Inklusion und fairer Wettbewerb

Die Themen Inklusion und Fair Play im Sport nehmen im ethischen Diskurs moderner Gesellschaften zu Recht einen besonderen Platz ein. Für das Fair Play-Gebot gilt dies vor allem deshalb, weil massenhafte Betrugsversuche mittels medikamentöser Manipulation die ethische Grundlage des Sports zunehmend in Frage gestellt haben. Die Herstellung einer inklusiven Gesellschaft ist für jede moderne Gesellschaft eine besondere Herausforderung, und sie geht weit über den Schul- und Bildungsbereich hinaus. Heute sind vor allem die Inklusionsfelder der sexuellen Identität und der Behinderung gefragt. Die Inklusion Behinderter wurde zu einem politischen Megathema, ohne dass sich die Politik dabei bewusst ist, dass es auch einen positiven Begriff von Ungleichheit gibt. Viele Inklusionsbemühungen erweisen sich deshalb sehr schnell als wenig hilfreich und in Bezug auf das zu fördernde Leistungsvermögen der Individuen stellt sich immer wieder heraus, dass nicht jeder das kann, was andere können. Christian Geyer hat deshalb zu Recht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung darauf hingewiesen, dass nicht jeder Unterschied als Ungleichheit zu deuten, und nicht jede Ungleichheit eine Ungerechtigkeit ist.

Der deutsche Weitspringer Markus Rehm hat sich einmal mehr als Meister seines Faches erwiesen. Mit Hilfe einer Prothese ist es ihm bei den Deutschen Meisterschaften 2014 gelungen, eine Weite von 8,24 Meter zu erreichen. Dies ist wahrhaft eine besondere Leistung, die im Sport ganz selten anzutreffen ist. Das Besondere seiner Leistung liegt darin, dass er diese Bestmarke in einem Wettkampf für Nichtbehinderte erreichen konnte und dabei den besten Nichtbehinderten (8,20 Meter) auf den zweiten Platz verwies. Markus Rehm hatte erreicht, dass er für die Deutschen Meisterschaften des DLV zugelassen wurde, obgleich auf der Grundlage der bestehenden Regeln eine solche Zulassung nicht möglich gewesen wäre. Der DLV gab vor, dem Gebot der Inklusion zu folgen, das ihm politisch gestellt sei. Allerdings wurde sehr schnell klar, dass auch Marketinggedanken eine Rolle gespielt haben und das Spektakel gesucht und gefunden wurde. Wenige Tage nach dem spektakulären Erfolg des behinderten Athleten begründete der DLV die Nichtnominierung von Markus Rehm für die bevorstehende Leichtathletik-Europameisterschaft, für die er sich aufgrund seiner Weite qualifiziert hatte, mit biomechanischen Erkenntnissen, die den Schluss nahelegten, dass es bei dem Wettkampf des Behinderten gegen Nichtbehinderte einen unerlaubten Wettbewerbsvorteil gegeben habe.

Die dadurch ausgelöste Diskussion um Inklusion und Fair Play im Sport, die mehrere Tage mit aller Schärfe geführt wurde, konnte angesichts dieser Kehrtwende nicht überraschen. Die Argumente, die dabei ausgetauscht wurden, waren überwiegend polemisch. Die Diskutanten übertrafen sich teilweise gegenseitig in ihrer Oberflächlichkeit, und der Erkenntnisgewinn dieser Debatte war bescheiden. Das zu lösende Problem wurde meist nicht erkannt.

In der Geschichte der modernen Olympischen Spiele ist die Teilnahme behinderter Athleten bei den Wettkämpfen der Nichtbehinderten nahezu Normalität. Jede Behinderung bedarf dabei allerdings einer spezifischen Betrachtung. Wettbewerbsvorteile zugunsten der Nichtbehinderten sind dabei nicht selten, doch das Fair Play-Ideal wird dabei nicht in Frage gestellt. Anders verhält es sich bei Behinderten, die ihre sportliche Leistung unter anderem mit Hilfe einer Prothese erreichen.

Einmal mehr wurde in der Diskussion des Falles Rehm sichtbar, dass viele Verantwortliche im Sport die Idee des Fair Play ganz offensichtlich nicht verstehen, die Bedeutung ihrer schriftlich niedergelegten Regeln nicht kennen und vor allem nicht über das Engagement und den Mut verfügen, sich für die Geltung der selbst gesetzten Regeln einzusetzen. Vielmehr ist immer häufiger Opportunismus zu beobachten, der nicht selten mit einer naiven Wissenschaftsgläubigkeit einhergeht, wobei meist auch die beteiligten Wissenschaftler keine rühmliche Rolle spielen. Nicht zum ersten Mal geben dabei die Sportfunktionäre ihre Hoheit an die Biomechanik und damit an eine wissenschaftliche Disziplin ab, in der Annahme, dass diese Wissenschaft mit ihren Theorien und Methoden ein Problem lösen könnte, das gar kein wissenschaftliches Problem darstellt. Gewiss kann mit den Messapparaturen der Biomechanik ein Vergleich der behinderten und der nichtbehinderten sportmotorischen Leistung durchgeführt werden. Verschiedene Parameter können miteinander verglichen und in ihrer Gleichheit bzw. Ungleichheit dargestellt werden. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass fast alles, was dabei öffentlich diskutiert wurde, für den Laien mit bloßem Auge erkennbar ist. Ein 400m-Lauf eines Prothesenläufers weist eine völlig andere Konfiguration auf als ein 400m-Lauf eines nichtbehinderten Läufers. Start, erste Laufphase, Laufverhalten, Schrittlänge und nicht zuletzt die Beschleunigungsverhältnisse unterscheiden sich grundlegend. Startet ein prothesenbehinderter 400m-Läufer in einem 400m-Rennen der Nichtbehinderten, so finden im Grunde genommen zwei Wettkämpfe in einem statt, die nichts miteinander zu tun haben. Zu einem bestimmten Zeitpunkt kann es dabei durchaus möglich sein, dass gleiche Zeiten von Behinderten und Nichtbehinderten gelaufen werden können und das zu diesem bestimmten Zeitpunkt auch eine faire Wettkampfsituation bestanden hat. Dieser Befund hat allerdings nur seine Gültigkeit für diesen bestimmten Zeitpunkt. Schon beim nächsten Rennen können sich die Verhältnisse völlig anders darstellen. Nicht zuletzt können die Materialeigenschaften der Prothese in ihrer Qualität verbessert werden, sodass sich ein Vergleich von Behinderten und Nichtbehinderten sehr schnell als absurd erweisen kann. Solch eine Situation besteht heute bereits beim Marathonlauf. Niemand käme heute noch auf die Idee, behinderte und nichtbehinderte Marathonläufer in einem Rennen in die gleiche Wertung einzubeziehen, zumal ganz offensichtlich ist, dass mit den modernen Rollstühlen Behinderte sehr viel schneller die Marathondistanz überwinden können, als dies für Nichtbehinderte möglich ist. Was für den 400m-Lauf eines Prothesenläufers gegen Nichtbehinderte gilt, trifft in gleicher Weise für einen Prothesenweitspringer im Wettbewerb mit nichtbehinderten Weitspringern zu.

Angesichts dieser seit langem bestehenden Erkenntnisse muss es geradezu als verantwortungslos bezeichnet werden, wenn dem behinderten Athleten Rehm die Zulassung für die Deutsche Meisterschaft gegeben und ihm unmittelbar nach seiner Qualifikation die Zulassung für die Europameisterschaft verweigert wird. Allenfalls ein Wettkampf außer Konkurrenz wäre eine Möglichkeit gewesen. Wobei auch hier große Vorsicht angebracht ist, denn wann immer ein behinderter Athlet für einen Wettkampf zugelassen wird, wird gleichzeitig einem Nichtbehinderten ein Startplatz verweigert. Es sei auch darauf hingewiesen, dass es in der Vergangenheit fast immer kommerzielle und opportunistische Interessen waren, die den leichtathletischen Wettbewerbsspektakeln zwischen Prothesenathleten und nichtbehinderten Athleten zugrunde lagen.

Eine Aufnahme der Leistung in die Rekordlisten des DLV muss sich nicht zuletzt auch deshalb nahezu von selbst verbieten. Das Anliegen des behinderten Athleten ist dennoch naheliegend und verständlich. Dass ein Behinderter sich mit Nichtbehinderten messen möchte, dass er die für ihn höchsten sportlichen Ziele erreichen möchte, ist folgerichtig. Nicht weniger folgerichtig ist es jedoch, dass Funktionäre begreifen, dass Regeln von Menschen gemacht und von Menschen durchgesetzt werden. Regeln können auch verändert werden, wenn sich eine Mehrheit bei einer Regeltagung der jeweiligen Sportart dafür ausspricht. Im Falle des Weitspringers Rehm wäre dies jedoch fatal. Aus gutem Grund sind technische Hilfsmittel bei den Sprüngen in der Leichtathletik nicht erlaubt. Wird diese Regel mutwillig über Bord geworfen, verabschiedet man sich vom Prinzip des Fair Play. Der Inklusion würde auf diese Weise ein Bärendienst erwiesen. Man kann im Interesse der Behinderten nur davor warnen, Unterschiede zwischen Behinderten und Nichtbehinderten so weit zu nivellieren, dass sie am Ende nicht mehr geltend gemacht werden dürfen. Inklusionspolitik ist dann fragwürdig, wenn in ihrem Zentrum die Verabsolutierung des Prinzips der sozialen Partizipation steht. Geyer bringt dieses Problem treffend auf einen Nenner: „Inklusion ist ein relationaler Begriff, den man nicht den ideologischen Verfechtern einer Totalinklusion überlassen darf. Der Einzelne steht immer in einem mehrfachen Spannungsverhältnis zwischen Inklusion und Exklusion. Das hat damit zu tun, dass er stets in ein bestimmtes Teilsystem einbezogen und zugleich aus anderen Teilsystemen ausgeschlossen ist.“¹

letzte Überarbeitung: 29.11.2017