Der Sport, die Mächtigen und Corona

Es ist schon sehr lange her, dass verträumte Studenten und eine kleine Minderheit von Sportwissenschaftlern die emanzipatorische Kraft des Sports beschworen haben. Aus einer Melange von Historischem Materialismus, Kritischer Theorie, Befreiungstheorien, die sich auf die Dritte Welt bezogen haben, Summerhill und Woodstock wurde die Utopie eines emanzipierten Sports konstruiert, indem es für den Spätkapitalismus keinen Platz gibt.

Die Entwicklungen zum Ende des vergangenen Jahrhunderts und die heute beobachtbaren Entwicklungen in einem neuen Jahrhundert belehren uns eines Besseren Der Kapitalismus ist dominanter denn je, Alternativen sind nicht in Sicht. Dennoch ist es wichtig, dass man sich an die kritischen Analysen im Sport aus den 50er, 60er- und 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts erinnert. Dabei war vom affirmativen Charakter des Sports die Rede und es wurde die These diskutiert, dass der Sport als Spiegelbild der Arbeit allenfalls zur Verschleierung von Verhältnissen taugt, ansonsten ist er aber immer auf der Seite der Mächtigen, biedert sich an und koaliert mit jenen, die das Sagen haben.

Mittlerweile ist der Hochleistungssport immer mehr zu einem bedeutsamen Teil der Unterhaltungsindustrie geworden. Sport ist selbst Teil der Wirtschaft, hat Unternehmen und Unternehmer aufzuweisen und ist somit auch eine tragende Säule der kapitalistischen Ökonomie. Von einer emanzipatorischen Kraft will niemand mehr reden. Leistungs-und Profisport dienen vorrangig den Broterwerb. Hochleistungssportler sind bemüht, ihre Gewinne zu maximieren, und alle, die sich ihrer Leistung bedienen, verfolgen dasselbe Ziel.

Das Unternehmen „Sport-Wirtschaft“ mit seiner sich ständig vermehrenden Anzahl von Produkten hat in den vergangenen Jahrzehnten vor allem in jenen Ländern florieren können, in denen es dank autoritärer Staatsstrukturen zur Bereicherung kleiner Minderheiten gekommen ist, die sich in ihrem Wohlstand das Luxusgut „Sport“ leisten konnten. Mit Öl und/oder Gas haben die „neuen Reichen“ so viel Geld verdient, dass sie sich-in den letzten Jahren zunehmend- auch Weltmeisterschaften, Weltcups und sonstige sportliche Großevents der verschiedensten Sportarten leisten können. Abu Dhabi, Katar, Moskau und immer häufiger auch die Metropolen Chinas wie Shanghai und Peking wurden dabei zum „Spielplatz“ von Oligarchen, Milliardären und Autokraten und Sportgroßveranstaltungen zu ihrem „Spielzeug“. Mit ihrem sportlichen „Spielzeug“ (Formel 1-Rennen, Tennisturniere, Reitturniere und vieles mehr) wurden den eigenen Landsleuten als „Brot und Spiele“ offeriert und die überwiegend aus USA und Europa stammenden Gäste dieser Events bewunderten die “neue Gastfreundschaft“ der Reichen dieser Welt.

Dieses Teilsystem des Sports, das zunehmend identisch geworden ist mit dem System der Wirtschaft, aber auch die Massenmedien haben sich über diese Entwicklung in eine direkte und unmittelbare Abhängigkeit zum System der Wirtschaft und der Politik begeben. Jene, die in der Politik und in der Wirtschaft über Macht verfügen, sind auch die Protagonisten und Repräsentanten, die Einfluss auf den Sport nehmen, was teilweise soweit fortgeschritten ist, dass die politisch und wirtschaftlich Mächtigen bemüht sind, selbst über Sitz und Stimme in den Sportgremien zu verfügen. Die königlichen Familien des arabischen Raums spielen dabei heute eine ähnliche Rolle wie dies früher für die königlichen Familien Europas der Fall war. Dies gilt für Saudi-Arabien, Katar, Bahrain und die Vereinigten Emirate ebenso wie für Jordanien. Dort wo das Militär an der Macht ist, streben deren höchsten Repräsentanten ihres Generalstabs in die internationalen Gremien des Sports. Große Wirtschaftsunternehmen wie zum Beispiel die international erfolgreichsten Firmen Südkoreas scheuen sich nicht, ihre eigenen Vorstände in die Führungsgremien des internationalen Sports zu lancieren. Für einige russische Oligarchen und chinesische Eigentümer führender Weltfirmen gilt dasselbe.

Für den Sport hat sich das Duckmäusertum an der Seite der Mächtigen dieser Welt bislang gelohnt. Er muss dabei jedoch immer häufiger zur Kenntnis nehmen, dass man die Richtungen, in die man das Schiff des Sports steuert, häufiger zu wechseln hat. Kommt es zu politischen Umbrüchen und Verwerfungen, wie dies immer öfter der Fall ist, so wird der Sport davon direkt berührt. Wird eine Diktatur über Bord geworfen, wie dies in der Sowjetunion der Fall war oder wie dies in Ägypten, Tunesien und Algerien versucht wurde, so werden oft auch die alten Repräsentanten des Sports über Bord geworfen. Denn als devote Diener ihrer Herren hatten sie meist auch ganz persönlich von den Machtverhältnissen profitiert, die bis zum Umsturz gegolten haben. Es wäre aber nun verfehlt zu glauben, dass mit dem Umsturz autoritärer Strukturen eine neue Generation von Sportführern die Geschicke in den jeweiligen Nationen in die Hand nehmen würde. Die vielen Regierungswechsel in Südamerika können hierzu interessante Beispiele liefern. Gleiches gilt für die jüngsten Ereignisse, die zum Beispiel in Belarus oder auch in Russland zu beobachten sind. Ein Umsturz bedeutet gegebenenfalls einen Machtwechsel. Die Repräsentanten des Sports sind dabei jedoch sofort bemüht, sich mit den neuen Mächtigen ebenso zu arrangieren, wie sie dies mit den früheren Herrschern getan haben. Hier unterscheidet sich der Sport weder von der Wirtschaft noch von den Massenmedien. Seine gesellschaftliche Rolle und Funktion ist immer dieselbe. Der Sport ist immer an der Seite jener, die aktuell das „Sagen“ haben und er profitiert an der Seite jener, die über die politische und militärische Macht verfügen. Er ist das Medium, das den Mächtigen willkommen ist. Dies gilt für Militärdiktaturen und für sogenannte gelenkte Demokratien. Dies gilt aber auch für die parlamentarische Demokratie. Kommt es in Demokratien zu einem Regierungswechsel, so sind die Strukturen des Sports so gut wie gar nicht betroffen. Selbst auf personeller Ebene kann man Kontinuität beobachten, da diejenigen, die den Sport repräsentieren, genau das wollen und tun, was die politisch Verantwortlichen von ihnen erwarten. Die „Heirat“ zwischen Sport und Macht ist eine der stabilsten, die es gibt. Eine „Scheidung“ ist höchst unwahrscheinlich.

In der – durch die Corona-Pandemie hervorgerufen – nahezu einmaligen Krisensituation kann die devote Haltung und Unterordnung des Sports gegenüber dem Politiksystem auf anschauliche Weise beobachtet werden. Die Verantwortlichen in den Sportorganisationen – sowohl national als auch international – haben sich den Entscheidungen der Politik in den verschiedenen Ländern zu fügen und unterzuordnen. Obgleich das aktive Sporttreiben erwiesenermaßen in den vergangenen Jahren unter Präventionsgesichtspunkten eine große Bedeutung in den Gesundheitssystemen fast aller Staaten erlangen konnte, wird die gesundheits- und sozialpolitische Bedeutung des Breiten- und Freizeitsports bei fast allen politischen Entscheidungen während der Corona Pandemie ausgeklammert bzw. nicht berücksichtigt. Der Gymnastiknachmittag für Hausfrauen wird staatlicherseits ebenso verboten wie die motorischen Übungen einer abendlichen Seniorengruppe, obwohl die Hygieneauflagen von den Verantwortlichen in den Vereinen und von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern strengstens eingehalten würden. Erlaubt ist hingegen der professionelle Sport d.h. erlaubt sind vor allem „Brot und Spiele“, so wie es die Römer einem Massenpublikum in den römischen Arenen präsentierten.

Von morgens zehn bis abends spät in die Nacht werden Sportevents übertragen. Fußball, ob als Bundesligafußball oder bei Ländervergleichen, ist dabei besonders begehrt. Aber auch Sportarten wie Skispringen, Biathlon, Nordische Kombination, alpiner Rennsport, Langlauf, Bob, Rodeln oder Skeleton können in Zeiten der Corona-Pandemie nicht nur in Deutschland über außergewöhnliche Einschaltquoten berichten. Eine Handball- Weltmeisterschaft findet in einem Hochrisikogebiet der Pandemie statt. Die eingeplanten Life-Zuschauer vor Ort werden kurzfristig ausgeschlossen. Alle Handballspiele dieser Weltmeisterschaft finden für das Fernsehen und für die Sponsoren statt. Die Spiele sind inszenierte Spiele für ein Fernsehpublikum. Der Zuschauer in der Arena wird durch eine Figur aus Pappe dargestellt und Sprechchöre und Zuschauerapplaus kommen aus der Retorte.

Der staatlich verordnete Lockdown hat in allen Ländern zu einer erheblichen Einschränkung der Freiheiten ihrer Bürger geführt. Grundrechte wurden und werden zeitweise außer Kraft gesetzt. Dem Schutz der Gesundheit aller Mitglieder einer Gesellschaft wird, durchaus begründet, eine vorrangige Bedeutung eingeräumt. Andere schützenswerte Güter haben sich dem unterzuordnen. Dies führt zu vielfältigen Verlusterfahrungen, die Frustrationen und eine große Verärgerung hervorrufen können. Ein Verlangen nach Kompensation ist in einer derartigen Situation naheliegend und verständlich. Die internationalen und nationalen Sportorganisationen kommen der Politik mit ihrem inszenierten TV-Showsport dabei gerne entgegen. Vordergründig ereignen sich die im Fernsehen übertragenen Sportereignisse aus ökonomischen Gründen. Die Sportorganisationen haben Leistungen gegenüber ihren Sponsoren zu erbringen, zu denen sie sich vertraglich verpflichtet haben. Die Interessen der Sponsoren kommen nur dann zum Tragen, wenn die Sportereignisse in den Massenmedien eine ausreichende Resonanz bei ihrer Übertragung erzielen können. Nur dann können die Sportereignisse den Werbeinteressen der Sponsoren genügen. Mit der Bewilligung von Sonderrechten gegenüber dem Fernsehsport, die der Staat den Sportverbänden trotz der Pandemie und dem Lockdown gewährt hat, wird den Profisportarten in erster Linie ein Ausweg aus einer schwierigen ökonomischen Situation eröffnet. Für den Staat hat jedoch dieser genehmigte Sonderweg eine sehr viel weitreichendere Bedeutung.

Keine Funktion erfüllt der TV- Showsport erfolgreicher als die der Kompensation und Ablenkung. Die überdurchschnittlich hohen Einschaltquoten bei Sportübertragungen in diesen Tagen sprechen eine eindeutige Sprache. Zwei der bedeutendsten deutschen Philosophen des vergangenen Jahrhunderts, Helmut Plessner und Jürgen Habermas, haben bereits 1956 beziehungsweise 1958 darauf hingewiesen, dass das Freizeitverhalten in unserer Gesellschaft zwei Formen aufweist: „die suspensive und die kompensatorische“. In Bezug auf die kompensatorische Funktion der Freizeit wird dem Sport eine außergewöhnlich hohe Bedeutung zugeschrieben. Plessner sieht in der Welt, in die man bei jedem Fußballspiel eintauchen kann, eine Entschädigung für das, was die Alltagswelt den Menschen versagt. Für die „übergroße Menge, die durch einen typisierten Konsum sowieso gleichgeschaltet ist, genügt der Rausch des Dabeiseins, das Erlebnis des Ausgelöschtseins in der Masse. Der Druck der Frustrierung, unter dem die elitäre Aufstiegsgesellschaft lebt, weicht vor der Szene des Spielfeldes oder des (Box)Ringes. Der Appell an die Phantasie ist entscheidend, die Möglichkeit sich mit einer eminenten Figur oder Gruppe zu identifizieren. Ob das eine Parteiversammlung ist oder ein Boxkampf, macht keinen Unterschied. Selbstauslöschung und Identifikation mit dem Sieger, das ist, was die Leute suchen“, so Plessner. Für die kompensatorische Wirksamkeit des Unterhaltungssports ist dabei entscheidend, dass das Publikum sich auf den jeweils gezeigten Sport verstehen kann: Fußball in Deutschland, Baseball in den USA, Cricket in England, Fahrradrennen in Italien etc. „Frustrierung und gesteigerte Aggressivität, Rückwirkungen der elitären Gesellschaft, verbindet sich für die übergroße Zahl der Menschen heute mit dem Zwang zu einer sie nicht ausfüllenden Arbeit an Dingen, die sie nur partiell verstehen. Das gilt in erster Linie für den „Organization Man“ in der großbetrieblichen Wirtschaft, aber mit der steigenden Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche für jeden von uns (…) die Antwort auf die alles beherrschende Anonymität und Abstraktheit der industriellen Arbeitsweise in Fabrik und Büro hat man längst in der Regression der Sportbegeisterung gefunden. Der Sport spricht eine sinnfällige, jedem verständliche Sprache. Quer durch alle trennenden Schranken von Bildung und Beruf vermittelt er echte Kameradschaft, befriedigt er die ungestillten Bedürfnisse nach Kampf, Anerkennung und Heldenverehrung Er gewährt, unvergleichlich direkter als das zur Literatur gewordene Theater oder die Traumwelt des Films, echte Teilnahme an einem dramatischen Geschehen“. Plessners Analysen sind heute so bedeutungsvoll und aussagekräftig wie vor 70 Jahren.

Es kann deshalb kaum verwundern, wie zielführend die Sportübertragungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen der von Plessner gekennzeichneten Kompensationsfunktion entsprechen. Die Übertragungen sind auf nationale Identifikation ausgerichtet und die Übertragungen einer Sportart sind nur so lange relevant, solange man auf deutsche Sieger verweisen kann.  Mit dem Ausscheiden einer deutschen Handballnationalmannschaft bei einer Weltmeisterschaft-wie gerade einmal mehr geschehen- ist für das deutsche Sportpublikum auch die gesamte Weltmeisterschaft beendet, obgleich die besten und interessantesten Spiele dieser Meisterschaft noch bevorstehen. Live-Übertragungen rechnen sich nur dann, wenn die Programmverantwortlichen deutsche Erfolge erwarten. Übertragungen über den Bobsport und das Rodeln sind angesichts deutscher Seriensieger gesichert. Kann eine Sportart an ihre Erfolge aus der Vergangenheit nicht anknüpfen, so befindet sie sich jedoch in der Gefahr, das mediale Interesse zu verlieren.

Die kompensatorische Wirkung des Fernsehsports ist dabei dann besonders intensiv, wenn sich die Zuschauer mit Siegern der eigenen Nation identifizieren können. Der Sieger sollte dabei der „Beste der Welt“ sein. Dies gilt auch dann, wenn sich in den meisten Sportarten, die man dem deutschen Publikum zur Identifikation mit Siegern offeriert, die Welt oft als sehr klein erweist. An einem Biathlon–Weltcup oder einer Biathlon-Weltmeisterschaft nehmen meist nicht mehr als ein Zehntel aller Nationen unserer Welt teil. Gleiches gilt für den Bobsport, das Rodeln oder für den alpinen Rennsport. Aber nicht nur in fast allen Wintersportarten stellt sich uns die Welt als ein „kleines geographisches Gebilde“ dar, auch in vielen Olympischen Sommersportarten ist der Gebrauch des Begriffes „Welt“ eher als anmaßend zu bezeichnen. Nach wie vor werden viele olympischen Sportarten von einer europäischen Dominanz geprägt, die durch die Teilnahme der USA, Kanada, Japan, Australien und immer häufiger auch durch Süd-Korea, China, Südafrika und einigen wenigen südamerikanischen Ländern ergänzt wird

Die Funktion, die diese Art von inszeniertem „Fernsehsport“ für unsere Gesellschaft erfüllt, kann allerdings durchaus auch positiv bewertet werden. Durch den Lockdown den die Bundesregierung und die Landesregierungen über die deutsche Bevölkerung verhängt haben, wird deren Mobilität ganz erheblich eingeschränkt. Mehrere Stunden, ganze Tage und dies bereits über mehrere Monate haben die Bürgerinnen und Bürger die meiste Zeit des Tages in ihrer Wohnung oder im Haus zu verbringen. Die überdurchschnittlich hohe Verweildauer vor Bildschirmen zeigt, dass ohne das Fernsehen viele Menschen Probleme hätten, sich in der äußerst schwierigen Lockdown- Situation zurechtzufinden. Das umfangreiche Sportprogramm des Fernsehens ist deshalb für viele eine Lebenshilfe in einer schwierigen Zeit. Für mich selbst gilt dies gleichermaßen wie für viele meiner Freunde Und Bekannten. Die hohen Konsumraten des Sportfernsehens, die in diesen Tagen erreicht werden, sollten deshalb keineswegs ein Anlass zu einer vordergründigen TV-Kritik sein. Wünschenswert wäre allerdings, wenn sich die Zuschauer bewusstwürden, welche kompensatorische Funktion das Sportfernsehen hat und welche Rolle sie dabei selbst als Zuschauer spielen. Gerade in Zeiten einer Krise ist fundierte Aufklärung über komplizierte gesellschaftliche Sachverhalte mehr als wünschenswert. Trotz der möglichen positiven Aspekte bleibt diese Art von Sportberichterstattung eine Manipulation der Zuschauer. Die von Habermas und Plessner aufgezeigte  Funktion der Kompensation mittels des Showsports in den Massenmedien zeigt uns, dass wir auch als Zuschauer des Sportfernsehens nur sehr bedingt selbstbestimmt handeln.

Verfasst: 28.01.2021