1. Einleitung
„Längst ist der Sport auf die Juristen¹ gekommen“: mit diesem Satz beginnt ein ansonsten sehr bemerkenswerter und sachkundiger Beitrag in der FAZ zum Doping aus verfassungsrechtlicher Sicht. Autor ist Professor Steiner, Ordinarius für öffentliches Recht und Richter am Bundesverfassungsgericht. Dieser Einschätzung von Herrn Steiner möchte ich widersprechen: Nicht der Sport ist auf die Juristen gekommen, sondern die Juristen auf den Sport: Sie sind schon seit längerer Zeit dabei, das System des Sports schleichend zu vereinnahmen. Das Recht und damit dessen institutionelle und personelle Vertretungen weisen quasi-imperialistische Züge auf. Das Recht ist dabei jenes gesellschaftliche Teilsystem, das immer entschiedener die anderen gesellschaftlichen Subsysteme dominiert. Auf einen Nenner gebracht heißt dies: Es findet in unserer Gesellschaft ein Verrechtlichungsprozess statt, der weder planvoll gesteuert noch von rational nachvollziehbaren Intentionen geleitet wird.
Aus soziologischer Sicht hat die hier aufgestellte Behauptung kaum etwas Spektakuläres an sich. Betrachten wir den sozialen Wandel unserer Gesellschaft, insbesondere in den vergangenen 50 Jahren, so können wir einen kontinuierlichen Modernisierungsprozess beobachten, dessen Ende derzeitig nicht absehbar ist. Das besondere Merkmal dieses Prozesses kann über das Konzept der funktionalen Ausdifferenzierung erläutert werden. Nach ihm ist davon auszugehen, daß sich Industriegesellschaften im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen durch höhere Komplexität auszeichnen. Was einst zusammengehörte, musste im Interesse der Optimierung durch funktionale Ausdifferenzierung getrennt werden. Aus der Arbeit des Bauers wurde die Fließbandarbeit, Wohnen und Arbeiten wurde ebenso getrennt wie Freizeit und Arbeit. Aus einfachem Recht wurde komplexes Recht, aus einfacher Politik wurde Spezialistenpolitik etc. Die Reihe der Beispiele könnte fortgeführt werden. Systeme neigen zu Teilsystembildungen und hat sich einmal ein eigenständiger Systemcode herausgebildet, so ist die Etablierung eines neuen Systems gelungen. Aus soziologischer Sicht wurde der Modernisierungsprozess dabei vor allem durch einige Antriebskräfte vorangetrieben, deren Wirkung sich als bedeutsame Verände-rungsphänomene identifizieren lassen.
Ein erstes derartiges Phänomen kann in der Individualisierung gesehen werden. Die-ses lässt sich vor allem durch folgendes Merkmal kennzeichnen: Die Individuen müssen zunehmend selbst ihre Schicksale in die Hand nehmen und entsprechende Ent-scheidungen treffen. Die Institutionen können dafür zunehmend weniger Sicherheits-garantien bereitstellen. Es kommt dabei zu einer sukzessiven Erosion traditioneller Lebensgemeinschaften, einer Infragestellung von traditionellen, handlungsleitenden Mustern und kulturellen Normen, Wissensmomenten und Glaubenssätzen sowie einer Aneignung neuartiger sozialer Einbindungsformen in Reaktion auf die Auf-lösungstendenzen.
Zum zweiten ist eine immer intensivere Hinwendung zur Rationalisierung zu beobachten. Die Rationalisierung im Sinne einer Modernisierung von Gesellschaft zeigt sich vorrangig darin, dass die Handlungsgrundlagen des Subjektes sich von wertrationalen Entscheidungsstrukturen entfernen und sich zu zweckrationalen Entscheidungen hinwenden. Die Gesinnungsethik und Wertüberzeugungen werden nach und nach von funktionalistischen Effektivitätserwägungen abgelöst. Input-Output-Kalkulationen treten an die Stelle von Prinzipientreue und Wertorientierung
Drittens ist die Ökonomisierung und Kommerzialisierung zu beachten, deren Reich-weite und Einfluss wohl kaum noch unterschätzt werden darf. Im Zuge der Rationalisierung kommt es hierbei zu einem Ausbau der Vormachtstellung wirtschaftlicher Rationalität. Individualisierung und Rationalisierung verschmelzen sich zu einem utilaristischen Individualismus, der eine persönliche Nutzen- und Vorteilsmaximierung als oberstes Gebot festlegt. Kosten-Nutzen-Kalküle werden zur Orientierungsbasis in nahezu allen Lebensbereichen. Immer mehr Bereiche des Alltagslebens werden durchkapitalisiert und vermarktet. Zunehmend betroffen dabei sind vor allem die Bereiche der Privatheit der Bürger sowie die Kinder- und Jugendzeit. Das Ausnutzen von Privilegien und damit der Auszug aus der Solidargemeinschaft wird zum gängigen Merkmal mancher Alltagspraxis.
Viertens ist ein Prozess der Mediatisierung hervorzuheben, der sich vor allem über eine Informationsüberflutung des menschlichen Lebens, ein beschleunigtes Wachstum der informationstechnischen Industrie, eine Symbiosenbildung von traditionellen und neuen Medien sowie globale Reichweiten durch neue Übertragungswege beobachten lässt. Ferner definieren Medien immer entschiedener, was relevant in unserer Gesellschaft ist und was nicht.
Fünftens gehen diese Veränderungen mit einer zunehmenden Verwissenschaftlichung unserer Gesellschaft einher. Die Bedeutung der Wissenschaften für verschiedenste gesellschaftliche Bereiche weist ein kontinuierliches Wachstum auf. Dabei kommt der Wissenschaft immer mehr die Rolle einer obersten Schiedsinstanz zu. Sie entscheidet über Nutzen und Wahrheit. Besonders bedeutsam wird dies in der Rolle des Gutachters. Bei politischen Entscheidungen beruft man sich vermehrt auf die Wissenschaft. Wissenschaft wird immer mehr auch zur Amateurwissenschaft, erreicht auf diese Weise den Alltag der Menschen. Deutlich wird dies im Sektor des medizinischen und psychologischen Wissens. Es ist aber auch zu erkennen, daß mit der Verwissenschaftlichung ein Trivialisierungsprozess vonstatten geht. Im Wissensfortschritt verlieren die Erkenntnisse immer mehr an Bedeutung.
Sechstens muss von der Globalisierung gesprochen werden. Die Globalisierung hat ihren Ursprung in den Industrieunternehmen. Der Begriff verweist auf die Veränderung und Zunahme der grenzüberschreitenden Aktivitäten von Unternehmen zum Zwecke der Organisation von Entwicklung, Fertigung, Materialbeschaffung, Marketing und Finanzierung. Empirisch zeigt sich die Globalisierung über grenzüberschreitende Transfers von Informationen, Geld, Waren, Dienstleistungen und Know-how. Belege für diesen Globalisierungsprozess sind ausländische Direktinvestitionen, internationale Kooperationen auf Firmenebene, die sich wandelnde Struktur des internationalen Handels und die Globalisierung der Finanzmärkte.
Schließlich ist siebtens jener Prozess ist zu beobachten und jenes Phänomen zu erkennen, über das hier im Folgenden am Beispiel des Dopingproblems diskutiert werden soll: das Phänomen der Verrechtlichung. Ein besonderes Kennzeichen der Moderne ist eine zunehmende Verrechtlichung der Hierarchie- und Gewaltverhältnisse zwischen den gesellschaftlichen Mitgliedern. Es kommt zur Ausweitung des Rechtssystems. Die Verrechtlichung erreicht alle Lebensbereiche, insbesondere die privaten, sozialen und kulturellen Sektoren der Gesellschaft.
2. Merkmale der Verrechtlichung des Sports
Das Phänomen der Verrechtlichung hängt engstens mit den oben skizzierten Phänomenen der Modernisierung zusammen, ist teilweise durch diese verursacht, wirkt aber auch auf diese zurück. Was den Sport betrifft, so findet eine Verrechtlichung schleichend, jedoch um so kontinuierlicher statt. Betrachtet man den Wandel des Systems des Sports über einen längeren Zeitraum hinweg, so können die entscheidenden Veränderungen, die durch die Verrechtlichung hervorgerufen worden sein, genau beobachtet werden. Die Verrechtlichung zeigt sich dabei auf verschiedenen Gebieten:
Da ist zunächst eine Verrechtlichung des Personals zu beobachten. War über lange Jahre die Parteibuchzugehörigkeit eine fragwürdige Eintrittsklausel für Führungsämter des Sports, so ist man heute ständig auf der Suche, Führungskräfte mit juristischer Kompetenz zu gewinnen. Auf ehrenamtlicher Seite zeigt sich dies bei den Mitgliedern der Präsidien der Sportverbände, die sich immer häufiger durch ein juristisches Examen auszeichnen, auf hauptamtlicher Seite sind immer mehr Sportverbände genötigt, sich Rechtskompetenz einzukaufen. Entweder wird die Stelle des Justitiars geschaffen, oder man bedient sich der anwaltlichen Hilfe.
Mit der Verrechtlichung des Personals geht eine Verrechtlichung der Kommunikation einher. Analysiert man die Tagesordnungen und die Sitzungsverläufe der Spit-zenverbände, so kann man erkennen, dass viele Debatten sich durch juristische Qualitäten auszeichnen. Die präsidialen Laienmitglieder sind dabei kontinuierlich dem Fachjargon juristischer Experten ausgeliefert, ohne dass sie in der Lage wären, diese Debatten in ihrer inhaltlichen Qualität angemessen beurteilen zu können.
Nicht zu übersehen ist auch eine Verrechtlichung der Haushalte, d.h. der Finanzen. Dies wird schon zwangsläufig durch das neue juristische Personal bedingt, das Kosten erzeugt und das wie jedes neue Personal darauf aus ist, sich selbst zu rechtfertigen und zu legitimieren und allein aufgrund dieser Tatsache zu einem kontinuier-lichen Kostenfaktor wird. Bedeutsamer sind jedoch die wachsenden Kosten für juristische Verfahren, die in den Haushalten oft gar nicht vorgesehen waren. Sie können zu einem Nachtragshaushalt und zu Haushaltskürzungen in anderen Bereichen führen. Längst ist es deshalb mittlerweile üblich geworden, daß in einer verantwortungsvollen Haushaltsplanung ausreichende Kosten für mögliche Rechtsverfahren eingeplant werden.
Die Verrechtlichung zeigt sich auch und vor allem in einer Ausweitung der Inhalte und Themen, die innerhalb der Sportrechtsdebatte thematisiert werden. Waren es in den 50er Jahren noch vorrangig Fragen, die den Wettkampf in den Sportverbänden betroffen haben und dabei wiederum fast ausschließlich Fragen des Vereinswechsels, so können heute nahezu alle Fragen des Straf- und Zivilrechts und des internationalen Rechts zu sportrechtlichen Fragen werden.
Die Verrechtlichung des Sports zeigt sich auch in der Professionalisierung und Spezialisierung der juristischen Debatten über den Sport, wie sie in Fachzeit-schriften, Monographien und sonstigen Publikationen zum Ausdruck kommt. Juristische Beiträge zum und über den Sport haben Hochkonjunktur. Die Zahl der Dissertationen und Habilitationen, die sich mit Fragen des Sportrechts beschäftigen, wächst ständig und die öffentliche Berichterstattung über Sportrechtsfragen nimmt mittlerweile einen beträchtlichen Raum in der Presse, teilweise auch im Hörfunk und im Fernsehen ein.
Schließlich ist auch im Zuge des Verrechtlichungsprozesses des Sports eine institutionelle Vermehrung zu erkennen. In regelmäßigen Abständen finden Symposien zu Sportrechtsfragen statt, Arbeitskreise zum Sportrecht bilden sich, Juristen geben sich ähnlich wie Mediziner die Zusatzbezeichnung „Sportjurist“, und an Universitäten wird die Frage diskutiert, ob es eigene Bachelor- und Master-Studiengänge zu Fragen des Sportrechts geben sollte.
In den Organisationen des Sports sind die Resultate des Verrechtlichungsprozesses nunmehr allenthalben zu beobachten: Vertrag zwischen Verband und Athlet, Vertrag zwischen Verband und Trainer, Vertrag zwischen Sponsoren und Verband, zwischen Fernsehsendern und Verband, zwischen Athlet und Manager etc., Nominierungsrichtlinien, Regeln des Startrechts, Kaderaufnahmekriterien, Managerlizenzierungsverfahren und schließlich ein Dopingkontroll- und Ahndungssystem sind die weiteren Inhalte der Verrechtlichung. Sie alle resultieren aus regelungsbedürftigen Problemen und erzeugen neue Probleme durch ihre Regelung.
Der Prozess der Ausdifferenzierung, wie er auf diese Weise sichtbar gemacht werden kann, scheint unter funktionalen Gesichtspunkten unaufhaltsam zu sein. Im Zuge einer fortschreitenden Modernisierung unserer Gesellschaft scheint der Verrechtlichungsprozess naheliegend.
Der Begriff der „Verrechtlichung“ dürfte semantisch überwiegend negativ besetzt sein. Gleichwohl ist meines Erachtens keineswegs ausgemacht, daß ein Verrechtlichungsprozess einer Gesellschaft notwendigerweise zu deren Nachteil geraten muss. So, wie der fortschreitende Prozess der Individualisierung für die Menschen vielfältige Chancen eröffnet, so ist ein Prozess der Verrechtlichung immer auch als ein chancenreicher Prozess zu denken, als ein Prozess, in dem sich für die demokratische Kommunikation der Bürger neue Möglichkeiten eröffnen. Die eigentliche Frage, die sich dabei stellt, ist jene, ob der derzeit stattfindende Verrechtlichungsprozess diese demokratischen Kommunikationsmöglichkeiten eröffnet, ob sich die Beteiligten in den derzeit stattfindenden Rechtsdebatten an den Maximen eines demokratischen Diskurses orientieren, oder ob die stattfindenden Debatten durch Macht und Ohnmacht, durch asymmetrische Kommunikation und durch außerrechtliche Interessen geprägt sind. Aus soziologischer Sicht wäre bei einer Beurteilung dieses Prozesses neutrale Distanz angebracht. Ich möchte mir deshalb auch kein abschließendes Urteil erlauben, inwieweit der Verrechtlichungsprozess in unserer Gesellschaft, der ja nun für alle Lebensbereiche zu beobachten ist, möglicherweise positiver zu deuten ist, als dies dessen Kritiker wahrhaben wollen.
Wenn ich im Folgenden den Verrechtlichungsprozess im Bereich des Sports am Beispiel des Dopings rekapituliere, so wird von dieser möglichen positiven Interpretation freilich nur wenig zu erkennen sein. Meine Ausführungen sollten deshalb mit der nötigen Vorsicht betrachtet werden, zumal sie von persönlichen Erfahrungen geprägt sind. Sie sind aus der Betroffenheit vor dem Hintergrund eines konkreten Dopingfalles formuliert, sie beziehen sich ausschließlich auf Erfahrungen in der nationalen und internationalen Leichtathletik und sie bedürfen vor allem der argumentativen Gegenrede. Nur dann kann es zu einer diskursiven Lösung dieser Probleme kommen, was meines Erachtens zwingend erforderlich geworden ist.
3. Zur Bedeutung der Regeln im Sport
In meiner Kindheit und Jugend war das Handballspiel mein Sport. Schon früh habe ich mich dabei für die Regeln dieser Sportart interessiert. Ich spielte nicht nur in einer Handball-Bundesligamannschaft, sondern als Jugendlicher und Junior war ich auch als Schiedsrichter tätig. Ich habe auf diese Weise die Autorität eines „Richters“ im Sport kennengelernt. Ich habe über Zeitstrafen entschieden und damit Spielausgänge beeinflusst. Ich habe mit meinen Entscheidungen Verbandsgerichtsverfahren veranlasst, in denen Fälle meines Sports letztinstanzlich entschieden wurden. Später habe ich mich dann in einem langjährigen Forschungsvorhaben und in mehreren Publikationen mit der Frage der Sportregeln beschäftigt. Ich habe eine Regeltypologie in die soziologische Debatte und sozio-linguistische Debatte über den Sport eingeführt. Mir wurde dabei vor allem deutlich, dass der Sport ein von der Gesellschaft abgegrenzter Lebensbereich ist und sich durch eine besondere Gesellschaftsferne auszeichnet. Er ist eben genau das nicht, was immer behauptet wird, nämlich ein Spiegelbild der Gesellschaft. Er hat sich über sein Prinzip des Fair-Play und seine schriftlich niedergelegten Regeln vielmehr eine eigene Identität geschaffen, die ihn von allen anderen gesellschaftlichen Lebensbereichen unverwechselbar unterscheidet. Mir wurde auch sehr schnell klar, dass gerade diese Identität ständig gefährdet ist, und dass es für jene, die bereit sind, Verantwortung für das System des Sports zu übernehmen, darauf ankommen muss, dass man sich dieser Identität bewusst ist und alles tut, dass diese Identität des Sports gewahrt bleibt. Wird sie gefährdet oder durch eine neue Identität ersetzt, so verliert der Sport seinen Gehalt, er verliert seinen Sinn.
Der Sport, das war und ist auch heute noch meine Überzeugung, sollte dabei über die von ihm selbst gesetzten Regeln wachen, autonom und unbeeinflusst von außen. Der Sport selbst definiert, was als Tor zu gelten hat, wann etwas als Sieg oder als Niederlage zu bewerten ist, welche Strategien und Taktiken in einem Wettkampf erlaubt sind und welche als unerlaubt zu gelten haben. Tut er dies und will er dabei erfolgreich sein, so muß er auch über Sanktionen verfügen, wenn die konstitutiven Regeln und die Maximen des Sports nicht beachtet werden, wenn gegen sie versto-ßen wird oder wenn gar Betrug stattfindet. Der Sport muss deshalb bei entsprechen-den Verfehlungen Athleten suspendieren können, und er muss auch Sperren verhän-gen, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. Der Sport sollte über keine Geldstrafen verfügen, so war es meine Überzeugung, weil die Regeln des Sports nicht an der Frage ausgerichtet sind, ob jemand mit seinem Sporttreiben Geld verdient oder nicht. Die Regeln der Leichtathletik gelten für 850.000 Mitglieder des DLV und nicht nur für 10 Profi-Leichtathleten. Gleiches, dachte ich, muss auch für alle anderen Sportarten gelten.
„Reichlich naiv“, so lautet vermutlich jener Einwand, der sich nun bereits bei manchem juristischen Experten eingestellt hat. Doch lassen Sie mich in meiner naiven Darstellung noch etwas fortfahren. Die Väter unseres Grundgesetzes, so ist es für mich aus meiner juristischen Naivität heraus auch heute noch zu bewerten, haben Bemerkenswertes geleistet. Sie haben nicht nur der Privatheit des demokratischen Bürgers einen besonderen Schutz gewährt, sie haben auch an die Selbstregulierungskraft der aktiven Bürger einer Gesellschaft gedacht, und nicht zuletzt deshalb haben sie Vereinen und Verbänden Möglichkeiten zur Selbstregulation eröffnet. Meine naiven Gedanken zur Bedeutung der Sportregeln stehen deshalb nicht im Widerspruch zu den Ideen der Gründungsväter unserer Republik. Sie haben vielmehr kommunitaristische Qualität und sind heute schützenswerter denn je. Dabei muss es jedoch um eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen den freiwilligen Vereinigungen und dem Staat gehen, und es muss die Frage geprüft werden, wo die Grenzen sind, wie sich die Grenzen verändern und welche Kooperation zwischen Staat und freiwilligen Vereinigungen gerade unter juristischen Gesichtspunkten als wünschenswert und angebracht erscheint. Wie für alle Beziehungen muss auch für dieses Verhältnis gelten, dass es einem Wandel unterliegt, der oft unbewusst stattfindet und der von Prozessen und Phänomenen beeinflusst ist, die oft nicht erkannt und meist auch nicht gesteuert werden können.
4. Doping als juristisches Problem
Will man den Verrechtlichungsprozess am Beispiel des Dopings nachzeichnen, so ist zunächst die Frage zu klären, welche juristischen Fragen sich uns in Bezug auf das Phänomen des Dopingproblems stellen. Aus meiner Erfahrung heraus stellen sich uns dabei folgende wichtige Fragen:
- Wie wird das Betrugsdelikt Doping definiert?
- Wer entscheidet darüber, ob das Delikt des Betruges vorliegt?
- Wer entscheidet über die Sanktionen, die ein nachgewiesenes Delikt zur Folge haben soll?
- Welche Sanktionen werden bei welchem Delikt verhängt?
- Wie wird der Beschuldigte in das Dopingbetrugsverfahren eingebunden?
- Nach welchen Kriterien wird über die Frage von Schuld und Unschuld entschieden?
Die Definition des Dopingbetruges ist hinlänglich umstritten, wenngleich sie unter juristischen Gesichtspunkten an einem Punkt angelangt ist, von dem man feststellen kann, daß mit dieser Definition eine ausreichende Grundlage für eine juristische Bekämpfung des Dopingproblems gegeben ist. Dabei hat die folgende Definition derzeit Gültigkeit. Sie ist in dem Anti-Doping-Code der WADA festgelegt und spiegelt sich auch in den darauf aufbauenden Bestimmungen der internationalen Fachverbände, der Nationalen Olympischen Komitees und des Deutschen Sportbundes wider:
- Doping verstößt gegen die fundamentalen Prinzipien der Olympischen Idee, des Sports und der medizinischen Ethik.
- Doping ist das Vorhandensein einer verbotenen Substanz im Körper des Athleten oder der Nachweis, dass verbotene Substanzen oder verbotene Methoden benutzt worden sind.
- Die Liste der verbotenen Wirkstoffgruppen umfasst z.B. Stimulanzien, Narkotika, anabole Substanzen, Diuretika, Peptidhormone und Verbindungen, die chemisch, pharmakologisch oder von der angestrebten Wirkung her verwandt sind.
- Sportartspezifisch können weitere Substanzen und Wirkstoffgruppen, z.B. Alkohol, Sedativa, Psychopharmaka, Beta-Blocker unter den Doping-Substanzen aufgeführt werden.
An dieser Definition sind zwei Dinge bemerkenswert: Doping ist de facto definiert über eine offene Liste von Substanzen. Wenn Medikamente einer Wirkstoffgruppe oder direkt ausgewiesene Medikamente zur Anwendung kommen, die sich auf dieser Liste befinden, dann liegt ein Dopingbetrug vor. Gleichzeitig ist an dieser Definition bemerkenswert, dass das IOC sich einen juristischen Widerspruch erlaubt, der bis zum heutigen Tage nicht aufgelöst ist. Bei der IOC-Antidoping-Konferenz in Lausanne 1999 wurde vereinbart, dass Doping der Gebrauch von Hilfsmitteln, Substanzen oder Methoden sei, die gesundheitsschädlich und/oder leistungssteigernd sind. Wo die Grenze zwischen erlaubten leistungssteigernden und unerlaubten leistungssteigernden Methoden liegt, wurde jedoch nicht definiert.
Bezogen auf diese Definition sei ferner angemerkt, dass sie nach wie vor ganz wesentlich von medizinischen Gesichtspunkten geprägt ist, die jedoch bezogen auf das von mir vorgelegte Regelverständnis des Sports ohne jegliche Relevanz sind. Ja, es muss mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass die Gesundheitsfrage im Hochleistungssport nicht zur Disposition steht. Es kommt einer Heuchelei gleich, wenn öffentlich nach wie vor angenommen wird, dass der Hochleistungssport in irgendeinem direkten Zusammenhang mit einer Gesundheitsprävention stehen könne. Unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten macht es gewiss Sinn, den Erhalt der Gesundheit als ein Ziel unter anderen zu verstehen, um das es im Kampf gegen Doping zu gehen hat. Für einen sinnvollen, juristisch tragfähigen Kampf gegen Doping ist diese Maxime allerdings kaum sinnvoll. Wer Hochleistungssportler in ihrem Training beobachtet, sie bei ihren Wettkämpfen begleitet, wer ihre gesundheitlichen Gefährdungen erlebt, wer insbesondere den hohen medizinischen Aufwand mitberücksichtigt, der heute zur Erbringung sportlicher Höchstleistungen unverzichtbar geworden ist, der weiß, dass es im Hochleistungssport lediglich darum gehen kann, Verletzungen zu verhindern und Verletzungen möglichst schnell zu kurieren, damit die Athleten sich erneut im chancengerechten Wettkampf mit anderen messen können. Der Hochleistungssport hat wohl kaum präventive gesundheitliche Wirkungen, und er dient schon gar nicht dem Erhalt der Volks-gesundheit. Wer heute Hochleistungssport betreibt, nimmt die Gefährdung seines Körpers billigend in Kauf. Er muss mit der Wahrscheinlichkeit mittel- und langfristiger Schäden rechnen, und die Längsschnittstudien über gesundheitliche Beeinträchti-gungen durch den Hochleistungssport sprechen ihre eigene Sprache.
5. Zur Verrechtlichung des Anti-Doping-Kampfes
Kann der hier vorgelegten Dopingdefinition zugestimmt werden, so ist es mir nun möglich, den Prozess der Verrechtlichung des Anti-Doping-Kampfes etappenweise nachzuzeichnen. Ich werde mich bei meiner Beschreibung des Prozesses der Ver-rechtlichung auf Erfahrungen und Beobachtungen beschränken, wie ich sie u. a. in meiner Eigenschaft als Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes habe machen müssen.
Ich erinnere mich dabei zunächst an die naive und für mich durchaus nachvollziehbare Ausgangsposition, wie sie auch heute noch in vielen Ländern der Welt zu beobachten ist. Die Rechtsposition, die über diese Ausgangssituation zum Ausdruck kommt, ist jedoch keineswegs so naiv und lächerlich, wie man sie möglicherweise aus juristischer Sicht bezeichnen mag. Doping, so lautete die Ausgangsposition, ist ein Verbrechen am Sport und an einer bestimmten Sportart und muss deshalb entschieden bekämpft werden. Wer des Dopings überführt wird, hat die Idee des Fair-Play mit Füßen getreten, er hat seine Gegner betrogen und er hat damit der Idee, der pädagogischen Qualität, dem kulturellen Wert einer Sportart größten Schaden zugefügt. Liegt eine positive Dopingprobe vor, so ist der Athlet deshalb lebenslänglich zu sperren.
Diese naive Position wurde Schritt für Schritt von Juristen in Frage gestellt. Juristen brachten vielfältige Empfehlungen, Ergänzungen und Neufassungen zur Regeländerung ein, wobei der Begriff „Jurist“ für einzelne Personen, juristische Institutionen und juristische Expertengruppen stellvertretend stehen kann. In chronologischer Reihenfolge lassen sich für mich aus der Sicht von heute die juristischen Interventionen in Bezug auf sechs verschiedene Sachverhalte des Anti-Dopingkampfes rekonstruieren:
Es kann zunächst eine Entwicklung nachgezeichnet werden, die sich auf die Dauer von Sperren bezieht. Wurden zunächst lebenslängliche Sperren als angemessene juristische Maßnahme bei einem Dopingvergehen angesehen, so trat an deren Stelle die Vierjahressperre bei einem ersten Dopingdelikt. Im Anschluss daran wurde von Juristenseite die Sperre von mindestens zwei Jahren gefordert, da Teile der Leichtathletik professionellen Charakter hätten, lebenslängliche Berufsverbote juristisch keine Tragbarkeit besäßen und lediglich eine zweijährige Sperre vor ordentlichen Gerichten durchsetzbar wäre. Andere Juristen plädierten in diesem Zusammenhang hingegen für eine Sperre, die höchstens zwei Jahre betragen könnte. Flexible Sperren in Abhängigkeit vom Grad des Verschuldens und dem gezeigten Maß an Aufklärungsbereitschaft wurden ferner in die Debatte über die Dauer von Sperren eingebracht, wobei man darauf hinweisen muss, dass schon sehr früh eine Unterscheidung vorgenommen wurde zwischen Stimulantien, die lediglich mit einer Verwarnung bzw. mit einer sechsmonatigen Sperre geahndet wurden, und einer längeren Sperre bei einem Anabolikaverstoß. Jüngst wurde noch die juristische Forderung nach unterschiedlichen Sperren in Abhängigkeit von Lebensalter und beruflicher Einbindung in das System des Sports erhoben.
Zum zweiten wurden viele Debatten über die Durchsetzbarkeit von Anti-Doping-Regeln geführt und wie auf diese Weise auch Strafen gegenüber Athleten durchzusetzen wären. So wurde angeregt, die Doping-Regeln in den Satzungen des Verbandes zu verankern. Einige der Juristen plädierten darüber hinaus für deren Aufnahme in die Satzungen der Landesverbände und der Vereine. Eine weitere Möglichkeit, die Anti-Doping-Bestimmungen durchzusetzen, wurde in einem Athletenvertrag mit einer Schiedsgerichtsklausel oder in einem Athletenvertrag mit der Option zugunsten eines ordentlichen Gerichts gesehen.
Drittens lassen sich eine ganze Reihe von Interventionen beobachten, die sich auf das angemessene Rechtsverfahren beziehen, das durch einen positiven Dopingbefund ausgelöst werden soll. So wurde einerseits die juristische Auffassung vertreten, daß bei der Feststellung eines positiven Dopingbefundes durch ein Labor dieser dem Verband mitgeteilt wird und der Verband daraufhin den Athleten sofort zu suspendieren habe. Andererseits waren einige der Juristen der Ansicht, dass vor einer Suspendierung des Athleten zunächst eine sogenannte „Explanation“ des Athleten durchgeführt werden müsste. Ist diese unzureichend, was sie in der Regel ist, so ist der Athlet sofort zu suspendieren. Weitere juristische Stimmen plädierten dafür, daß – sollte dies der Athlet wünschen – eine Suspendierung erst nach der Öffnung der (positiven) B-Probe erfolgen kann; andere sahen die Entscheidung eines Schiedsgerichts als angemessenes Rechtsverfahren vor der Suspendierung. Letztendlich wird in Juristenkreisen darüber diskutiert, ob die Suspendierung, und damit eine Sperre, erst nach einer Ausschöpfung aller Instanzen erfolgen kann.
Viertens zeigt die Frage nach der Vertraulichkeit bei Dopingverfahren eine inter-essante Entwicklung auf. Drei unterschiedliche juristische Auffassungen stehen sich hierbei gegenüber. So fordern die einen Juristen, dass der saubere Athlet zu schützen ist. Deshalb muss er vor tatsächlichen, aber auch vor potentiellen Betrügern geschützt werden. Der Name des suspendierten Athleten muss deshalb sofort im Verbandsorgan öffentlich mitgeteilt werden. Andere Juristen sehen ebenfalls eine Suspendierung des Athleten vor, dessen Name aber nicht öffentlich mitgeteilt wird. Über das Fernbleiben von Wettkämpfen kann jedoch auf einen möglichen Dopingbetrug des Athleten geschlossen werden (dem Athleten wird dabei eine Lüge nahegelegt, so wie es im Fall des amerikanischen Kugelstoßers C.J. Hunter der Fall war). Die dritte juristische Auffassung sieht vor, dass das gesamte Verfahren unter Berücksichtigung eines Vertrauensschutzes stattzufinden hat. Erst wenn es zu einer Entscheidung kommt, darf der Name des Athleten veröffentlicht werden. Ab dieser Entscheidung beginnt dann die Sperre.
Am spannendsten ist bislang die Diskussion über den angemessenen Schuldnachweis verlaufen. So sind die einen Juristen der Meinung, dass alleinig die positive Probe zählt. Der Athlet hat alles zu verantworten, was in seinem Körper anzutreffen ist. Es gilt das Prinzip der „Strict Liability“. Einige juristische Experten haben die Verbände darauf hingewiesen, dass dieses Prinzip unverzichtbar ist, will man den Kampf gegen Doping erfolgreich führen. Sie nehmen dabei in Kauf, dass den Athleten dabei so gut wie keine Möglichkeit gegeben ist, seinem Verband gegenüber seine eigene Unschuld zu beweisen. Prüft man die Frage nach der Logik der Beweismittel, so ist zu erkennen, dass es so gut wie keinen Fall gibt, in dem es dem Athleten gelingen könnte, seine Unschuld gegenüber einer positiv festgestellten Probe zu beweisen. Andere Juristen vertreten wiederum die Auffassung, dass vor einer Entscheidung über eine Sperre nach der Suspendierung ein Quasi-Gerichtsverfahren (Hearing) stattfindet, in dem die beteiligten Parteien ihre Positionen gegenüber einem Schiedsgericht vortragen können. Es gilt der Rechtsgrundsatz der „Strict Liability“. Lediglich eindeutige Verfahrensfehler auf Seiten der Labors können zu einer Niederschlagung des Verfahrens führen. Eine dritte Gruppe von Juristen ist der Ansicht, dass eine Beweisführung nach Sphären erfolgen sollte. Neben einer Sphäre, die der Athlet zu verantworten hat, gibt es demnach eine Sphäre, die der Verband zu verantworten hat. Gelingt es dem Athleten, den Anscheinsbeweis (positive Probe) zu erschüttern, so ist es die Aufgabe des Verbandes, die Schuld des Athleten zu beweisen. Darüber hinaus wird auch gefordert, die Frage nach den „reasonable doubts“ zu stellen. Dies bedeutet, daß vor der endgültigen Entscheidung über Schuld und Unschuld zu prüfen ist, ob es vernünftige Zweifel gibt, die gegen eine Schuld des Athleten sprechen. Liegen solche vor, so ist zugunsten des Athleten zu entscheiden.
Sportpolitisch bedeutsam ist schließlich ferner die Diskussion über die Frage der angemessenen Regelinstanzen. Hier wurden seitens der Juristen sowohl der Rechtsausschuss des Verbandes als auch Schiedsgerichte der Verbände, ein echtes Schiedsgericht auf nationaler Ebene, ein echtes Schiedsgericht auf internationaler Ebene, die World Anti-Doping Agency (WADA) sowie die Nationale Anti-Doping Agentur (NADA) in die Diskussion eingebracht. Es wird dabei die Frage gestellt, wie man die Verbände entlasten und die Verbandsgerichtsverfahren, die sich in vieler Hinsicht durch Überforderung auszeichnen, durch professionellere juristische Strukturen ablösen kann.
Meine Beobachtungen zu den Verrechtlichtungsprozessen im Bereich der Leichtathletik könnten noch fortgeführt werden. Für das, was ich hier zum Ausdruck bringen möchte, können sie jedoch genügen. All diese Interventionen, die ich eben beschrieben habe, waren von juristischen Ideen und Gedanken geprägt. Beteiligt haben sich dabei einerseits Institutionen, wobei vor allem Gerichte hervorzuheben sind, die mit ihren Urteilen zumindest aus Laiensicht so etwas wie einen Rechts-standpunkt auf Zeit festgeschrieben haben. Daneben beteiligten sich juristische Vereinigungen und Arbeitskreise, die mit entsprechenden Verlautbarungen in die juristische Diskussion über die Sportregeln eingreifen. Interessant sind aber vor allem Einzelwortmeldungen von Juristen, wobei es offensichtlich Wortmeldungen gibt, die gleichsam „Gesetzeskraft“ aufweisen. Sie alle haben mit ihren Ideen und ihren Vorschlägen das System des Sports beeinflusst. Diese Ideen lassen aber keine Koordination erkennen. Dieser „Ideenwettbewerb“, der in den vergangenen Jahren stattgefunden hat, führte nicht zu einer geschlossenen juristischen Konzeption, sondern er ist geprägt von Versuch und Irrtum. Die Verbände sind dabei auf Gedeih und Verderb auf die Ideengeber in ihren Reihen angewiesen, die juristische Kompetenz beanspruchen. Und es ist naheliegend, dass diese Ideengeber oft widersprüchliche Auffassungen vertreten. Einige Ideen setzen sich durch, andere werden abgelehnt. Die durchgesetzten Ideen verändern jedoch das System des Sports. Sie führen zu einer Komplexitätssteigerung der rechtlichen Grundlagen des Kampfes gegen Doping, die sich durch die bereits erfolgten staatlichen Eingriffe in die Verfolgung des Dopingbetruges noch erheblich erweitert hat Diese Komplexitätssteigerung lässt sich heute handfest nachvollziehen. Aus einem Regeltext von weniger als einer halben Seite sind mittlerweile 150 Seiten geworden, ergänzt durch vielfältige staatliche Gesetzestexte. Aus wenigen einfachen Bestimmungen wurden umfangreiche Bestimmungen, die für niemand mehr überschaubar sind, die von der Öffentlichkeit nicht mehr verstanden werden, aber auch von den Beteiligten nicht mehr umgesetzt werden können. Dies gilt für die betroffenen Athleten gleichermaßen wie für die verantwortlichen Funktionäre. Aus einfachen Regeln wurde ein Regel-Wirrwarr. Ein Regelmuster, das von Laien noch zu verantworten war, wurde zu einem Regelkomplex, das selbst für jene nicht mehr zu verantworten ist, die sich durch juristische Kompetenz auszeichnen. Das System des Rechts hat sich schleichend des Sportsystems bemächtigt. Es hat dabei keineswegs geschlossen als System gehandelt, sondern über Einzelinterventionen den Sport „einverleibt“.
Die Verrechtlichung des Sports wird nicht vom monopolisierten Recht des Staates getragen. Vielmehr kommt ein dezentralisiertes und mikrologisiertes Recht zum Tragen, und es werden dabei eine Vielzahl neuer juridischer Formen gebildet. Man könnte deshalb in Anlehnung an Cornelia Vießmann von einem Prozess der Tribunalisierung des Sports bzw. Advokatisierung der Rechtskultur sprechen, die den Sport erheblich tangiert. Der juristische Diskurs strukturiert nicht nur die Kommunikation im Gerichtssaal, sondern ganz wesentlich sehr verschiedenartige Diskurse außerhalb der staatlichen Gerichte. Es kommt zu einem Verbund von Justiz und Medienmaschinerie. Einzelne Juristen fühlen sich dabei berufen, eine massenmediale Urteilsschelte voranzutreiben. Das Internet wird zur Präsentationsplattform für Juristen, die offensichtlich etwas größer sein wollen, als sie in Wirklichkeit sind. Die Zuschauer bzw. die Leser der Presseorgane werden zunehmend in die Rolle einer Dauerjury im öffentlichen Prozeß gedrängt. Am Beispiel des Falles Baumann läßt sich zeigen, wie öffentlich ein Quasi-Gericht oder Quasi-Tribunal durchgeführt wird. Das Recht tritt generell in diesem Verrechtlichungsprozess als der große Bruder auf, der vorgibt, seinen kleinen Schwestern, der Moral, der Ethik oder dem politischen Denken an die Hand zu gehen. Er tritt dabei auf mit der Autorität der Justiz, die sich diese historisch erworben hat. Auffällig ist dabei, daß bei der derzeit stattfindenden „Rechtsexplosion“ der Staat sich zurückzieht aus seiner vornehmsten Aufgabe, Recht zu setzen. In der Doping-Debatte wird dies dadurch deutlich, daß das Bundesjustizministerium beispielsweise sich bis heute an der Debatte so gut wie nicht beteiligt hat.
Dabei kommen erhebliche Eigeninteressen zum Tragen. Sport wurde zum juristischen Profilierungsfeld, aber er wurde auch zu einer ökonomischen Einnahmequelle für Juristen sowie er auch für andere Beteiligten zum „Big Business“ wurde. Neue Strukturen wurden hinzugefügt, nicht um der Sache Willen, sondern weil es den Eigeninteressen nützt. Und manche dieser Strukturen können auch deshalb nicht mehr beseitigt werden, weil jene, die sie beseitigen müßten, sich selbst beseitigen würden. Dies gilt z.B. für die Abschaffung der Integrity Unit von World Athletics ebenso wie für die Abschaffung aller Zwischeninstanzen, die heute zwischen einer Verbandsebene und einer letztinstanzlichen Ebene des IOC bzw. von WADA und WA zu erkennen sind. Rechtsberatung in den Verbänden ist nicht zuletzt auch kommerziell orientierte Beratung. Was hat schon ein World Athletics-Anwalt für ein Interesse, daß seine Rolle überflüssig wird, wenn er ein Beratungshonorar von US $ 500 und mehr in der Stunde erhält und dabei An- und Abfahrt ebenso berechnet wie die verschiedenen Sitzungsstunden, die er gemeinsam mit ehrenamtlichen Gremien in der Weltleichtathletik verbracht hat.
Betrachtet man noch einmal das von mir hier vorgelegte Beispiel, so sind Sorgen angebracht. Die Verrechtlichung der Dopingdebatte im System des Sports ist viel zu oft durch Machtverhältnisse und rechtsunspezifische Interessen geprägt. Karriereinteressen, ökonomische Interessen, parteipolitische Interessen, Profilierungswünsche einzelner juristischer Repräsentanten prägen nicht selten die Debatte.
- Da werden alltagstheoretische Vorstellungen von Moral und Gerechtigkeit in dieser Debatte mit Füßen getreten. Aus der Sicht eines Laien ist es mehr als bedenklich, wenn Sport-Juristen mit dem Satz zitiert werden: „Es geht in diesen Fragen nicht um Gerechtigkeit, sondern um Recht“. Was immer damit gemeint sein soll, eine Ethik des Sports und des Hochleistungssports kommt nicht umhin, sich der Frage der Gerechtigkeit zu stellen. Und ein verantwortungsvoller Kampf gegen Doping hat sich dieser grundlegenden Frage unterzuordnen.
- Da gibt es unter juristischen Gesichtspunkten lediglich Dopingdelikte, die ausschließlich von den Athleten zu verantworten sind. Deshalb sind sie auch die einzige Gruppe im System des Sports, die mit Strafen sanktioniert werden. Trainer, Physiotherapeuten, Sportärzte und Funktionäre gingen bislang in fast allen mir bekannten Fällen straffrei aus. Obgleich es offensichtlich ist, dass Doping ohne naturwissenschaftliche Informationssysteme und ohne Expertenbeteiligung in jenem Ausmaß nicht möglich ist, wie es heute weltweit als Problem des Hochleistungssports zu beklagen ist.
- Da werden jährlich Anabolikaeinheiten in Millionen Höhe nach Deutschland eingeschmuggelt und die ertappten Dealer werden bei einem Erstvergehen lediglich mit einer Geldstraße von DM 2000,- bestraft.
- Da wird über Dopingfälle der Leichtathletik in Hofherrenart entschieden. Die einen werden, weil sie prominent und deshalb sympathisch sind, begnadigt, gegen andere wird das Prinzip „Law and Order“ überstrapaziert.
- Da führen zwei Tageszeitungen aus Anlass eines prominenten Dopingfalls einen journalistischen Ersatzkrieg auf dem Rücken eines konkret Betroffenen aus, ohne dass eine medienethische Diskussion auch nur wahrscheinlich sein könnte.
- Da führt ein Verbandsarzt, der es ehrlich und aufrichtig mit seinem Kampf gegen Doping meint, einen Michael-Kohlhaas-Kampf gegen seine eigene Standesorganisation, nachdem er den Nachweis erbrachte, daß ein professoraler Kollege sein hippokratisches Gelöbnis ganz offensichtlich missachtet hat. Briefe bleiben unbeantwortet, das Aussitzen des Problems wird mit lapidaren Begründungen gerechtfertigt und die Standesethik wird offensichtlich mit Kadersolidarität verwechselt.
- Da kommt die in Deutschland übliche Beziehungskultur und Vetternwirtschaft zum Tragen, wenn einige Rechtsexperten des Sports sich offensichtlich nicht mehr auf das eigene Argument stützen können und höchstrichterlichen Beistand erbitten. So kommt es zu den erbetenen Wortmeldungen eines Richters des Bundesverfassungsgerichts zum richtigen Zeitpunkt, und es muss nicht überraschen, dass sich andere Juristen vielleicht nicht nur um der Sache Willen daraufhin ebenfalls an der Diskussion beteiligen. Juristische Seilschaften spielen immer häufiger eine Rolle, die auf ein Netzwerk der Macht verweisen, so wie sie auch im politischen System längst üblich geworden sind.
Gewiss gibt es auch diskursive Erörterungen zu Fragen des Sportrechts, die im wahrsten Sinne des Wortes das Qualitätsmerkmal „diskursiv“ verdienen. Doch die hier angeführten Beispiele machen deutlich, dass der juristische Dialog durch Macht- und Eigeninteressen einiger Beteiligter ständig gefährdet ist. Die Beispiele machen vor allem auch deutlich, dass eine Laienorganisation mit Blick auf juristische Fragen, so wie sie die Organisation des Sports darstellen, in hohem Maße gefährlichen Interventionen ausgeliefert ist, die die Beteiligten in ihrer Wirkung und Reichweite nicht beurteilen können. Nicht zuletzt deshalb ist es angebracht, die Frage nach der juristischen Verantwortung unserer Gesellschaft gegenüber dem System des Sports öffentlich zu stellen. Der von mir aufgezeigte Verrechtlichungsprozess gefährdet für den Bereich des Sports dessen eigene Regelkompetenz. Die sportlichen Regeln haben gerade wegen ihres nichtgesetzlichen Charakters eine unvergleichliche autonome Stellung erreichen können. Heute werden die sportlichen Regeln zunehmend vom Gesetzesrecht überformt. Sie verlieren ihre spezifische Differenz gegenüber den Gesetzen und gleichen sich ihnen immer mehr an. Auf diese Weise beherrscht das Recht immer weitere Domänen im Bereich des Systems des Sports.
Das eigentliche Problem und damit auch die eigentliche Gefahr ist darin zu sehen, daß auf diese Weise jenes, für das der Sport zuständig ist, zunehmend an den Rand gedrängt wird. Das Proprium des Sports ist jedoch seine eigenständige Sportmoral und es wäre wünschenswert, wenn der systematische Unterschied zwischen Recht und Moral in angemessener Weise berücksichtigt wird. Dabei muß begriffen werden, daß der Sport in erster Linie für die Moral und nicht für das Recht zuständig ist. Das Recht sollte ihm einen Rahmen geben sowie Möglichkeiten und Grenzen markieren. Die rechtliche Behandlung des Dopings ist somit nicht mit der moralischen identisch.
6. Ausblick
Sucht man Abhilfe, so stellen sich uns in erster Linie standesethische Fragen. Diese Fragen hängen wiederum mit der Frage nach der juristischen Kompetenz zusammen. Als Außenstehender steht mir keine abschließende Bewertung der juristischen Ausbildung in Deutschland zu. So viel scheint mir jedoch sicher zu sein: Die Zuwendung von Juristen zum System des Sports findet in der Regel höchst zufällig statt. Vielen Juristen ist das komplexe Phänomen des Sports nicht vertraut. Der Sachverhalt der Versportlichung unserer Gesellschaft, so wie er in den vergangenen Jahrzehnten zu beobachten war, wurde vom Ausbildungssystem der Juristen so gut wie nicht erfaßt und die eher zufällige Beschäftigung mit Fragen des Sports kann sich allein deshalb nur durch semiprofessionelle Qualität auszeichnen. Moralische Defizite lassen sich weder durch Appelle noch durch Weiterbildungsmaßnahmen ausgleichen. Die Übernahme einer ethisch fundierten, individuellen Verantwortung kann wohl kaum durch Belehrung oder durch bloße Wissensvermittlung erreicht werden. Kurzfristige Verbesserungen sind deshalb höchst unwahrscheinlich.
Um so wichtiger ist es jedoch, dass man mittel- und langfristig die Weichen in die richtige Richtung stellt. Dazu gehört, dass die Frage der Verrechtlichung des Sports selbst zu einer Vermittlungsfrage wird, dass Rechtsfragen des Sports sich in ihrer Beantwortung sowohl durch juristische als auch durch sportfachliche Kompetenz auszeichnen und dass für beides Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten offeriert werden. Hier kann Grundlegendes getan werden. Die Universitäten mit ihren juristischen Fakultäten müssen diesbezüglich ebenso in die Pflicht genommen werden wie die Justizministerien und jene Eliten, die für das System des Sports in unserer Gesellschaft verantwortlich zeichnen. Dazu gehören vorrangig die Sportorganisationen mit ihren Führungsgremien selbst. Doch sind auch die verantwortlichen Sportpolitiker ebenso wie die Repräsentanten der deutschen Wirtschaft und der deutschen Mas-senmedien in diese Pflichtaufgabe einzubinden. Kommt es zu einer gemeinsamen Bearbeitung der Rechtsfragen des Sports, so ist der Prozess der Verrechtlichung des Systems des Sports nicht notwendigerweise eine Gefahr, er könnte zu einer Chance für die positive Zukunftsentwicklung des Sports, aber auch des Rechts werden.
¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.
Letzte Bearbeitung: 13.01.2023
Themenzuordnung: Sportentwicklung, Doping