Die „Geopolitik“ des Weltsports verändert sich

2008 fanden die Olympischen Spiele zum ersten Mal in China statt. Zum Zeitpunkt der Vergabe der Spiele war China noch ein Entwicklungsland, dem Deutschland Entwicklungshilfe gewährte, aber auch heute noch im Rahmen von gemeinsamen Projekten gewährt. Mittlerweile ist es die zweit-mächtigste Industrienation und vieles spricht dafür, dass die politische Bedeutung Chinas in den nächsten Jahren noch wachsen wird. Im Jahr 2010 fanden erstmals Fußballweltmeisterschaften auf dem afrikanischen Kontinent statt. Südafrika war Gastgeber und das ganze Land war mit Stolz er-füllt, dass man das medial wichtigste Sportereignis der Welt auf dem afrikanischen Kontinent aus-richten durfte. 2016 fanden zum ersten Mal die Olympischen Spiele auf dem südamerikanischen Kontinent statt. Rio de Janeiro erwies sich dabei als ein sportbegeisterter olympischer Gastgeber¹. Die Leichtathletik-Hallenweltmeisterschaften der IAAF fanden 2010 zum ersten Mal in einem ara-bisch sprechenden Land, in Katar, statt. Zuvor war Doha, die Hauptstadt von Katar, bereits Gastge-ber des ersten Grand Prix Meetings der Leichtathletik auf arabischem Boden und im Jahr 2019 fand dort auch die erste World Athletics Weltmeisterschaft des Vorderen Orients statt. 2011 war Korea Gastgeber der Leichtathletik-Freiluftweltmeisterschaft, nachdem sie zuvor bereits Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft 2002 und der Olympischen Spiele 1988 gewesen sind. Die IHF U-21 Hand-ballweltmeisterschaft hat 2017 in Algerien stattgefunden. 2020 war Ägypten der erste afrikanische Gastgeber einer Hallenhandball-WM der Männer. 2022 wird die Fußball-WM in Katar stattfinden. Das Emirat wird damit der erste arabische Gastgeber einer Fußball WM sein. Die nächsten Olympischen Jugendspiele werden im Senegal im Jahr 2026 ausgetragen. Damit wird Dakar, die Hauptstadt des Senegals, der erste afrikanische Gastgeber für Olympischen Spiele der Neuzeit. Japan ist schon seit längerer Zeit Gastgeber wichtiger internationaler Sportveranstaltungen. Die schwierigen Sommer-spiele Tokio 2020 waren für Japan ein weiterer Höhepunkt Ihrer eigenen olympischen Geschichte. Waren Winterspiele in der Vergangenheit meist nur in Europa und den USA zu Hause, so wurden mit den Spielen von Pyeongchang, Sotschi und Peking völlig neue Wintersportregionen erschlossen und die globale Bedeutung des Wintersports erheblich vergrößert. Australien wird einmal mehr in den Blick des olympischen Interesses geraten, wenn es die Olympischen Spiele in Brisbane im Jahr 2032 ausrichten wird.
Doch nicht nur die Landkarte der Gastgeber für internationale Sportgroßveranstaltungen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten entscheidend verändert. Auch die Leistungsentwicklung in den Konti-nenten außerhalb Europas zeichnet sich in den vergangenen Jahren durch eine geradezu exponenti-elle Leistungssteigerung aus. Allein ein Blick auf den Medaillenspiegel bei den Olympischen Spielen macht dies deutlich. Waren es 1972 nur 48 Nationen, die mindestens eine Medaille erreichen konn-ten, so ist dieser Anteil an den erreichten Medaillen bei den Spielen in Tokio 2020 auf 93 angestie-gen. In der Leichtathletik kann eine vergleichbare Entwicklung aufgezeigt werden. Bei den ersten Leichtathletik-Weltmeisterschaften 1983 in Helsinki konnten 39 Nationen mindestens einen Final-platz (Platz 1-8) erreichen. Bei der jüngsten Weltmeisterschaft in Doha 2009 waren es 66 Nationen, die sich mit diesem Erfolg auszeichnen konnten.
All diese Sportveranstaltungen und Veränderungen in den sportlichen Leistungen sind Beispiele für einen wichtigen Sachverhalt: der Weltsport befindet sich in einem fundamentalen Wandel. Europa war einstmals das Zentrum des internationalen Sports. Die großen europäischen Nationen und die USA spielten eine wichtige, England sogar die entscheidende Rolle. War es wie selbstverständlich, dass nahezu sämtliche Spitzenverbände von Engländern angeführt wurden, so sind heute im Welt-sport ganz neue Führungszirkel im Amt und in Sicht. Die Führung des Weltsports hat sich in den ver-gangenen Jahrzehnten entscheidend verändert. Im Vergleich zum 20. Jahrhundert findet seit eini-gen Jahren ganz offensichtlich ein Paradigmenwechsel statt. So konnte 2012 ein kleines Land wie Belgien den IOC-Präsidenten stellen. Im IOC gibt es heute 103 stimmberechtigte Mitglieder. Davon sind lediglich 35 aus Europa. Hingegen weisen die Kontinente Asien und Afrika bereits 27 bzw. 14 stimmberechtigte Mitglieder auf. Die englische Hoheit über den Weltfußball, zuletzt noch angeführt von Sir Stanley Rous, wurde zunächst durch einen Brasilianer abgelöst und auf Havellange folgte ein windiger FIFA Generalsekretär, der eines der kleinsten europäischen Länder der Welt seine Heimat nennt. Sein Nachfolger kommt aus demselben Land und unterstreicht damit mit Nachdruck, welch bedeutsame Rolle die Schweiz im internationalen Sport spielt. Die Leichtathletik, die von einem Schweden, einem Iren und einem Holländer über neun Jahrzehnte angeführt wurde, leitete ihren internationalen Paradigmenwechsel durch den italienischen Präsidenten Nebiolo ein. Ihm folgte nach dessen Tod der erste Afrikaner, ein Senegalese. Heute wird dieser Verband von einem Englän-der angeführt, der diese Position allerdings nur einigen Fehlern zu verdanken hat, die sein Widersa-cher aus der Ukraine unmittelbar vor der Präsidentenwahl gemacht hat.
Betrachten wir die Parlamente des internationalen Sports und deren Zusammensetzung, so kann eine vergleichbare Entwicklung beobachtet werden. Mit dem Wahlprinzip „one vote one country“ bzw.“one state one vote“, konnte es sehr schnell gelingen, die Entscheidungsgremien des Welt-sports einer weitreichenden Enteuropäisierung zu unterwerfen. Asien, Afrika, Ozeanien und Süd-amerika sind bemüht, vermehrt Einfluss auf die politischen Entscheidungen des Sports zu nehmen. Über die neue Sitzverteilung in den Gremien des internationalen Sports kann gezeigt werden, dass diese Bemühungen äußerst erfolgreich gewesen sind.
Aus einer globalen Perspektive kann die neue „Weltordnung des Sports“ durchaus als ein Erfolg be-zeichnet werden, der nicht zuletzt auch auf die erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit zwischen der ersten und der dritten Welt auf dem Gebiet des Sports zurückzuführen ist. Aus der Sicht der nicht europäischen Mitgliedsländer war und ist die neue Balance der Macht längst erwünscht und kann nun endlich als nahezu erreicht bezeichnet werden. Ein wichtiger Sachverhalt wird jedoch übersehen. Die neue „Geographie“ des Sports geht nur sehr begrenzt einher mit einem nicht weni-ger wünschenswerten ökonomischen Wandel. Das dem Weltsport zur Verfügung stehende finanzielle Kapital resultiert nach wie vor aus der Vermarktung von Sponsoren und dem Verkauf von Fernsehr-echten. Mit Ausnahme des ständig wachsenden Einflusses von China sind es dabei die alten Indust-rienationen, USA, Japan und die Länder der Europäischen Union, die die internationalen Sportveran-staltungen unter finanziellen Gesichtspunkten möglich machen. Nur wenige Schwellenländer spielen eine ökonomisch beachtenswerte Rolle bei der Weiterentwicklung des internationalen Hochleis-tungssports. Korea ist dabei ebenso zu beachten wie Russland oder Brasilien. Die große Mehrheit der Mitgliedsnationen in den internationalen Sportverbänden spielt hingegen nach wie vor eher die Rolle eines Claqueurs. Offene Schadenfreude wird gezeigt, wenn den Repräsentanten der ehemals mäch-tigen Sportnationen Europas oder gar den USA mit der nicht Berücksichtigung eines Kandidaten oder einer Bewerberstadt eine Niederlage zugefügt werden kann. Auf Seiten der Claqueure kann aller-dings außer ein paar unbedeutenden Belohnungen, die sie für ihre erwünschte bzw. erkaufte Stimmabgabe erhalten, keine nachhaltig positive Entwicklung beobachtet werden. Von der verän-derten „Geographie“ des Sports profitieren, das zeichnet sich schon seit längerer Zeit ab, vor allem die neuen „Emporkömmlinge“ in den Führungsgremien des Weltsports. Ihre Namen konnten Acosta, Kim oder Samsung sein, Blatter oder Verbrueggen, Prinzessin Haya oder Hassan Moustafa heißen. Betrachtet man deren Handeln etwas genauer, so hat die neue Entwicklung nur sehr wenig mit einer Demokratisierung des Sports zu tun. Sie erzählt vielmehr eine Geschichte von Geld und Macht, wie sie schon lange in der Welt des Sports eine sehr geeignete Bühne gefunden hat.
Trotz aller Bemühungen um „Good Governance“, trotz aller neuen Compliance-Regularien, trotz der Einrichtung von Ethikkommissionen in den internationalen Sportorganisationen zeichnet sich die aktuelle Entwicklung des Weltsports nur ganz selten durch dringend erforderliche Demokratisie-rungsprozesse aus, die nicht zuletzt aus der Sicht der Athleten und Athletinnen erwünscht wären. Betrachtet man die Zusammensetzung der Parlamente des Weltsports und deren Regierungen, be-trachtet man also den Verlauf der Weltkongresse der jeweiligen internationalen olympischen Ver-bände, die dabei zu beobachtenden Wahlverfahren, das Abstimmungsverhalten und nimmt man die gewählten Präsidien mit ihren Präsidenten und Vizepräsidenten etwas genauer in den Blick, so muss man erkennen, dass in den vergangenen Jahrzehnten so gut wie keine Veränderungen stattgefunden haben. Das Niveau der bei den Kongressen anzutreffenden parlamentarischen Debatten kann von Außenstehenden oft nur mit Schrecken beobachtet werden, der rituelle Ablauf der Parlamentssit-zungen scheint jede sinnvolle Veränderung zu verhindern, Kandidaten werden nominiert, ohne dass man ihre fachliche Kompetenz überprüft hat, und in die Führungsgremien des internationalen Sports werden Personen hineingewählt, denen es an einer fachlichen Eignung für diese Positionen in jeder Hinsicht mangelt. Die Gefahr von irrationalen Entscheidungen ist angesichts dieser Situation immer gegeben und die Folgen solcher Entscheidungen können für die internationalen Sportverbände sehr weitreichend sein. Weltmeisterschaften und andere internationale Sportveranstaltungen können dadurch an Bewerber vergeben werden, die nachweislich im Vergleich zu den Mitbewerbern gerin-gere Kompetenz oder gar keine Kompetenz aufweisen. Eine mittel – und langfristige ökonomische Planung ist angesichts der kaum planbaren Vergabeentscheidungen über die wichtigsten internatio-nalen Sportereignisse für viele olympische Sportarten nicht möglich.
Wollen europäische Sportnationen in dieser schwierigen Entwicklungsphase des Weltsports auch zukünftig noch eine wichtige Rolle spielen, so haben sie zunächst vor allem sich mit dieser neuen Situation des Weltsports kritisch auseinander zu setzen und sie haben ihre eigene Rolle zu prüfen, die sie in den internationalen Sportorganisationen derzeit ausüben. Manches muss dabei gelernt werden.
Zunächst und vor allem müssen die Repräsentanten des europäischen Sports begreifen, dass ein Weltsport, der den Begriff der „Welt“ tatsächlich in seinem Namen führt, auch überall in der Welt stattfinden darf und kann. Eine Fußball-Weltmeisterschaft darf und sollte in jeder Region dieser Welt und auf jedem Kontinent dieser Welt stattfinden. Wer eine Fußball-Weltmeisterschaft in Katar aus klimatischen Gründen infrage stellt, der hat ganz offensichtlich noch nicht begriffen, dass der Weltsport sich nicht nur am europäischen Klima orientieren darf. Darüber hinaus hat der Klimawan-del, wie wir ihn auch bei uns in Deutschland beobachten, durchaus auch in ganz Europa zu klimati-schen Verhältnissen geführt, die vom Weltsport ebenso infrage gestellt werden können. Es muss auch begriffen werden, dass auf der einen Hälfte der Erdkugel möglicherweise Sommer ist, wenn auf der anderen Hälfte der Winter eingezogen ist. Warum erwarten europäische Leichtathletikver-bände und deren Athletinnen und Athleten, daß bei ihren Hallen-Meetings in den Wintermonaten auch Athleten aus China, Australien, Afrika, Neuseeland oder aus Japan an den Start gehen, ob-gleich in deren Heimatländern Sommerleichtathletik betrieben wird. Hingegen reisen fast keine europäischen Athleten zu jenen Meetings, die in den Sommermonaten dieser Nationen stattfinden. Ähnliche Verhältnisse lassen sich auch in den meisten Wintersportarten beobachten. Dabei ist es besonders ärgerlich, wenn anderen Nationen die Möglichkeit zur Entdeckung des Wintersports abge-sprochen wird, wie dies bei der Vergabe der Winterspiele an Sotschi und an Peking zu beobachten war.
Nicht weniger wichtig ist es, dass die Europäer lernen, dass die Funktionäre von anderen Kontinen-te ebenfalls eine eigenständige Identität aufweisen wie dies für die Europäer der Fall ist und dass diese Identität von den Europäern zu respektieren ist. Die ehemalige „koloniale Dominanz“ und Arroganz europäischer Sportrepräsentanten sollte zu Recht nur noch der Geschichte angehören. Junge Nationen möchten auf der Landkarte des Weltsports eine Rolle spielen und ihr Anspruch auf Einflussnahme ist nicht weniger gerechtfertigt wie jener der europäischen Nationen. Es kann zu Recht gefragt werden, warum die bloße Herkunft eines deutschen Funktionärs bedeutsamer sein soll als die Herkunft seines Konkurrenten aus einem afrikanischen Land. Allein die Annahme, dass man als Kandidat einer „großen Sportnation“ bei Wahlen in internationale Gremien des Sports einen Startvorteil haben sollte, ist schon längst irreführend. Auch die Behauptung, dass die großen Sport-nationen mit Sitz und Stimme in den Entscheidungsgremien des Weltsports zwingend vertreten sein müssten, ist längst hinfällig geworden. Wer annimmt, dass er aufgrund von großen Verdiensten, die sein eigener Sport in den vergangenen Jahrzehnten erworben hat, einen Bonus für eine anstehende Wahl mit sich bringt, der hat die Zeichen der Zeit ganz offensichtlich noch nicht verstanden.
Ein weiterer Aspekt des Lernens müsste für Europäer eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. In den Parlamenten des Sports gibt es für jedes Mitglied ein Antragsrecht. Dies wird jedoch in den meisten Mitgliederversammlungen des internationalen Sports nur von ganz wenigen Mitgliedern ge-nutzt. Die Europäer müssen sich also die Frage gefallen lassen, welche Anträge sie in der Vergan-genheit gestellt haben, mit welchen Koalitionen sie sich dabei bemüht haben, und wie sie die Vor-bereitung der Anträge über eine interne Kommunikation der europäischen Partner auf ein Niveau gebracht haben, dass ihre Anträge konkurrenzfähig gewesen sind.
Wer den Anforderungen von „Good Governance“ und „Compliance“ entsprechen möchte, der muss durch fachliche Kompetenz überzeugen und sich auf dieser Grundlage um Mehrheiten bemühen. Nur auf diese Weise kann die Zusammensetzung der Gremien im internationalen Sport zukünftig beeinflusst werden. Nur über diesen Weg kann die Vergabe von internationalen Sportereignissen im Inte-resse europäischer Bewerber positiver gesteuert werden als dies in den vergangenen Jahrzehnten der Fall war.

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letzte Bearbeitung: 8.Oktober 2021