ausreichend qualifiziert, die Arbeitsverhältnisse in den Organisationen des Hochleistungssports entsprechen jenen des öffentlichen Dienstes. Manche Besoldung ist dabei jedoch unvergleichbar hoch, dies gilt vor allem dann, wenn bei unzureichender Leistung so gut wie keine Risiken für den Arbeitnehmer bestehen.

Ganz anders sieht die Situation bei den Trainern aus. Bei ihrer Beschäftigung wird nahezu überall gegen bestehendes Arbeitsrecht verstoßen. Trainer haben unvergleichbare hohe Risiken bei ihrer Berufsausübung in Kauf zu nehmen und ihre Besoldung ist mit wenigen Ausnahmen völlig unzureichend.

Besonders problematisch ist bei dieser Struktur des deutschen Hochleistungssports, dass niemand direkt Verantwortung für Erfolg und Misserfolg im deutschen Hochleistungssport übernimmt. Der erfolgreiche Olympiasieger hat auf diese Weise viele Väter, scheitert der Athlet bei Olympischen Spielen, so tragen Trainer und Athlet die Verantwortung.

Die Liste der Mängel, die derzeit im System des deutschen Hochleistungssports zu beobachten sind, könnte fortgeführt werden. Die offengelegten Mängel, werden sie in ihrer Diagnosequalität akzeptiert, verweisen auf Aufgaben und Anforderungen, die im deutschen Hochleistungssport dringend erledigt und erfüllt werden müssen, will man auch zukünftig international konkurrenzfähig sein. Betrachtet man den für den deutschen Hochleistungssport einzig sinnvollen Gütemaßstab, die Finalplatzierungen bei Olympischen Spielen, so muss man erkennen, dass seit den Spielen von Barcelona im Jahr 1992 in der großen Mehrheit der olympischen Sportarten ein Abwärtstrend zu erkennen ist. Der kann nur dann gestoppt werden, wenn entscheidende Veränderungen im System des deutschen Hochleistungssports eingeleitet werden. Ein bloßes „Weiter so!“ wäre fatal.

Die Einführung und der Aufbau von „POTAS“ war zwingend notwendig. Doch kann dieses Instrument nur als ein erster Schritt in die richtige Richtung bezeichnet werden. Die Einführung neuer spezifischer Steuerungs- und Organisationsstrukturen in den einzelnen olympischen Sportarten ist ebenso erforderlich wie die Erneuerung und Verjüngung des in diesen Sportarten tätigen Leistungssportpersonals. Die Finanzierung eines anspruchsvollen Wissensmanagements für jeden olympischen Fachverband muss dabei höchste Priorität haben. Ganzjährige Steuerung und Begleitung des Trainings der Trainer mit ihren Athleten muss eine Selbstverständlichkeit werden. Eine Wettkampfplanung muss auf die anspruchsvollen Ziele bei den Olympischen Spielen ausgerichtet sein. Die Verantwortung für den Spitzensport muss personell eindeutig definiert werden, zu viele Köche verderben den Brei. Überflüssige bürokratische Strukturen müssen abgebaut werden. Schließlich sollte man auch bereit sein, von seinen Gegnern zu lernen. China, Russland, USA, Australien, Frankreich, England, Japan und Korea verweisen uns auf einen gemeinsamen Sachverhalt. Erfolgreiche Hochleistungssportnationen verfügen über eine starke nationale Einheit, die für den Hochleistungssport verantwortlich zeichnet. Sie ist verantwortlich für die erfolgreichen Leistungen ihrer Olympiateilnehmer, sie haftet aber auch für die Fehler und Mängel und übernimmt auch für den Misserfolg Verantwortung. Eine derartige Einrichtung wird in Deutschland dringend benötigt. Für sie kann der DOSB verantwortlich zeichnen. Es könnte sich aber auch um eine neue unabhängige Einrichtung handeln. Sie muss keineswegs in ihrer räumlichen Ausstattung an einen Ort gebunden sein. Dezentrale Dienstleistungsstrukturen sind dabei denkbar und erwünscht. Entscheidend ist lediglich, dass diese Institution über Macht verfügt, die wiederum einer Kontrolle unterliegt, und dass in dieser Einrichtung Experten handeln, die zur Übernahme von Verantwortung bereit sind. Eine Reform der Steuerungsstrukturen des deutschen Hochleistungssports ist unverzichtbar. Besonders gefordert sind dabei die olympischen Fachverbände. Eine Schlüsselfunktion für diese Reform wird jedoch der DOSB haben.

Die Hauptamtlichen des Leistungssports müssen sich einer völlig neuen Verantwortung, neuen Aufgaben und neuen Herausforderungen stellen, soll diese Reform in Angriff genommen werden.

Letzte Überarbeitung: 17.04.2021