Moral und Ethik im Sportsommer 2018

Ein Gastbeirag von Ewald Walker

Der Sport reproduziert bekanntlich Realität und Widersprüche einer sich schnell wandelnden Gesellschaft. Diese Zerrissenheit zeigt sich in fortschreitender Globalisierung bei gleichzeitiger Rückbesinnung auf die Region, bei Leistung und Qualität gegen Konsum und Spaß. Auf den Sport übertragen bedeutet das Event und Erlebnis statt Leistung und Wettkampf mit Sieg oder Niederlage. Leistungs- und Spitzensport haben stark an Glaubwürdigkeit und Akzeptanz verloren.

Und dennoch hat dieser Sport ein spannendes Jahr erlebt. Handball-Europameisterschaft im Januar, Olympische Winterspiele in Pyeongchang. Im Sommer dann Fußball-WM in Russland, European Championships mit der Leichtathletik-EM in Berlin. Viele schöne und begeisternde Momente auch außerhalb des Olympiastadions auf der europäischen Meile rund um den Breitscheidplatz und der Gedächtniskirche. Allen Negativschlagzeilen zum Trotz soll im Folgenden über die Ergebnisse und Siegerlisten hinaus nachgedacht werden: über Werte, Ethik und Moral, das Tiefsinnige hinter der Ziellinie des Sports. Gibt es das bei den Millionensummen, Gigantismus, Korruption und Betrug überhaupt noch?

Wenn ja, was bedeuten Ethik und Moral im Sport überhaupt? Fairness, Wertschätzung des Anderen, Respekt vor dem Gegner, soziale Verantwortung, sind zentrale Begriffe eines Sportethos. Vorschriften, Gebote und Verbote, sowie Richtlinien sind moralische Vorgaben für die Sportpraxis. Doch Foul, Unsportlichkeit, Korruption und Betrug sind heute allgegenwärtig, nicht selten legalisiert oder zumindest toleriert. Bedrohen Ethik und Moral nicht umgekehrt sogar den Zeitgeist des Sports? Werte wie Kameradschaft und geselliges Miteinander stehen im Schatten von Kommerz, Krawall und Doping. Haben Werte und Sportethos den Wettlauf gegen den Zeitgeist nicht längst verloren?

Noch zeitgemäß: ein Olympischer Eid? 

„Im Namen aller Schülerinnen und Schüler, Kampfrichter und Lehrkräfte verspreche ich, dass wir beim Landesfinale Jugend trainiert für Olympia und Jugend trainiert für Paralympics die gültigen Regeln respektieren, diese im Sinne des Fair Play einhalten und im Wettstreit uns gegenseitig achten“. Der 13-jährige Simon aus Ebingen sprach diesen Eid ganz im olympischen Sinne zur Eröffnung des 50. Leichtathletik-Landesfinales im Sindelfinger Floschenstadion für rund 2000 Teilnehmer. Er ist das Bekenntnis für Moral, Ethik und Leistung im (Schul)Sport. Derweil rauchte ein Team vor den Stadiontoren die Wasserpfeife. Grundsätzlich ist der Schulsportwettbewerb jedoch seit 1969 ein wichtiger Bestandteil des Sports in diesem Land, vor allem weil er in einer immer weiter um sich greifenden Spaßgesellschaft nach wie vor als Modell für Leistung und Wettkampf zählt.

Neymar als Schauspieler – aber kein Vorbild

Zuschauer und Medien standen im Bann der Fußball-WM in Russland. Sie war schön, fröhlich, ohne nervig falsche Videobeweise, ohne Bengalos und Randale, aber durchaus auch mit Misstönen. Nicht nur das blamable Abschneiden der deutschen Nationalmannschaft mit dem peinlich frühen Ausscheiden, sondern einige Umstände auf und neben dem Rasen waren äußerst negative Begleiterscheinungen. Da wurde getreten und nachgetreten.

Die zirkusreife Theatralik von Neymar hat Sportlichkeit und Fairness mit Füßen getreten. Der Brasilianer war der meistgefoulte Spieler des Turniers und verbrachte fast 14 Minuten am Boden liegend. Ein Internet-Video karikiert seinen moralischen Betrug. Zehn zehnjährige Schweizer Buben haben diese Schauspielerei nachgestellt und zum Vorbild genommen: bei Trainingsübungen mit dem Ball lassen sie sich auf den Ruf „Neymar“ ihres Trainers fallen und wälzen sich schreiend sekundenlang am Boden. Nein: der teuerste Fußballer der Welt eignet sich nicht als (ehrliches) Vorbild. Will er wohl selbst nicht sein, schadet aber doch zumindest seiner Marke und dem Fußball. War sein Auftreten nicht eigentlich ein Fall für einen nachträglichen Ausschluss mittels Videobeweis?

Eigentor oder: Wenn Dopingkontrolleure ausgeschlossen werden

An der Dopingfront herrschte Ruhe. Keine Überraschung, die Organisatoren hatten alles im Griff – und ließen den renommierten deutschen Dopingfahnder Hajo Seppelt zunächst gar nicht einreisen. Die kurzfristige Zulassung konterte der deutsche Außenminister Heiko Maas mit der dringlichen Warnung an Seppelt, doch besser zuhause zu bleiben.

„Die Leichtathletik hat vieles, was dem Fußball schon lange fehlt“ schrieb die Neue Züricher Zeitung nach den Leichtathletik-Europameisterschaften im August in Berlin. In Zeiten nationalistisch ausgrenzender Tendenzen in Europa lieferte der Sport hier einen Fingerzeig für völkerverbindende Wirkung. Das sportliche und kulturelle Fest am Breitscheidplatz, im Vorfeld durchaus umstritten, weil dort zwölf Menschen an Weihnachten 2016 bei einem Attentat ihr Leben verloren, wurde auf seine Art dem Gedenken an die Opfer gerecht und war gleichzeitig eine Brücke für ein friedliches Miteinander der Menschen in Europa.

Das Olympiastadion bot ein fröhliches Sportfest mit 50 Nationen, das an den freudvollen Geist der Olympischen Spiele 1972 in München erinnerte. Deutschland als Ort der Begeisterung, europäischer Völkerverbindung, ohne Aggressionen, ohne Hooligans, ohne Rudelbildung, (fast) ohne allzu sichtbare Polizeipräsenz im Olympiastadion, und das bei durchschnittlich 45000 Zuschauern täglich. Dafür gab es Schulterklopfen eines Zehnkämpfers für seinen Gegner, als dieser einen guten Weitsprung absolviert hatte, einen Marathonläufer, der seinem Konkurrenten die Wasserflasche reichte oder eine Läuferin, die der verletzten Gegnerin auf die Beine half.

„So lieben wir Sport“ titelte BILD am Tag nach der EM. Die Gründe? Die Fairness des russischen Hochspringers Maxmilian Nedaseku, der mit den Zuschauern klatscht, als ihm sein deutscher Rivale Mateusz Przybylko mit dem Sprung über 2,35 Meter die Goldmedaille wegnimmt. Der schwedische Diskuswerfer Daniel Stahl, der nach seinem Wurf zum Kampfrichter geht und seinen Wurf („Sorry ich habe übergetreten“) ungültig macht. Ein freudvolles Publikum, das die deutsche Sprinterin Gina Lückenkemper genauso feiert wie ihre Bezwingerin, die dreifache britische Europameisterin Dina Asher-Smith. Die Natürlichkeit des Hochsprung-Siegers Przybylko: „Ich habe vor Freude auf dem Boden gelegen und wie ein Kind geweint“. Es sind die Dinge, die wir am Sport lieben, fasste BILD zusammen.

Bei aller Euphorie über ein Sportereignis, das nahtlos die Tradition herausragender Sportereignisse auf deutschem Boden – die EM 1986 und die WM 1993 in Stuttgart, die EM 2002 in München und die WM 2009 in Berlin – fortsetzten konnte, bleibt der Leichtathletik die Angst um ihre Existenz in den großen Arenen. Wie kein anderes Stadion verkörpert das Berliner Olympiastadion deutsche (Sport)Geschichte. Auch die blaue Bahn im Berliner Olympiastadion ist in Gefahr. Die Historie ist natürlich nicht ohne Makel. Man denke an die Olympischen Spiele 1936 mit Jesse Owens bis hin zu Usain Bolts Fabel-Weltrekorden und die insgesamt 80-jährige Geschichte des Stadionfestes ISTAF. Alles kein Grund, diese blaue Bahn in Berlin einzuebnen, damit für Bundesligist Hertha BSC ein neues Fußballstadion daraus gemacht werden kann. Geschichte droht sich zu wiederholen: Denn auch in Stuttgart verschwand nach einer großartigen WM 1993 die Laufbahn im damaligen Neckar-Stadion und wurde zur Mercedes-Benz-Arena umgebaut. Es mutet fast grotesk an, wenn man sich jetzt in Stuttgart Gedanken über eine Bewerbung für diese European Championships macht, und, ach so: die Laufbahn ist ja weg.

Zwei Tage nach einer grandiosen EM-Berichterstattung ist die Hierarchie in den Medien ohnehin wieder hergestellt. Die Leichtathletik ist verschwunden, der Fußball hat seine Vorherrschaft wieder eingenommen. Als beim Diamond League-Finale in Zürich, der weltweit bedeutendsten Leichtathletik-Veranstaltung, die Scheinwerfer im Letzigrund angehen, bleiben die Bildschirme in Deutschland dunkel.

Olympiasieger als Vorbild 

Der Sport produziert Vorbilder, positive wie negative. Speerwurf-Olympiasieger Klaus Wolfermann („Der kleine Riese mit dem goldenen Arm“) von München 1972 saß bei den deutschen Meisterschaften in Nürnberg und der EM in Berlin auf der Tribüne. Auch mit 72 hat ihn der Sport nicht losgelassen. „Der Sport ist mein Lebenselexier“, sagt Wolfermann, der damals mit zwei Zentimetern Vorsprung die Goldmedaille gewonnen hatte. Nach seinem Sieg über den Letten Janis Lusis entschuldigte sich der Deutsche für seinen knappen Sieg beim Gegner. Auch nach seiner Karriere lebte Wolfermann seine soziales Verhalten weiter. „Ich bin dauernd unterwegs und engagiere mich für die Kinderhilfe Organtransplantationen und bin im Einsatz als Botschafter von Special Olympics Bayern“, erzählt er. Die Wurzeln für dieses soziale Engagement? Er habe schon als Jugendlicher in seinem Heimatort Altdorf bei Nürnberg Menschen mit geistigen und spastischen Behinderungen im Rollstuhl geschoben. Das sei das wahre Leben, nicht das „Schicki-Micki-Zeug“ hinter dem aktuellen Sport. Wolfermann ist ein Vorbild. Seine Botschaft: Werte und ethisches Verhalten setzen Sozialkompetenz voraus. Diese wird im Kindes- und Jugendalter von Eltern und Lehrern geprägt. Auch heute noch?

Abschied: „Der Harting“ geht

Nach zehn Jahren als Gallionsfigur der deutschen Leichtathletik feierte Robert Harting im Berliner Olympiastadion in diesem Sommer zwei Abschiede: den sportlichen als Sechster bei der EM, den emotionalen mit seinem letzten Wurf beim ISTAF wenige Wochen später. Mit Harting, dem Olympiasieger und Älteren geht ein Großer des Sports, dessen Karriere nicht immer unumstritten gradlinig verlief. Mit einer verbalen Attacke gegen Dopingopfer vor der WM 2009 hatte er sich ins Abseits manövriert. Seine zerrissenen Trikots nach großen Erfolgen waren ein in Frage zu stellender Ausdruck unbändiger Freude eines Riesen. Doch nach und nach fanden Hartings Worte wie sein Diskus den besseren Drive. Harting wurde zum (durchaus auch eigennützigen) Impulsgeber in Sachen Leistungsförderung und Sportpolitik. Der Provokateur von einst verlässt für seine Fans die Sportbühne als Sympathieträger. Was aus ihm wird könnte eine spannende Frage sein.

Barfuß zum Helden von Zürich 

Bikila Abebe war als barfußlaufender Olympiasieger im Marathon 1960 in Rom das Vorbild. Der Kenianer Conseslus Kipruto wurde zuletzt beim Meeting in Zürich zum Helden, weil er nach 250 Metern des 3000 Meter- Hindernislaufes den linken Schuh verloren hatte. Statt aufzugeben absolvierte er den Rest des Rennens mit großer Hingabe „halb barfuß“ und rang den Weltjahresbesten Soufiane Bakkali (Marokko) in einem fantastischen Schlussspurt auf der Zielgeraden nieder. Standing Ovations der 25000 Zuschauer und 50000 Dollar waren das Trostpflaster. Es war ein Sieg des Willens über eine malträtierte Fußsohle. Hinfallen, Aufstehen und Weiterlaufen sind aber besonders wichtige ethische Werte, übertragbar auch auf andere Lebensbereiche.

Nach Scheitern nicht aufzugeben, trotz mehrjähriger Verletzungsmisere nicht aufzuhören, wie beispielsweise  Arthur Abele, der Zehnkampf-Europameister von Berlin, ein erfrischendes Vorbild.  Diese moralisch ethische Erziehung durch und mit Sport ist und bleibt unverzichtbar für unsere Jugend. Gerade, weil Leistung eher verpönt erscheint, weil es immer mehr Jugendlichen an Orientierung und Bewegung, Biss und Kampfgeist fehlt. Wenn es dann leistungssportlich weitergeht in die Spitze, in die Weltklasse und in den Profibereich – umso besser, egal in welcher Sportart.

Damit könnten Leistungs- und Spitzensport wieder an Glaubwürdigkeit und Akzeptanz gewinnen.

Über den Autor.
Ewald Walker (64), Pliezhausen, ist seit vielen Jahren als „Freier Mitarbeiter“ in verschiedenen Tageszeitungen tätig. Ehrenamtliche Tätigkeiten in Vereinen und Schule bilden die Grundlage seines sportjournalistischen Engagements. Zuletzt arbeitete er für die Leichtathletik-EM 2018 in Berlin im Bereich Kommunikation.