Gastbeitrag

Die Olympischen Sommerspiele 1972, die damals in München stattgefunden haben, sind aus Anlass ihres 50-jährigen Jubiläums, Thema zahlloser massenmedialer Rückblicke. Diese Spiele waren ohne Zweifel ein außergewöhnliches olympisches Ereignis, das in seiner Ästhetik und interkulturellen Qualität wohl bis heute nicht mehr übertroffen wurde. Gleichzeitig ist es jedoch auch das Ereignis, auf das wir alle mit Schrecken zurückblicken müssen. Die Ermordung von elf israelischen Athleten und Trainern durch Terroristen und der Tod eines deutschen Polizisten haben gezeigt, wie verletzlich der Olympismus sein kann. Seitdem sind politische Konflikte und Krisen immer auch Krisen des Olympismus.
Wenn wir uns in diesen Tagen an diese besonderen Olympischen Spiele erinnern, so ist es auch wichtig, dass wir Athletinnen und Athleten zu Wort kommen lassen, die an diesen Spielen teilgenommen haben. Im folgenden Gastbeitrag erinnert sich ein für mich sehr vorbildlicher Olympionike an seinen Olympiasieg in München 1972. Ich würde mich freuen, wenn diesen Erinnerungen weitere Erinnerungen von Beteiligten dieser Spiele folgen würden. Die Einladung zu einem Gastbeitrag sei hiermit ausgesprochen.

H. D.

München 1972: „Auf der Laufbahn wusste ich: Heute ist mein größter Tag gekommen!“

Von Peter Frenkel (Potsdam), Olympiasieger im 20 km Gehen

Die Wiedersehensfeier der deutschen Olympiamedaillengewinner von 1972 Anfang Juli ließ bei mir viele Erinnerungen wach werden. Der Olympiapark in seiner harmonischen Einheit von Architektur und Landschaft ist auch nach 50 Jahren ein wunderbares Ensemble und ein Beispiel für Nachhaltigkeit, über die heutzutage viel geredet wird. Der „grünen“ Politik war München 72 weit voraus.
Damals fehlte mir allerdings die Zeit, um den Anblick der Sportstätten, Wiesen und Anlagen in vollen Zügen zu genießen. Für mich ging es ja am Nachmittag des 31. August im wahrsten Sinne des Wortes um Minuten und Sekunden.
Wie ein Tourist war ich Abend zuvor in Berlin-Friedrichstraße in den Nachtzug gestiegen und im Schlafwagen nach München gefahren. Morgens wurde ich am Hauptbahnhof abgeholt und ins Olympische Dorf gefahren, wo ich ein Zimmer bezog. Danach lief ich ein wenig durch die Parkanlagen, aß zu Mittag und ließ mich massieren. Den Wettkampf bereitete ich intensiv vor. Ich ging mehr als 10 Kilometer, um die richtige „Betriebstemperatur“ zu erhalten. Der Startschuss fiel um 16.05 Uhr.
Diesem Zeitplan, der manchen vielleicht etwas außergewöhnlich vorkommt, lagen die Erfahrungen von Mexico City zugrunde, wo ich bereits zu den Favoriten gerechnet wurde. Am Ende wurde ich aber nur Zehnter, und den Grund für dieses enttäuschende Ergebnis sehe ich bis heute in der Tatsache, dass ich der Anweisung folgte, zwei Wochen vor dem Wettkampf in Toluca zu trainieren, das noch einmal 400 m höher liegt als Mexiko-Stadt. Das hatte mich dann reingerissen, denn ich spürte, wie meine Form Tag für Tag schlechter wurde.
Vier Jahre später hatte ich mit meinem neuen Trainer, Hans-Joachim Pathus, der selbst ein erfolgreicher Geher gewesen war, vereinbart, das Tempotraining im Flachland durchzuführen – zumeist in Potsdam, wo ich dem dortigen Armeesportklub angehörte, oder aber im heutigen Bundesleistungszentrum Kienbaum. Um nicht auf den Höheneffekt verzichten zu müssen (auch um Reisekosten zu sparen), simulierten wir das Höhentraining im Institut für Luftfahrtmedizin im sächsischen Königsbrück sowie in der Unterdruckkammer der INTERFLUG in Berlin-Schönefeld, wo Piloten ausgebildet wurden.
Dass ich mit dieser Art der Vorbereitung auf dem richtigen Weg war, konnte ich bei den DDR-Meisterschaften Ende Juni 1972 nachweisen. Gemeinsam mit meinem Freund Hans
Reimann vom Sportclub Dynamo Berlin gewann ich den Titel im 20.000 m Bahngehen – zeitgleich in der Weltrekordzeit von 1:25:19,4 h.
Diese harte Konkurrenz, die ich eigenen Lande hatte, war einer der Gründe für meine und unsere Leistungsfähigkeit. Schon 1964 in Tokio hatte Dieter Lindner aus Weißenfels als erster DDR-Geher eine Olympiamedaille – eine silberne – gewonnen. In Mexiko wurde Christoph Höhne Olympiasieger über 50 km, Peter Selzer war Vierter. Und über 20 km belegten Gerhard Sperling und Hans Reimann die Plätze fünf und sieben. Beide hatten sich auch für die gesamtdeutsche Mannschaft von 1964 qualifiziert, bei deren Qualifikationswettkämpfen ich als Sechster einer Nominierung schon ziemlich nahegekommen war.
In München war ich selbstbewusst genug, um von Anfang an auf Sieg zu gehen. Dabei lag mir die Strecke nicht einmal besonders gut. Nach einem Anmarsch von zweieinhalb Kilometern verlief sie entlang des Nymphenburger Kanals auf einem 3-km-Rundkurs, der viele Kurven hatte. Anders als in Erfurt, wo ich mit Spikes mit kurzen Kunststoffdornen gegangen war, trug ich in München meine ältesten Schuhe mit einer Sohle, die sich für Parkwege und Asphaltstrecken eigneten und die wie angegossen saßen.
Die Anfangsgeschwindigkeit war relativ langsam, und ich brauchte einige Zeit, um den richtigen Rhythmus zu finden. Während Reimann Tempo machte, hatte ich Mühe, den Anschluss zu halten. Nach acht Kilometern kassierte ich eine Verwarnung, die mir aber keinen Schrecken einjagte. Ich ging aufs Ganze und sagte mir: Entweder fliegst du ‘raus oder du kommst durch und gewinnst!
Nach der Hälfte hatte sich die Spitzengruppe auf acht Geher verringert. Jeweils drei kamen aus der DDR und der Sowjetunion, außerdem gehörten Lokalmatador Bernd Kannenberg dazu, dem vermutlich viele Bundeswehrkameraden, die die Strecke absperrten, den Daumen drückten, sowie der Brite Paul Nihill. Letzterer war einen Monat vorher auf der Isle of Man mit 1:24:50 h eine für damalige Verhältnisse phantastische Weltbestzeit gegangen. Seine Leistung nötigte mir Respekt ab, doch ich wollte mich auch nicht bluffen lassen. Mir war klar, dass er es schwer haben würde, diese Zeit in München zu wiederholen.
So kam es dann auch. In der dritten Runde ging die Post ab. Nach 12 Kilometern wurde ich schneller, und in dem Moment fielen Nihill und Kannenberg zurück. Kannenberg war gut beraten, bald darauf auszusteigen und sich für die 50 km zu schonen, die er ja dann drei Tage später auch gewann. Fünf Kilometer weiter war ich wie ausgewechselt. Das war die entscheidende Phase des Wettkampfs, in der ich wie aufgezogen marschierte. Ich rief Hans Reimann noch zu, dass er mitkommen solle, doch langsam verließen ihn die Kräfte.
Stattdessen heftete sich ein anderer zäher Kämpfer an meine Fersen: Wladimir Golubnitschi, ein 36-jähriger Lehrer aus dem ukrainischen Sumy, der 1960 und 1968 Olympiasieger geworden war und 1964 die Bronzemedaille gewonnen hatte. Nachdem ich gelesen hatte, dass er erneut sowjetischer Meister geworden war, wusste ich, dass mit ihm auch in München zu rechnen war. Tatsächlich steuerte er dann auch zum dritten Mal die Goldmedaille an.
Als wir uns dem Stadion näherten, war Golubnitschi drauf und dran, zu mir aufzuschließen, während ich kurz davor war, mich zu erbrechen. Da half mir aber mein autogenes Training. Im Nu hatte ich 20, 30 Meter Vorsprung herausgeholt, und als ich dann durch ein Spalier von Zuschauern marschierte, die mich anfeuerten, verlieh mir das regelrecht Flügel. Als ich auf die Laufbahn einbog, wusste ich, dass nun mein größter Tag gekommen war. Die Tausende von Trainingskilometer, die ich seit 1960 zurücklegte, hatten gelohnt.
Mit einem Vorsprung von 13 Sekunden erreichte ich das Ziel vor Golubnitschi, der immer mein Vorbild gewesen war. Ein bewundernswerter Sportler, der im vorigen Jahr verstarb, so dass ihm die jetzige Tragödie der Ostukraine erspart blieb. Als ich ihm entgegenlief, fiel er mir hinterm Ziel um den Hals. Er klopfte mir auf die Schulter und sagte „Molodez“ – „Prachtkerl“ – für mich damals die denkbar größte Auszeichnung. Hinter uns beiden holte sich Hans Reimann die Bronzemedaille. Platz vier erreichte Gerhard Sperling, ein großartiger Gehörlosensportler, der 1971 Vizeeuropameister gewesen war. Auf unser Team konnten wir also stolz sein.
Völlig ausgezehrt, benötigte ich anschließend anderthalb Stunden, bis ich bei der Dopingkontrolle meiner Pflicht nachkommen konnte. Wie ich meinem Masseur im Falle eines Medaillengewinns versprochen hatte, verbrachten wir den Abend in Schwabing. Es war schon morgens, als wir müde ins Olympische Dorf zurückkehrten, wo uns eine Standpauke von Mannschaftsleiter Manfred Ewald erwartete. Man befürchtete wohl, dass wir unter die Räder gekommen wären …
Was folgte, waren noch einige schöne Tage in München – bis zu jenem unsäglichen 5. September 1972, als die israelische Mannschaft im Olympischen Dorf überfallen wurde. Ihr Quartier in der Connollystraße 31 lag ja direkt dem unsrigen gegenüber, so dass wir vom Balkon aus das Geschehen verfolgen konnten. Da es im Laufe des Tages telefonisch auch Morddrohungen gegen die DDR-Mannschaft gegeben hatte, die man ernst nehmen musste, wurden wir dann über die Tiefgarage mit Bussen in die Nähe von Schloss Neuschwanstein evakuiert, wo wir bis zum tragischen Ende ausharrten. Das damalige Geschehen hat mich nie wieder losgelassen, auch weil ich mich tags zuvor noch mit Shaul Ladany, dem israelischen 50-km-Geher, getroffen hatte. Ihm war die Flucht gelungen. Bis heute sind wir Freunde geblieben.
Zuhause erwarte mich dann eine Flut von Glückwünschen und unzählige Autogrammbitten. Es gab eine Prämie, einen staatlichen Orden und eine Kuba-Reise auf der MS „Völkerfreundschaft. In der Nationalen Volksarmee, in der ich Offizier war, wurde ich befördert. Die Stadt Potsdam gab einen Empfang im Muschelsaal des Neuen Palais in Sanssouci. Überhaupt empfand ich es immer als ein großes Privileg, in dieser wunderbaren Kulturlandschaft leben zu können, wo ich sowohl ideale Trainings- als auch berufliche Ausbildungsmöglichkeiten vorfand. Nachdem ich von 1963 bis 1968 die Fachschule für Angewandte Kunst besucht hatte, hatte ich die Chance, von 1972 bis 1978 ein Fotografik-Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig zu absolvieren.
Es waren Jahre, auf die ich mit Dankbarkeit zurückblicke, weil sie es mir ermöglichten, mir Willensqualitäten anzueignen, die mir halfen, auch Niederlagen zu überwinden wie jene bei den Europameisterschaften 1974 in Rom. Damals glaubte ich, dass ich es mir als Olympiasieger schuldig sei, noch einmal anzutreten. Bis heute weiß ich nicht, wie es zu dem Blackout kam, der mich veranlasste, nach der Hälfte der Strecke einfach zur Seite zu treten, obwohl ich in der Spitzengruppe ging.
Ich benötigte einige Zeit, um diese Enttäuschung zu überwinden. Ich beriet mich mit meiner Familie und dem Trainer, und wir wurden uns einig, dass ich mich so nicht vom aktiven Sport verabschieden sollte. Ich entschloss mich, noch zwei Jahre dranzuhängen. In Montreal gewann ich dann als 37-Jähriger hinter dem Mexikaner Daniel Bautista und Hans Reimann noch eine Bronzemedaille – vielleicht war das mein größter Erfolg.

Peter Frenkel: geb. 13. Mai 1939 in Eckartsberga/Thüringen; gelernter Farb- und Oberflächengestalter; studierter Fotograf; seit 1990 selbstständig; zahlreiche Ausstellungen; wohnhaft in Potsdam, Major der Nationalen Volksarmee und ehemals Mitglied des Armeesportklubs (ASK) Potsdam; Vizepräsident der Gesellschaft Deutscher Olympiateilnehmer (GDO) von 1991 bis 1998.