Zwanzig Jahre nach der Jahrhundertwende

Für die Entwicklung des modernen Sports war das 20. Jahrhundert ohne Zweifel ein außergewöhnlich erfolgreiches Jahrhundert. Vor allem war es die zweite Jahrhunderthälfte, in der es dem Sport gelingen konnte, sich zum bedeutsamsten kulturellen Massenphänomen weltweit zu entwickeln. Innerhalb dieses Entwicklungsprozesses spielte der deutsche Sport eine besondere Rolle. Der Sport, wie er sich seit der Gründung des Deutschen Sportbundes im Jahre 1950 in der Bundesrepublik Deutschland entwickelte, konnte in vieler Hinsicht als vorbildlich bezeichnet werden. Der Deutsche Sportbund entwickelte sich dabei in einer nachahmenswerten Offenheit. Er öffnete sich gegenüber dem Staat, er war der Partner der großen Kirchen, die Arbeitgeberverbände waren dem Sport aufgeschlossen, gleiches galt für den deutschen Gewerkschaftsbund. Es bestand ein intensiver Austausch mit den Eliten der Gesellschaft ebenso wie mit der Basis. Erinnern wir uns an den Wissenschaftlichen Beirat, dem führende Wissenschaftler Deutschlands angehört haben und der die Sportpolitik des DSB kritisch zu begleiten hatte. Erinnern wir uns an die herausragenden Persönlichkeiten, die bei den Bundestagen des DSB gesprochen haben. Erinnern wir uns an den Erfolg einer „Sport für alle“ Bewegung, die nicht zuletzt der charismatischen Führung durch Prof. Palm zu verdanken war. Erinnern wir uns an die wegweisenden Aktionsprogramme für den Schulsport, den Goldenen Plan, an den alles überragenden Kongress „Menschen im Jahr 2000“, an die scharfen und kontroversen Debatten über die Grundsatzerklärung des Spitzensports, an die Diskussionen über die Fragen des Kinderhochleistungssports und an die Verhandlungen über den deutsch-deutschen Sportverkehr. Der Deutsche Sportbund als die Dachorganisation aller Sportvereine und –verbände war dabei auf seine Autonomie bedacht und dennoch befand er sich in einem aktiven Dialog mit seiner Umwelt. Die quantitativen Erfolgszahlen können hier außen vor gelassen werden.  Doch sei darauf hingewiesen, dass die 50 Jahre seit 1950 bis zum Jahr 2000, durch ein beispielsloses Wachstum gekennzeichnet gewesen sind.

Blicken wir heute auf die ersten zwanzig Jahre des neuen Jahrhunderts zurück, so können gewiss auch einige Erfolge benannt werden, durch die sich die Sportentwicklung in Deutschland auszeichnet, Ein positives Bild, in hellen Farben gezeichnet, kann dabei für den deutschen Sport jedoch nicht entstehen. Ist der deutsche Sport zur offenen Selbstkritik in der Lage, so muss er vielmehr einige Entwicklungen wahrnehmen, die teilweise als beunruhigend, teilweise als gefährlich zu bezeichnen sind.

Die Dachorganisation des deutschen Sports ist mittlerweile eine sehr brave Organisation geworden und sie ist vorrangig dem Zeitgeist verpflichtet. Relevante Zukunftsziele, die von gesellschaftlicher Bedeutung sind, lassen sich in der politischen Arbeit dieser Organisation so gut wie gar keine erkennen. Vielmehr ist Pragmatik angesagt. Sportpolitik ist zum bloßen Management verkommen. PR, Promotion und Marketing liefern die Handlungsmaximen, farb- und gesichtslose Agenturen sind die angeblich geeigneten Politikberater. Der Kontakt zur Intellektualität in unserer Gesellschaft ist äußerst bescheiden geworden. „Networking“ soll politische Macht sichern, Kontroversen sind dabei eher unerwünscht. Die Öffentlichkeitsarbeit muss deshalb gut kontrolliert sein. Vierfarbglanzdrucke müssen an die Stelle kritischer Reflexion treten, ein Magazin wie das „Olympische Feuer“ kann als überflüssig gelten. Die ehrenamtlichen Beiräte haben vorrangig dem Stimmenproporz der Mitgliedsorganisationen zu entsprechen. Per Akklamation wird die Zustimmung gesichert. Bei Mitgliederversammlungen wird demonstriert, wie einheitlich und geschlossen die Mitglieder der Dachorganisation hinter ihrer Führung stehen.

In den letzten Jahren wurde diese langweilige und fade Sportentwicklung mit einer bemerkenswerten Wortschöpfung, die ihresgleichen sucht, auf einen Nenner gebracht. „Sportdeutschland“ heißt nun das Ganze und der Präsident dieses neuen „Sportdeutschlands“ weiß sich nahezu ununterbrochen in dieser furchtbaren Sprachhülse zu sonnen. Hätten geistlose Marketing- und Brandingexperten einen ähnlichen Einfluss wie im Sport, so könnten sie ja dieser „Neuschöpfung“ noch die Begriffe Musik-, Kunst-, Literatur- und Wissenschaftdeutschland hinzufügen. Imperialistischen Gelüsten sind ganz offensichtlich keine Grenzen zu setzen.

Ein historisches Gewissen ist angesichts solch pragmatischer Sportpolitik nicht mehr notwendig, ja es ist eher störend. Alles was man sportpolitisch auf den Weg bringt wird als Innovation betrachtet, weil diejenigen, die es präsentieren nicht wissen, durch welche Inhalte sich die Vergangenheit des deutschen Sports ausgezeichnet hat. Für die jung-dynamischen Kommunikationsberater des Deutschen Olympischen Sportbunds sind Namen wie Max Danz, Willi Weyer, Karl-Heinz Gieseler, Ommo Grupe, Jürgen Palm oder Fritz Wildung nur noch Schall und Rauch. Selbst Willi Daume wird der Vergessenheit anheimgegeben. An einer Weiterentwicklung einer Philosophie des Sports ist niemand interessiert. Eine fundierte wissenschaftliche Begleitung des modernen Sports tritt auf der Stelle. Reflexionen über den Sport haben allenfalls Talkshowcharakter. Oberflächlichkeit und Kurzlebigkeit ist angesagt. Man lebt von der Hand in den Mund. Die gewählten Repräsentanten haben dabei im wahrsten Sinne des Wortes den Sport zu repräsentieren, auf Podien, bei Empfängen, in der Lobby der großen Hotels und bei in den internationalen Sportereignissen sind sie anzutreffen. Beziehungspflege und stereotypische Plauderkommunikation sind dabei die besonderen Erfolgsmuster der aktuellen Sportpolitik. Die staatliche und parlamentarische Sportpolitik unterscheidet sich dabei von jener des organisierten Sports nur graduell. Auch dort ist Sprunghaftigkeit zu erkennen, Aktualität definiert die Tagesordnung. Betrachtet man dabei die Themen mit denen sich der Sportausschuss des Deutschen Bundestages in den vergangenen zwanzig Jahren beschäftigt hat und welche Konsequenzen diese Beschäftigung hatte, so verdunkelt sich das zeitgenössische Bild des Sports eher noch als dass man dabei irgendwelche konstruktiven Zukunftslösungen erkennen könnte.

Die hier vorgetragene Kritik an der aktuellen Situation des deutschen Sports in beiden ersten Dekaden des neuen Jahrhunderts könnte als haltlos bezeichnet werden, wenn es den Verantwortlichen des deutschen Sports gelingen könnte, positive Entwicklungslinien aufzuzeichnen, die dank ihrer Politik in der vergangen zwanzig Jahren erreicht wurden. Doch genau dies ist nicht der Fall. Die Entwicklung des deutschen Sports in den vergangenen Jahren zeichnet sich durch Stagnation aus. Dies gilt für den Kinder- und Jugendsport, dies gilt für den Schulsport, dies gilt für den Hochleistungssport und dies gilt vor allem für den Sport in den Vereinen. Die Zahlen sprechen dabei eine eindeutige Sprache.

Die Zahl der unterrichteten Sportstunden ist im öffentlichen Schulwesen eher rückläufig als steigend. Angesichts der Ganztagesschulen ohne entsprechende infrastrukturelle Investitionen ist eine Verbesserung der Schulsportsituation nicht zu erkennen. Die motorischen Defizite bei Schülerinnen und Schülern sind in den letzten Jahren erheblich angewachsen.

Die Mitgliederzahlen in den Sportverbänden zeichnen sich mehrheitlich durch Stagnation aus, immer mehr Verbände müssen auf rückläufige Tendenzen verweisen. Neue Mitgliedergewinnungsprogramme sind nur bedingt erfolgreich. Die Vereinsentwicklung ist ebenfalls stagnierend, Neugründungen sind oft nur über Abspaltungen zu erkennen. Wenn es ein Wachstum gibt, so verdankt man dies in erster Linie Spezialvereinen, die unter gesundheitlichen Gesichtspunkten wichtig geworden sind.

Dem Leistungssport ist es in den vergangenen zwanzig Jahren nicht gelungen, einem Abwärtstrend entschieden entgegen zu treten, der bereits seit 1990 zu erkennen war. Die Statistik der Finalplätze bei Olympischen Spiele spricht eine eindeutige Sprache. Alle 4 Jahre müssen in mehreren Sportarten Einbußen beklagt werden. Eine tragfähige Lösung ist noch nicht in Sicht, wenngleich mit der Potentialanalyse (POTAS) ein wichtiges Instrument zur Steuerung der Entwicklung des Leistungssports gefunden wurde.

Angesichts dieser Entwicklungen und Tendenzen, ist es besonders problematisch, wenn Innovationen und Kreativität zur Mangelware werden wie dies in den letzten zwanzig Jahren der Fall gewesen ist. Die Führungsarbeit des deutschen Sports ist in bürokratischen Strukturen erstarrt. Die hauptamtlichen Strukturen der Verbände haben den Charakter von Behörden. Man ist bemüht sich der Beratung von außen zu bedienen und erhält dabei nichts anderes als Schablonen, die in anderen gesellschaftlichen Feldern schon tausendmal ausgetreten wurden. Neue Wege lassen sich auf diese Weise nicht finden. Schon gar nicht ist man in der Lage, sich zu einer lernfähigen Organisation zu verändern. Die Führung rekrutiert ihr Personal aus ihresgleichen, kritische Geister sind dabei nicht erwünscht. Affirmation bestehender Strukturen ist dabei wahrscheinlich. Wegweisende Veränderungen sind nicht zu erkennen.  Angesichts all dieser Entwicklung ist Sorge angesagt, wenn man es mit dem Sport in unserer Gesellschaft gut meint. Angesagt ist, dass man sich um neues Führungspersonal bemüht, dass man Verantwortlichkeiten neu definiert, dass der Sport sich klare Ziele setzt, dass man auch bereit ist, sich an seiner eigenen Zielsetzung messen zu lassen. Die Dachorganisation des deutschen Sports bedarf einer grundlegenden Erneuerung. Dies gilt in sachlicher Hinsicht gleichermaßen wie in Bezug auf die Persönlichkeiten, die den deutschen Sport verantwortlich zu führen haben.