„Auf den Hund gekommen“ – eine Erwiderung

In der deutschen Presselandschaft ist die Seite 3 der Süddeutschen Zeitung ohne Zweifel etwas Besonderes. Als langjähriger Leser dieser Zeitung weiß ich, dass es nur wenigen Journalisten vergönnt ist, diese wichtige Seite mit bedeutsamen Inhalten zu füllen. Holger Gertz gehört zu dieser besonderen Gruppe von Journalisten und ihm ist es auch vorbehalten auf dieser Seite hintergründig, kritisch und empirisch fundiert über das Phänomen des modernen Sports zu schreiben. Am 24. Juli 2020 waren seine Reflexionen auf die Olympischen Spiele von Tokio ausgerichtet. Vor allem aber erinnerte er sich in würdiger Weise an die Olympischen Spiele 1972 von München. Er selbst hat diese wohl im Alter von vier Jahren nicht bewusst wahrgenommen. Das was er über die Spiele recherchiert hat ist ihm dennoch bestens gelungen. Ich selbst war zum Zeitpunkt der Spiele wissenschaftlicher Assistent am Institut für Sportwissenschaft der Universität Tübingen, war während der Spiele in München anwesend, habe auch den internationalen olympischen Wissenschaftskongress vor den Spielen besucht und habe mich engagiert an einer kritischen Diskussion der neu erwachten studentischen 68er-Generation über die Möglichkeiten und Gefahren Olympischer Spiele beteiligt. Flugblätter haben wir verteilt und die Olympischen Spiele wurden dabei keineswegs so begeistert wahrgenommen wie es die Ausführungen von Herrn Gertz nahelegen. Herrn Gertz ist es gewiss nicht vorzuwerfen, dass er diese Kritik in seinen Reflexionen über München 72 nicht zur Kenntnis genommen hat. Im Gegenteil: die Spiele von München 1972, ganz wesentlich von Willi Daume und Hans Joachim Vogel beeinflusst, von Architekten wie Behnisch und von Designern wie Otl Aicher in einer beispielhaften Weise geprägt, erreichten trotz des Attentats auf die israelische Mannschaft durch palästinensische Terroristen die mit den Spielen verbundenen politischen und kulturellen Ziele. Deutschland zeigte sich als weltoffenes Land, München war ein begeisterter Gastgeber und mit den Spielen wurde die neue Stadtkultur Münchens zu einem Vorbild für viele Städte in Deutschland und in der Welt. Die Zäsur durch das Attentat war nicht weniger wirkungsvoll. Die Spiele zeigten sich vor den Augen der gesamten Welt als äußerst verletzlich. Die Friedensbotschaft der Olympischen Spiele wurde bis in alle weitere Zukunft hinein erschüttert. Trotz des fragwürdigen Satzes von IOC Präsident Brundage „the Games must go on“ wurde in München der Welt gezeigt, dass der olympische Sport wohl ein erhaltenswertes Ideal sein kann, seine Möglichkeiten zur Lösung politischer Probleme jedoch gar nicht oder nur äußerst selten existieren.

Seit 1972 hat sich über einen Prozess der weltweiten Globalisierung die politische Situation der Weltgesellschaft ständig verändert. Sie ist äußerst komplex und die Sicherheitslage in dieser konfliktreichen Welt ist immer schwieriger geworden. Anstelle des Kalten Krieges sind viele komplexe kriegerische Auseinandersetzungen getreten. Die Konstellation der Großmächte hat sich entscheidend verändert. China, das 1972 auf der weltpolitischen Landkarte so gut wie keine Rolle gespielt hatte und sich noch inmitten einer selbstzerstörerischen Kulturrevolution befand, ist mittlerweile zu einer dominanten weltpolitischen Größe geworden, die auch in der Welt des Sports eine immer wichtigere Rolle spielt. USA hat sich unter der Führung von Präsident Trump in eine Sonderrolle hineinmanövriert, die von einer kaum noch zu überbietenden Unübersichtlichkeit geprägt ist. Russland ist in direkter und indirekter Weise an jedem politischen Konflikt beteiligt, doch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes sind unübersehbar. Die NATO hat an Einfluss und Geschlossenheit verloren. Die EU befindet sich in einer Dauerkrise.

Die hier versuchte politische Skizze könnte gewiss detaillierter sein. Sie soll jedoch zeigen, dass seit den Olympischen Spielen im Jahr 1972 im Vergleich zu den geplanten Olympischen Spielen 2020 in Tokyo die Welt sich auf entscheidende Weise verändert hat. Dabei ist jedoch eines geblieben. Die Friedensidee ist für diese Welt nach wie vor von größter Bedeutung und wer dieser Idee verpflichtet ist, der kann sich nur wünschen, dass auch zukünftig Athletinnen und Athleten aus allen Ländern der Welt sich bei Olympischen Spielen in friedfertiger Weise begegnen und sie in fairen Wettkämpfen die Beste oder den Besten in ihren jeweiligen Sportarten suchen. Das Athletendorf von München kann nach wie vor ein Vorbild für alle Athletendörfer bei zukünftigen Olympischen Spielen sein und die kulturellen und politischen Ziele der Münchner Spiele haben auch in diesen Tagen eine relevante Bedeutung.
Es stellt sich deshalb die Frage, was in diesen Tagen, in einer Zeit, in der sich die gesamte Menschheit durch eine Covid-19 Pandemie existentiell gefährdet sieht, getan werden muss, dass derartige Olympische Spiele aktuell und zukünftig möglich sind.

Folgt man der Meinung von Herrn Gertz so sind die Olympischen Spiele „auf den Hund gekommen“ und das IOC mit seinen Olympischen Spielen befindet sich in einer Krise. Der Annahme einer Krise kann ohne Zweifel zugestimmt werden. Es muss jedoch gefragt werden welche Wege es aus dieser Krise gibt und ob Gertz selbst uns einen Weg aus dieser Krise aufzeigen kann. „Das IOC gibt sich in der Krise gewohnt schwülstig und selbstverliebt“. Beim IOC geht es um „Pathos und Populisten“. An ihrer Spitze steht ein Deutscher namens Bach. „IOC – Präsident Thomas Bach, früher ein Weltklassefechter, hatte sich vor den Spielen mal wieder als Meister der pathetischen Beschwörung bewährt. Der Vielreiser Bach hat eine Floskelsammlung im Gepäck, Versatzstücke einer immer neuen, zugleich alten Rede, aus der Begriffe wie humankind, respect und hope verheißungsvoll hervorschimmern. Auch wenn Bach sie eher deutsch ausspricht, sogar, wenn er Englisch redet“.

Von einem fairen Kommentar kann bei diesen Äußerungen nicht die Rede sein. Polemisch wird Bach wegen seiner vielen Reisen infrage gestellt, ohne die Frage nach der Notwendigkeit dieser Reisen zu stellen. Bachs sprachliche Kompetenz wird unnötigerweise ironisiert, ob gleich es nur wenige Repräsentanten des Sports gibt, die sich vergleichbar fließend in französischer, deutscher und englischer Sprache austauschen können. Bleibt nur zu hoffen, dass Herr Gertz sein eigenes Sprachtalent richtig einzuordnen weiß. Bach wird eine Floskelsammlung und eine Rhetorik in Versatzstücken unterstellt, die bei einer genaueren Analyse seiner Reden während seiner bisherigen Amtszeit nicht zu finden wären. Das Klischee vom „Buhmann Bach“ muss deshalb auch die weiteren Ausführungen von Gertz leiten.

Die Olympischen Winterspiele öffnen hoffentlich die Tür zu einer besseren Zukunft der koreanischen Halbinsel und laden die Welt ein, an einem Fest der Hoffnung teilzunehmen“ sagte also Bach im Jahr 2018, das klang weihevoll, obwohl doch Christian Morgenstern schon wusste: „Alles Pathos ist verdächtig“. Das ficht den alten Fechter offensichtlich nicht an“.

Nach der Entscheidung des IOC und Gastgebers Japan, die Spiele wegen der weltweiten Coronapandemie um ein Jahr zu verschieben, führt Gertz seine Bachpolemik mit weiteren Zitaten fort. „Er leuchtete in Richtung 2021 und sagte: „Wir wollen, dass die Olympische Flamme zum Licht am Ende des Tunnels wird“. Er sagte: „Diese Olympischen Spiele könnten eine Ode an die Menschheit sein, nachdem sie diese beispiellose Corona Krise überwunden hat“. Da war er wieder, dieser mittlerweile bekannte Sound der Oberolympioniken, die sich selbst und Ihre Stammeszeichen so wichtig nehmen“.

Bachs Wortwahl mag bemängelt werden. Doch gleichzeitig sollte man doch immer auch die Frage stellen, ob es nicht unser aller Wunsch sein sollte, dass die Spiele im nächsten Jahr auch wirklich in Tokyo stattfinden können und damit ein Zeichen der Hoffnung nicht nur für Japan als Gastgeber, sondern auch für die Teilnehmer und Gäste aus aller Welt gesetzt würde. Das Bild vom Licht im Tunnel ist deshalb durchaus angemessen. Von einem schwülstigen Pathos kann dabei keine Rede sein.
Die Äußerungen von Herrn Bach haben ganz offensichtlich das Missfallen von Herrn Gertz hervorgerufen. Doch muss man ihn fragen was er an dessen Stelle setzen möchte. Was wird von ihm getan, damit auch zukünftig Olympische Spiele möglich sind, sollten sie von ihm selbst auch wirklich erwünscht sein. Wäre es nicht wünschenswert, dass nach der Beendigung der Coronapandemie mit der Durchführung von Olympischen Spielen ein Zeichen der Hoffnung gesetzt wird?
All das was Herr Bach seit seiner Wahl zum IOC-Präsidenten geleistet hat, seine Olympische Agenda 2020, sein Angebot zur Vereinfachung und Kostensenkung zukünftiger Spiele, sein Engagement im Anti-Doping-Kampf, sein Einsatz für Transparenz, Compliance- und Governancestandards, die Offenlegung der eigenen Finanzen ist für Herrn Gertz nicht erwähnenswert. Unter Bachs Führung wurde die Mitbestimmung der Athleten entschieden verbessert. Mit 15 Mitgliedern haben sie heute genauso viele Stimmen wie die Vertreter der internationalen Sportverbände und die Vertreter der Nationalen Olympischen Komitees. Die 15 Athleten werden in geheimer Wahl gewählt und der Vorsitzende der Athletenkommission hat Sitz und Stimme in der IOC-Exekutive. Bei Bachs Amtsantritt lag der Frauenanteil im IOC bei 21,3%, heute liegt er bei 37,5%.

Herr Gertz merkt ganz offensichtlich nicht, dass er ebenfalls einem mittlerweile bekannten Sound einiger Oberolympia-Kritiker folgt, „die sich selbst und ihre Stammeszeichen zu wichtig nehmen“. Deshalb kann er auch der Absicht von IOC-Präsident Bach noch einmal wieder zu kandidieren nichts Gutes abgewinnen. Die Lobhudeleien und die devoten Ergebenheitsbekundungen einiger IOC-Mitglieder kann man durchaus als ein Ärgernis bezeichnen. Sie Bach vorzuwerfen ist jedoch lächerlich, wenn man weiß, wie das IOC sich in der Vergangenheit zusammengesetzt hat und nach welchem Verfahren auch heute noch die Mitglieder berufen werden. Selbst Bachs größte Kritiker innerhalb der internationalen Sportorganisationen haben längst erkannt, dass es innerhalb des IOC keine vergleichbare Führungspersönlichkeit gibt, die das IOC während und aus der schwierigsten Krise in der Geschichte der Olympischen Bewegung führen könnte.
Bachs Präsidentenamt ist in diesen Tagen schwieriger denn je. Zu beneiden ist er dabei nicht, eher sind ihm kluge Berater und Fortune zu wünschen.

Verfasst: 30.07.2020