Wie der Sport sich selbst und andere betrügt

Der Sport, insbesondere der Hochleistungssport, so wie er sich uns heute darstellt, ist vor allem ein Kommunikationsanlass, in dem über Probleme nahezu folgenlos kommuniziert wird. Sport wird dabei Kommunikation um ihrer selbst willen. Es wird sehr wohl mit dem Sport viel Geld verdient, und machtvolle Interessen können dabei eingebracht werden. Es gibt auch eine ganze Menge Profiteure. Die Zeche hat dabei allerdings immer der Steuerzahler zu bezahlen. In jüngster Zeit hatte das folgenlose Kommunikationsspiel einmal mehr Hochsaison. Allgemeine Empörung über den umfassenden Dopingbetrug in einigen Wintersportdisziplinen stand auf der Tagesordnung.

Teilweise wurde dabei durchaus neues Wissen über den Dopingbetrug offengelegt. Doch dieses neue Wissen steigerte nur die Empörung. Die Frage ist jedoch, welches praktische Handeln durch dieses neue Wissen ausgelöst wird. Dabei zeigt sich die besondere Qualität dieser Kommunikation. Denn es ist zu vermuten, dass die Jahre 2018 und 2019 so folgenlos bleiben wie alle vorausgegangenen mit ihren skandalösen Ereignissen, die man zuvor in ähnlicher Weise als wichtig empfunden hatte.

1976 hatten wir den ersten Dopingskandal, verursacht durch deutsche Athleten bei den Olympischen Spielen in Montreal. Intensive Untersuchungen wurden eingeleitet, engagierte Diskussionen bei den Bundestagen des DSB geführt und richtungsweisende Positionspapiere wurden verabschiedet. Doch dies alles erwies sich letztlich als folgenlos. Die Skandale der Tour de France trafen uns weiterhin in regelmäßigen Abständen, ohne dass man die notwendigen Veränderungen eingeleitet hätte. Der Fall Ben Johnson, der ja auch ein Fall Carl Lewis ist, wurde bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Die Fälle Krabbe, Breuer, Mühlegg, Baumann und Ulrich könnten beispielhaft genannt werden. Auch sie hatten den Charakter des Spektakulären, und dennoch ging man immer wieder sofort zur Tagesordnung über.

Wie ist dies zu erklären? Im modernen Hochleistungssport treffen viele Interessen zusammen. Politik, Wirtschaft, Massenmedien sind ebenso an den Leistungen der Spitzenathleten interessiert, wie die Sportverbände, deren Funktionäre und die internationalen Sportorganisationen, die sich nicht zuletzt über die Leistungen ihrer Athleten finanzieren. Betrachtet man diese Interessensgruppen, so muss man erkennen, dass sie mit einer Strategie des Reagierens, des Vertagens, des Aufschiebens, des Nichtbehandelns, des Vertuschens und Verschweigens in den vergangenen Jahrzehnten gut gefahren sind. Jedem Dopingskandal folgte eine Periode des Vergessens und der Vergesslichkeit. Man konnte und kann ziemlich sicher sein, dass auch die wenigen kritischen Begleiter aus dem Bereich der Massenmedien das Thema Doping immer nur für einen begrenzten Zeitraum thematisieren dürfen, denn die Massenmedien sind dem „Gesetz der Übersättigung“ unterworfen. Sensationen, Skandale, „Events“ und Spektakel sind konstitutiv für die massenmediale Kommunikation, und auch für das Thema Doping gilt der Satz, dass es keine ältere Nachricht gibt, als jene von vorgestern. Die Logik dieser Art von Kommunikation legt es nahe, dass man immer wieder in jeder Phase des Vergessens bereits auf den nächsten Skandal warten kann.

In Bezug auf das Dopingproblem müssen wir dabei eingestehen, dass wir uns diesem Problem gegenüber äußerst hilflos verhalten. Diejenigen, die dem Sport das Problem eingebrockt haben – die Pharmakologen, die Mediziner und naturwissenschaftlichen Experten, die sich zum Teil sogar durch kriminelle Einstellungen auszeichnen – sie können und wollen ganz offensichtlich keinen Beitrag zur Lösung des Problems erbringen. Allen übrigen Wissenschaften wurde bislang so gut wie keine Möglichkeit eröffnet, fundierte Beiträge zur Lösung des Problems zu leisten, teilweise haben sie es auch selbst nicht gewollt. Der organisierte Sport ist aus sich selbst heraus ebenfalls hilflos. Aber er zeigt auch nicht, dass er geschlossen und engagiert einen Anti-Doping-Kampf führen möchte. Und die Politik ist bereit, der Vertagungsstrategie zu folgen. Dies gilt auch dann, wenn in jüngster Zeit auf Seiten der Politik einige Verbesserungen eingetreten sind. Zu nennen sind dabei die Versuche des Parlaments, zu einer weiterführenden gesetzlichen Grundlage im Anti-Doping-Kampf zu kommen. Allerdings ist diese gesetzliche Grundlage nach wie vor unzureichend. Entscheidender ist jedoch, dass bislang nur höchstselten zu erkennen ist, dass es zur Anwendung des Gesetzes in der Praxis kommt und auch nicht, dass die notwendigen Strukturen geschaffen werden, die es möglich machen, dass das Gesetz sich nicht als „totes“, sondern als aktives Gesetz erweisen kann.

Wer ernsthaft bemüht ist, dies zu verhindern, der müsste es möglich machen, dass polizeilich ermittelt wird, wo immer ein Anfangsverdacht besteht. Dieser Anfangsverdacht ist bezogen auf das System des Hochleistungssports umfassend, und insofern besteht schon seit vielen Jahren die Notwendigkeit zur polizeilichen Ermittlung. Dass hierzu auch kompetente Staatsanwaltschaften gehören, ist naheliegend. Angesichts der geringen Sachkenntnis in Bezug auf das Phänomen des Dopingbetruges darf es aber nicht verwundern, dass es heute in Deutschland kaum mehr als zwei Staatsanwaltschaften gibt, die sich diesbezüglich als besonders kompetent ausweisen. Ohne kompetente Staatsanwaltschaften und ohne polizeiliche Ermittlungen werden sich die beschränkten Maßnahmen des organisierten Sports auch weiterhin als wirkungslos erweisen. Das wiederum heißt, dass die Betrüger innerhalb des Sportsystems kaum gefährdet sind.

Dies wird noch dadurch verstärkt, dass nach wie vor einflussreiche Funktionäre der Sportorganisationen vor einer angeblichen „Kriminalisierung“ der Athleten warnen, ohne zu erkennen, dass damit nur die Betrüger geschützt werden. Denn mit der Behauptung, dass durch ein Anti-Doping-Gesetz der Sport „kriminalisiert“ würde, werden die Sachverhalte auf den Kopf gestellt. Kriminalisiert werden kann nur jener, der betrügt. Saubere Athleten können nicht kriminalisiert werden, sie werden durch die Kriminalisierung der Betrüger geschützt. Insofern kann es für den Sport gar keine Alternative geben, als dass er selbst die Betrüger kriminalisiert und sich vor seine sauberen Athleten stellt.

An diesem Beispiel wird jedoch sichtbar, dass auch der Sport nur ein Interesse an der Kommunikation um der Kommunikation willen hat. Rückhaltlose Aufklärung und eine durchgreifende Lösung des Problems scheinen gar nicht gewollt zu sein. Vielmehr findet der Anti-Doping-Kampf vorrangig auf einer massenmedialen Showbühne statt.

Für immer mehr Juristen ist der Anti-Doping-Kampf eine Profilierungsmöglichkeit geworden; die notwendige Kärrnerarbeit wird jedoch vernachlässigt. Es gibt bereits Medienstars des Anti-Doping-Kampfes, die von Studioauftritt zu Studioauftritt eilen.

Im Rahmen einer derartigen Kommunikationsstrategie ist es möglicherweise auch folgerichtig, dass derselbe organisierte Sport das neue Anti-Doping-Gesetz als Erfolg bezeichnet, das er zuvor noch abgelehnt hat. Die Dachorganisationen des Sports haben auf diese Weise eine Meisterschaft in der folgenlosen Kommunikation erlangt. Was man gestern noch abgelehnt hat, macht man heute zur eigenen Sache, ja man definiert sich geradezu selbst als der eigentliche Ideengeber, und alles, was zuvor war, wird ad acta gelegt. Das jüngste Beispiel hierzu ist die Forderung nach einer Kronzeugenregelung. Auf diese Weise kann sich die neue Führung des deutschen Sports als innovativ und damit in diesem Kommunikationsspiel als besonderer Akteur darstellen. Hätte diese Führung ein historisches Bewusstsein, dann würde sie nachfragen, was zu früheren Zeitpunkten von früheren Präsidien geleistet wurde. Es wäre wohl zu erkennen, dass fast schon alles einmal versucht, sogar teilweise besser erledigt wurde und dass das Rad keineswegs neu zu erfinden ist. Solche Erkenntnisse stehen jedoch dem Wunsch, sich kreativ, jung und dynamisch im Kommunikationsspiel darzustellen, entgegen. Deshalb lassen die jeweils neu gewählten Führungen der deutschen Sportorganisationen auch keinen Anlass aus, um darauf hinzuweisen, dass sie genötigt seien, alles neu zu beginnen, weil sie ein Haus vorgefunden haben, das angeblich nicht in Ordnung gewesen sei.

Die Strategie des Vergessens und des Vertagens war für die Beteiligten äußerst erfolgreich. Wird dies auch in der Zukunft der Fall sein? In Bezug auf diese Frage sind Zweifel angebracht. Dabei gibt es vor allem zwei Gründe, warum dieser Weg, den der Sport eingeschlagen hat, gefährlich sein kann:

Der erste hat damit zu tun, dass die Vertagungsstrategie des Sports keineswegs billig ist, sie erzeugt vielmehr erhebliche Kosten. Soll die Vertagungsstrategie im Anti-Doping-Kampf gelingen, so muss man die Öffentlichkeit in Dämmerschlaf versetzen. Sie benötigt Beruhigungstabletten. Im Anti-Doping-Kampf leistet dies das Kontrollsystem. Der Tour-de-France-Skandal hat vor allem dazu geführt, dass das Kontrollsystem ausgebaut wurde. Die Zahl der Kontrollen wurde erhöht, bei der Qualität der Kontrollen ist man bemüht, sie nun endlich jenen Gütemaßstäben anzugleichen, die man international als Standard definiert hat. Das Personal der NADA wurde verdreifacht, mehrere Millionen Euro werden nun jährlich mehr aufgewendet, um ein aufwendiges Kontrollsystem im Gang zu halten.

Dabei wissen alle, die auch nur über ein Minimum an Erfahrung und Wissen über den Dopingbetrug verfügen, dass der professionelle Betrug längst eine Qualität und ein Ausmaß erreicht hat, das mit dem Kontrollsystem nicht erfasst werden kann. Balco, Springstein, Fuentes, Jones und jüngst die Operation Aderlass mit den Akteuren Schmidt und Dürr sind Namen für Skandale, die sich alle dadurch auszeichnen, dass die Dokumente, die in Bezug auf diese Skandale existieren, offenlegen, dass ein Netzwerk von Athleten, Ärzten, Pharmakologen, kriminellen Dealern, Managern und Funktionären in der Lage ist, das Dopingkontrollsystem systematisch zu unterlaufen und auszuhebeln. Athleten können mehrfach völlig unangemeldet kontrolliert werden, ohne dass sie positiv zu testen sind, und dennoch betrügen sie ganzjährig ihre Konkurrenz. Der Sport, die Wirtschaft, die Politik, alle Interessensgruppen gemeinsam beruhigen hingegen die Öffentlichkeit, indem sie in ihrem „Kommunikationsspiel“ gemeinsam die Fanfare der Prävention und Abschreckung mittels Kontrolle ertönen lassen, wohl wissend, dass der Ton dieser Fanfare äußerst schrill ist. Dies ist ohne Zweifel ein Skandal. Das Skandalöse ist vor allem darin zu sehen, dass die Zeche für diese Art von Beruhigung der Öffentlichkeit vom Steuerzahler bezahlt wird. Es kann wohl niemand erklären, warum ein Facharbeiter von BMW, warum die Angestellten einer Bank, warum der Steuerzahler den Anti-Doping-Kampf im Hochleistungssport finanzieren soll. Selbst wenn der Steuerzahler als Teil jener Masse gesehen wird, die die Spitzenleistung fordert, deren Moral sich durch Vergesslichkeit auszeichnet und die dem Betrüger von gestern als dem Sieger von heute zujubelt, selbst dann kann nicht begründet werden, warum ausgerechnet nur der Steuerzahler die größte Last im Anti-Doping-Kampf zu tragen hat, hingegen die große Mehrheit all jener, die an dem Millionenspiel im Hochleistungssport beteiligt sind und an ihm verdienen, bislang sich jeder finanziellen Belastung entziehen konnte. Diese Einseitigkeit kann nicht lange gut gehen. Diese Verlogenheit gehört vielmehr an den Pranger gestellt.

Der zweite Grund hängt mit der Beschleunigung zusammen, die in Bezug auf den Verfall der Sportmoral und der ethischen Grundlagen des Sports zu beobachten ist. Die öffentliche Semantik, die heute mit dem Phänomen des Hochleistungssports verbunden wird, steht in krassem Widerspruch zur privaten Semantik, also zu jenen Erfahrungen und Bedeutungen, die der Sporttreibende artikuliert. Sport macht Freude, beim Sport begegnet man interessanten Menschen, Geselligkeit zeichnet das Vereinsleben aus. Treibe ich selbst Sport, so fühle ich mich wohl, die gesundheitlichen Wirkungen des Sports können positiv sein. Im Sport ist Integration möglich, die soziale und pädagogische Bedeutung des Sports ist ohne Zweifel gegeben. In der Öffentlichkeit stellt sich heute der Hochleistungssport jedoch mit einer ganz anderen Begründung dar. Qualifikationsspiele im Handball zur Teilnahme an den Olympischen Spielen wurden manipuliert, Schiedsrichter wurden bestochen. In der Lotteriegesellschaft des Sports geht es nur noch um das große Geld. Korruption ist regelmäßig auf der Tagesordnung. Demokratische Wahlen werden mit materiellen Begünstigungen beeinflusst, Resultate in sportlichen Wettkämpfen werden abgesprochen, und die Menschenwürde der Athleten wird dabei immer mehr gefährdet. Längst stellt sich die Frage des Grenznutzens der sportlichen Spitzenleistung. Das imperiale Gehabe so genannter „Sportfürsten“ kann bestenfalls noch Mitleid auslösen.

Die Kluft zwischen privatem und öffentlichem Sport kann nicht unendlich sein. Irgendwann trägt die Brücke zwischen dem Sport der Kinder und Jugendlichen und dem Spitzensport nicht mehr, auf die der Spitzensport gegründet ist. Er ist auf den Beitrag des Kinder- und Jugendsports zwingend angewiesen, will er sich zukünftig erhalten. Das bislang offensichtlich erfolgreiche Anti-Dopinggerede ohne wirkliche Folgen kann sich sehr schnell als Fehler erweisen. Angesichts der wachsenden Gefahren, die aus ungezügelter Kommerzialisierung, aus Betrug, Korruption und Gewalt resultieren, ist eine Selbstzerstörung des Hochleistungssports durchaus möglich. Wer die kulturelle Bedeutung eines humanen Hochleistungssports zu würdigen weiß, der kann an dieser Auflösung kein Interesse haben. Wer diese Bedeutung kennt, der weiß allerdings auch, welche Schritte zu gehen sind und welche Formen der Neubesinnung der organisierte Sport zu suchen hat, will er seine hausgemachten Probleme einer Lösung zuführen.