Aufforderung zum Boykott
In diesen Tagen konnte einmal mehr der deutsche Athletenvertreter Maximilian Klein des Applauses der Politiker¹ und der Presse mit seinen Äußerungen über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und dessen Konsequenzen für den internationalen Sport sicher sein (SZ 13.10.2022). Er fordert ein „Gesamtpaket aus Sanktionen“ gegenüber Russland. „Dazu gehört in schmerzlicher Weise auch der Ausschluss von Athletinnen und Athleten, die nun mal nichts für den Krieg können… zugleich müsste dazugehören, dass das IOC und der Weltsport seine Verbindungen zu Russland und die Unterwanderung durch russischen Einfluss aufarbeiten lassen. Dass russische Funktionäre ausgeschlossen werden. Dass russische Verbände und auch das russische NOK ausgeschlossen werden.“
Das IOC wirft seiner Meinung nach mit seinem Präsidenten „Nebelkerzen“, um „von den strukturellen Herausforderungen und der eigenen Verantwortung“ abzulenken. Es lenkt die Diskussion „auf die individuelle Ebene der Athleten, um von dem „gebotenen Sanktionspaket und von seiner eigenen Verantwortung“ abzulenken. „Dadurch wird das strukturelle Systemversagen, das über Jahre geduldet und vielleicht sogar gefördert wurde, außer Acht gelassen“.
Für Klein gibt es keinen Anlass, aktuell über eine Wiederzulassung von Athleten zu diskutieren. Für ihn ist es „unvorstellbar, dass ukrainische Athleten zu Hause ihr Land verteidigen, während russische Athleten das Land des Aggressors auf internationalen Wettkämpfen vertreten“. Er fordert deshalb den Boykott aller Wettkämpfe und Turniere bei denen russische Athletinnen und Athleten oder Athleten und Athletinnen aus Belarus teilnehmen.
Klein sieht aus einer grundsätzlichen Perspektive betrachtet eine Instrumentalisierung von Athletinnen und Athleten des Sports durch autokratische und diktatorische Regime. Welcher Athlet bzw. welche Athletin im Falle eines Krieges den Krieg wirklich unterstützt und wer nicht, das lässt sich seiner Meinung nach im Einzelfall kaum feststellen. Deshalb gilt es, alle Athletinnen und Athleten vor dieser Art von Instrumentalisierung durch Diktatoren wie Putin zu schützen.
Zur Instrumentalisierung des Sports
Kleins Anliegen, das er wortstark vorzutragen weiß, zielt ganz offensichtlich auf das Problem der Instrumentalisierung des Sports durch die Politik. Russland und Weißrussland instrumentalisieren dabei seiner Meinung nach den Sport in einer inakzeptablen Weise. Die Instrumentalisierung des Sports durch Libyen, Usbekistan, Saudi-Arabien, Nordkorea, Iran, Katar oder China, so ist zu vermuten, wird von Klein in gleicher Weise abgelehnt.
Dabei ist jedoch ganz offensichtlich, dass der Sport, seit es ihn in seiner modernen Form gibt, die unterschiedlichsten Formen der Instrumentalisierung aufzuweisen hat. Es gibt nahezu in allen politischen Systemen dieser Welt eine innen- und außenpolitische Instrumentalisierung des Sports, der Sport wird ökonomisch, gesundheitspolitisch und sozialpolitisch instrumentalisiert. In fast allen Bildungssystemen dieser Welt wird der Sport als ein wichtiges Bildungsinstrument betrachtet und in allen militärischen Systemen dient der Sport und eine spezielle Ausbildung zugunsten einer von allen militärischen Führungen als „Verteidigungsbereitschaft“ benannten Maxime. Von einer „Angriffsbereitschaft“ ist nirgendwo die Rede.
Betrachten wir den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, so können wir erkennen, dass auch bei diesem Krieg beide Seiten den Sport für ihre eigenen Interessen instrumentalisieren. Diktator Putin zeigt sich mit erfolgreichen Olympiaathleten und verleiht ihnen staatliche Orden, Präsident Selenski zeigt sich mit Athleten, die ihre Verteidigungsbereitschaft bekunden und die bereit sind als Soldaten sich für die Freiheit ihres Heimatlandes einzusetzen. Politiker der EU und des sog. „freien Westens“ fordern mit Unterstützung nahezu sämtlicher Massenmedien die Funktionäre und Athletinnen und Athleten des Sports auf, Russland und Weißrussland zu boykottieren, die russischen und weißrussischen Verbände aus den internationalen Sportorganisationen auszuschließen und den Dialog mit den Repräsentanten des russischen und weißrussischen Sports zu verweigern.
Die westlichen Sportorganisationen zeigen sich dabei-wie all ihre Partnerorganisationen in der übrigen Welt-in einer direkten Abhängigkeit vom jeweiligen Politiksystem ihres Landes bzw. von den Vorgaben der jeweiligen Bündnisse und deren aktueller Politik.
Betrachten wir den Zusammenhang zwischen Sport und Politik über einen längeren Zeitraum, so müssen wir erkennen, dass es besonders auffällig ist, dass die Politik den Sport meist nur sehr kurzfristig für ein von ihr initiiertes Boykottprojekt instrumentalisiert. Beispielhaft können hier die Olympiaboykotte von 1956, 1976, 1980 und 1984 genannt werden. Dabei wird der Sport in Bezug auf einen „besonderen“ politischen Gegner in Anschlag gebracht, ohne auch nur annähernd vergleichbare Boykottmaßnahmen gegenüber „anderen“ politischen Gegnern einzufordern, die zum gleichen Zeitpunkt in ähnlicher Weise gegen demokratische Prinzipien und Werte im Sinne von westlichen Demokratien und gegen die Menschenrechte verstoßen, wie dies bei dem aktuell in den Fokus gerückten Gegner der Fall ist. Deshalb sind seit Februar 2022 nur Russland und Weißrussland Zielobjekt der westlichen Boykottpolitik. Konflikte mit schwerwiegenden Folgen für bestimmte Bevölkerungsgruppen im Iran, im Irak, in Syrien, in Äthiopien, im Sudan, in der Türkei, in Indien, in China, in Saudi-Arabien, in Jemen etc. existieren im westlichen politischen Bewusstsein währen dieser Zeit allenfalls am Rande. So wie die Uiguren und Tibeter längst wieder vergessen sind, so vergisst man gerade die Rohyngia in Myanmar und die indigenen Einwohner Brasiliens.
Die Athletinnen und Athleten aus China, der Türkei, aus Usbekistan, Katar, Saudi-Arabien, aus Indien oder aus Brasilien dürfen selbstverständlich nach wie vor an allen internationalen Wettkämpfen teilnehmen und der Ausschluss ihrer Nationalen Verbände steht nicht auf der politischen Agenda.
Auffällig ist bei den bis heute zu beobachtenden Instrumentalisierungen des Sports durch die Politik, dass vom Sport Boykottmaßnahmen und Verzichtshandlungen gefordert werden, die in ihrer Wirkung direkt überprüfbar sind, aber meist dabei auch einen materiellen Schaden auf Seiten der Sportorganisationen und deren Athletinnen und Athleten hervorrufen. Eine vergleichbare Überprüfbarkeit ist hingegen bei den Boykottmaßnahmen zum Beispiel der EU und ihrer einzelnen Mitgliedstaaten nicht zu erkennen. Vielmehr muss vermutet werden, dass staatliche Boykottmaßnahmen oft nicht mehr sind als massenmediale Verlautbarungen und Absichtserklärungen und die Durchführung der Boykottmaßnahmen von niemand überprüft wird. Gefahren der politischen Heuchelei sind dabei offensichtlich.
Was zeigen uns diese Beispiele?
Würden die internationalen Sportorganisationen all jene Athletinnen und Athleten, die in Ländern leben, in denen der Sport verantwortungslos instrumentalisiert wird und in denen die Menschenrechte missachtet werden, von Olympischen Spielen, Weltmeisterschaften und internationalen Sportwettbewerben ausschließen, so würde dies das Ende des Weltsports bedeuten. Diejenigen, die heute-so wie Maximilian Klein-den Ausschluss aller russischen Athletinnen und Athleten von internationalen Wettbewerben des Sports fordern, müssen die Frage beantworten, nach welchen Kriterien die Verantwortlichen in den Organisationen des Sports, bis hin zum IOC, entscheiden sollen, gegen welche Gegner die Athleten und Athletinnen, die aus demokratischen Nationen kommen, zukünftig bei internationalen Wettkämpfen antreten sollen und gegenüber welchen Athleten ein Start zu verweigern ist, weil sie Nationen angehören, die den westlichen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten nicht entsprechen.
Die Türkei befindet sich schon seit längerer Zeit in einer kriegerischen Auseinandersetzung mit der PKK, in Äthiopien, Jemen, Myanmar und Somalia herrschen derzeit bürgerkriegsähnliche Zustände. Es gibt noch mehrere Länder, in denen autoritäre Regime die Macht durch den Einsatz militärischer Gewalt gegenüber den eigenen Bürgern durchsetzen und dabei viele unschuldige Menschen Opfer von diktatorischer Politik sind.
USA hatte in jüngster Zeit einen Präsidenten, der sich vier Jahre lang nachgewiesenermaßen durch Betrügereien und Straftaten und einer ganzen Reihe von Menschenrechtsverletzungen ausgezeichnet hat. Wäre es angebracht gewesen, dass während dieser Amtszeit US- amerikanische Athletinnen und Athleten aus den internationalen Sportwettkämpfen ausgeschlossen gewesen wären? Welche Reaktionen in Bezug auf den internationalen Sportbetrieb legen die neuen populistischen Regierungen in Europa nahe?
Die Organisationen des Sports haben auf ihrer Unabhängigkeit zu bestehen
Die Probleme, die für den Sport durch die gefährlichen Formen der Instrumentalisierung durch die Politik entstehen können, scheinen vielfältig und unvorhersehbar zu sein. Eines ist dabei jedoch äußerst gewiss. Will der Sport einen Ausweg aus dieser, seine eigene Existenz gefährdenden Situation, für sich selbst finden, so darf er sich nicht auf die ihn umgebenden politischen Systeme verlassen. Er darf nicht hoffen, dass ihm von dort Lösungen für sein Problem angeboten werden können. Jedes Angebot der Politik kommt vielmehr einer weiteren Instrumentalisierung des Sports gleich, die dieser aus grundsätzlichen, existenzsichernden Erwägungen verhindern muss.
Der Sport muss viel mehr die historisch schon immer als sehr bedeutsam beurteilte und beständig geforderte „Autonomie für sein Sportsystem“ gegenüber dem Politiksystem zurückerobern. Hierzu ist es wichtig, dass er sich auf seinen eigenständigen Auftrag und sein eigenes Wertesystem besinnt und die selbst gesetzten Regelsysteme beachtet, die bis heute den internationalen Sportverkehr möglich gemacht haben. Verantwortliche in den Sportorganisationen haben sich auf eine unabhängige Sportpolitik zu besinnen, die sich jeder Bevormundung und einseitigen Inanspruchnahme durch politische Systeme und durch staatliche Regierungen widersetzt und ein eigenes, selbstständiges politisches Verständnis von einer unabhängigen Rolle des internationalen Sports den ihn gefährdenden Instrumentalisierungsbestrebungen der staatlichen Politik entgegenstellt.
Friedensidee, Fair Play-Maxime und Solidaritätsgebot
Tut er dies, so wird er sehr schnell erkennen, dass die Friedensidee des modernen Olympismus, dass das Solidaritätsgebot, wie es in der erweiterten olympischen Maxime während der IOC-Session 2021 in Tokio neu und mit Nachdruck formuliert wurde, und dass das Fairplay- Ideal als unverzichtbare Leitlinie der internationalen Sportpolitik zu gelten hat und von allen Verantwortlichen in den Organisationen des internationalen Sports gegen alle Instrumentalisierungsbestrebungen zu verteidigen und bei allen sportpolitischen Entscheidungen zu beachten ist.
Bei einer aktiven und engagierten Politik des Sports geht es also um Frieden und nicht um Krieg, es geht um internationale Begegnung und Verständigung und nicht um Sprachlosigkeit, Diskriminierung und Kommunikationsverbote. Im Zentrum dieser unabhängigen und selbstbewussten Sportpolitik hat der Athlet zu stehen und nicht die Nation oder das staatliche Gebilde, dem er durch seine Geburt in einem bestimmten Land – durchaus auch manchmal gegen seinen eigenen Willen – angehört, beziehungsweise angehören muss.
Bei seiner IOC-Kritik wirft Klein diesem vor, dass es die Diskussion „erneut auf die individuelle Ebene der Athleten lenkt“, um „um von seiner eigenen Verantwortung“ abzulenken. Die von mir hier vertretene Auffassung von einer unabhängigen autonomen Sportpolitik legt konträr zu dieser Auffassung die gegenteilige Schlussfolgerung nahe. Im Zentrum einer modernen IOC- Sportpolitik und im Zentrum der Sportpolitik aller internationalen Sportorganisationen sollte der individuelle Athlet stehen und nicht die Nation, aus der er kommt. Nicht zuletzt habe ich deshalb mehrfach auch in Anlehnung an die Forderungen des Tübinger Theologen Moltmann dem IOC bei seinen Reformbemühungen um die Fortschreibung der Agenda 2020 empfohlen, sich zukünftig jeder weiteren „nationalpolitischen Inanspruchnahme“ der Olympischen Bewegung zu widersetzen, wozu ein Verzicht auf Medaillenspiegel und Nationenwertungen ebenso gehören sollte wie das Verbot des Zeigens nationaler Flaggen bei Siegesfeiern im unmittelbaren Anschluss an Wettkämpfe.
Die vorrangige und wichtigste Aufgabe für alle Verantwortlichen in den internationalen Sportorganisationen muss es deshalb sein, dass alle Athleten fair und gleich zu behandeln sind, und auf der Grundlage der codifizierten Regeln des Sports muss all jenen Athleten und Athletinnen Zugang zu den internationalen Wettkämpfen gewährt werden, die die in den Regeln definierten Voraussetzungen für diese Wettkämpfe erfüllen. Begegnungen von Athletinnen und Athleten bei internationalen Wettkämpfen aus unterschiedlichen Nationen, deren Herkunftsländer sich in einem Krieg oder in anderen politischen Konflikten befinden und in deren Herkunftsländer Menschenrechte verletzt werden mit Athletinnen und Athleten, die glücklicherweise in Ländern leben, in denen die Menschenrechte beachtet werden, sollten von allen Beteiligten im internationalen Sportsystem grundsätzlich erwünscht sein. Ja, es sollte Auftrag und Aufgabe der Sportorganisationen sein, bei internationalen Sportwettkämpfen solche Begegnungen zu initiieren und möglich zu machen. Das Wettkampfprogramm selbst sollte deshalb auch dahingehend verändert werden, dass es vermehrt Möglichkeiten gibt, bei denen Athletinnen und Athleten aus verschiedenen Ländern gemeinsam als Doppel oder Team einen Wettkampf in ihrer Sportart bestreiten können. Jede dabei beobachtbare Versöhnungs- und Wiederbegegnungsgeste zwischen Athletinnen und Athleten, die aus Staaten kommen, die sich in einem politischen Konflikt befinden, könnten dabei kleine, aber deshalb nicht unwichtige Zeichen dafür sein, welche bedeutsame Friedensbotschaft der Sport für eine oft friedlose Welt zu bieten hat.
Der olympische Friedensauftrag des Sports ermöglicht es den Sportorganisationen bei internationalen Konflikten die Rolle eines Mediators möglicherweise auch eines Friedensstifters einzunehmen. Angesichts des fürchterlichen Krieges in der Ukraine und angesichts des großen Leids, den dieser Krieg vor allem in der Ukraine aber auch bei russischen Familien zur Folge hat, wäre es mehr als nur eine wünschenswerte Geste, wenn die Kriegsparteien und die internationalen Großmächte dem IOC als der Organisation des olympischen Sports ermöglichen würden, angesichts seines Friedensauftrages sich als internationaler Vermittler einsetzen zu können.
Die Angst vor einer Eskalation des Krieges in der Ukraine, die Angst vor einem Atomkrieg ist derzeit in ganz Europa eine reale Angst. Heribert Prantl weist in der SZ vom 15.10.2022 darauf hin, dass es nicht nur in Deutschland „ein Verlangen nach diplomatischen Anstrengungen gibt, das aber nicht befriedigt wird. Es gibt die Sehnsucht nach einem Weg zum Frieden, auf dem nicht nur Panzer rollen. Es gibt den Hunger nach einer Politik, die wieder zum Frieden führt“. Das „Gesamtpaket aus Sanktionen“, wie es der deutsche Athletenvertreter Maximilian Klein fordert, wird hierzu ganz gewiss keinen Beitrag leisten.
Letzte Bearbeitung: 14.10.2022
¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.