Laute Klagen und stille Siege: Beobachtungen in einem zerrissenen („Sport-) Deutschland“

Albrecht  Hummel

Im Jahre drei der Coronapandemie, auf dem Höhepunkt der vierten Welle, kurz nach der Neuwahl des Präsidiums des DOSB und vor der Wahl des neuen Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland am 08.12.2021 liefern unterschiedliche Nachrichten ein zerrissenes Bild vom angeblich vereinten „Sport-Deutschland“ und seiner großen „Sportfamilie“. Auf die emphatischen Überhöhungen im unglaubwürdigen Gerede von den Sportfamilien in Sportdeutschland wies der Vorsitzende der Ethik-Kommission des DOSB bereits zu Beginn der Weimarer Mitgliederversammlung zu Recht hin. Der Kontrast dieser Schönfärberei zur realen Wirksamkeit der Hörmann-Aktivitäten bis hin zur Einbeziehung von Methoden der forensischen Linguistik gegenüber Personen mit anderen, kritischen Meinungen, ist in den letzten Jahren  einfach zu groß geworden. Dabei geht es nicht nur um die unübersehbaren Abwärtsspiralen in den Erfolgsbilanzen des olympischen Leistungssports oder bei der fehlenden Akzeptanz der deutschen Bevölkerung gegenüber der Bewerbung um  Olympische Spiele, es geht um den Zustand des Sports in Deutschland als Ganzes und um Korrekturen an seinen bislang ungesteuerten und aus dem Ruder gelaufenen Entwicklungen. Die tatsächliche Nebensächlichkeit der angeblich schönsten Nebensache der Welt trat während der Corona-Pandemie offen zu Tage, in mehreren Bundesländern galt auch der Schulsport über längere Zeit als nachrangig und verzichtbar und einige sportferne deutsche Sportsoziologen vertreten ohnehin seit langem die zeitgeistige Auffassung, dass moderne, aufgeklärte demokratische Gesellschaften grundsätzlich keinen Leistungssport benötigen, erst recht keinen olympischen Spitzensport. Der organisierte deutsche Sport befindet sich offenkundig in einer Identitätskrise und läuft Gefahr, seine inhaltliche und funktionale „Mitte“ zu verlieren. Eine Konzentration auf soziale Dienstleistungen in den Bereichen von Integration und Inklusion zur Kompensation staatlicher Defizite kaschiert manches, es wird diese Probleme jedoch nicht lösen, sondern eher noch verstärken. Die Menschen der Moderne sind und bleiben bewegungsbedürftige und in aller Regel auch sportbedürftige Wesen und sie werden sich gegebenenfalls ihre eigenen „Bewegungs-und Sporttankstellen“ suchen und erschaffen.

Risse und Verwerfungen

Dieses sogenannte „Sport-Deutschland“ ist ein in vielfacher Hinsicht zerrissenes, polarisierendes, radikalisierendes und in mancher Hinsicht sogar noch ein deutlich geteiltes Land. Das lässt sich nicht Schönreden und daran ändert auch der berechtigte Hinweis nur wenig, dass bei den offenkundigen Fehlleistungen der DOSB-Führung nicht übersehen werden darf, dass an der Basis, in zigtausenden Sportvereinen aber auch im Schulsport der Kinder und Jugendlichen sehr gute Arbeit geleistet wurde. Es trifft zu, dass in der Praxis durch ehrenamtlich tätige Übungsleiterinnen und Übungsleiter und durch engagierte Sportlehrerinnen und Sportlehrer sehr viel Gutes erreicht wurde, obwohl grundsätzlich auf sportpolitischer und auch bildungspolitischer Ebene vieles versäumt wurde und einiges auch falsch lief.

Was die große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland am regelmäßigen Sportunterricht tatsächlich hatten, wurde erst für viele deutlich als der Sportunterricht über lange Zeit nicht mehr stattfand. Die langen Lockdown-Phasen der Pandemie offenbarten hier einiges, letztlich handelt es sich hierbei um ein großes, ungeplantes, natürliches Feldexperiment. Es gab nur wenige „Bewegungsgewinner“ aber sehr viele „Bewegungsverlierer“ unter den Kindern und Jugendlichen.  Als selbstzugeschriebener Anwalt für die sportbezogenen „Sozialtankstellen“ und „Gesundheitsstationen“ in der Republik, fehlte es dem DOSB an politischer Durchsetzungsfähigkeit und auch an gesellschaftlicher Anerkennung. Der Sport wurde über viele Monate hinweg in der Tat zur verzichtbaren(schönsten) Nebensache. Es traten dabei Spannungen und Verwerfungen zu Tage, die bislang über viele Jahre verborgen geblieben sind.

Wie konnte es soweit kommen?

Noch in den 1990er Jahren überwog nach unserer, zurückblickend gesehen, naiven Auffassung die Hoffnung und Erwartung, dass sich der Sport im nicht mehr geteilten Deutschland mit all seinen Formen und Facetten zu einem Paradebeispiel für eine gelungene, beispielgebende Vereinigung der beiden „Sport-Deutschländer“ erweisen könnte. Vieles sprach dafür, dass aus beiden Sportsystemen das Beste extrahiert werden würde und zu etwas qualitativ Neuartigem synthetisiert werden könnte. Diese Erwartungen einer vorbildgebenden konstruktiven Synthese im wiedervereinten Deutschland schienen gerade auf dem Gebiet des Sports realisierbarer zu sein als in zahlreichen anderen gesellschaftlichen Bereichen. Diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt, sie konnten angesichts der politischen Rahmenbedingungen auch nicht erfüllt werden. Die systemische Umstellung vom „Kalten Krieg“ auf „Wiedervereinigung“ ist auch auf dem Gebiet des Sports nicht gelungen.

Der Zustand der DOSB-Führung in der jüngeren Verganenheit, aber auch teilweise noch aktuell, markiert  symptomatisch den Tiefpunkt einer langjährigen Fehlentwicklung, die sich durch Abwärtsspiralen, Akzeptanzverluste, Kommunikationspannen und Missmanagement auszeichneten. Noch 1990 gab es die naive Hoffnung, die gesamtdeutsche Sportentwicklung würde zum besten und erfolgreichsten Sport führen, den Deutschland je hatte. Diese Ansätze und Entwicklungsmöglichkeiten gab es in vielen Bereichen. Im Schulsport, im Nachwuchsleistungssport, in Verbundsystemen von Schule und Leistungssport, in der akademischen Ausbildung von Sportlehrern und Trainern, in der sportmedizinischen Grundversorgung der Bevölkerung, in der Facharztausbildung von Sportmedizinern und in gut organisierten Wettkampfformaten für Kinder und Jugendliche.  Dazu gehörten auch die integrierten Schulsportgemeinschaften (SSG) in den Ganztagsschulen und die flächendeckend existierenden Schulschwimmzentren (SSZ) als erfolgreiche, organisationale Lösung des Anfängerschwimmens.

Ein Hauptproblem: Mangelnde Wertschätzung ostdeutscher Sporterfahrungen, Vorurteile und systematische Delegitimation

Was hier anfänglich als „Bonus des Ostens“, als bereichernde Mitgift für das gemeinsame Sportdeutschland angesehen wurde, entwickelte sich im Rahmen der übergreifend einsetzenden Delegitimationsstrategie zu Beginn der 90er Jahre sehr schnell zum sprichwörtlichen „Malus“. Gerade dort, wo der Osten etwas vorzuweisen hatte, wurde besonders intensiv delegitimiert, es durfte keine DDR-Identität geben. Aus der mehrheitlich vetretenen Sicht des „Westens“ konnte es nichts „Gutes“ im alles durchdringenden bösen Unrechtsstaat DDR mit seiner SED-Diktatur geben. Und beim Delegitimieren verbündeten sich die Eiferer des Ostens mit den Eiferern des Westens. Die Folgen dieser politischen Fehleinschätzungen zeigen sich drei Jahrzehnte später mit Vehemenz und einer sich verstärkenden Entfremdung. Nichts verschwand an Differenzen allein durch die vergehende Zeit oder durch kollektives Beschweigen. Die Wucht und die Plumpheit der kulturellen Überformung bis hin zur schlichten Okkupation waren zu groß.

Das gegenwärtige diffuse Protestverhalten im Osten, darunter bereits eine ganze Generation ohne direkte DDR-Erfahrung, äußert sich spektakulär bei Wahlen auf der Landes-und Bundesebene. Noch 1992 konnte bei einem Treffen der Unionsparteien im bayrischen Wildbad Kreuth ein hochrangiger Funktionsträger zum Umgang mit den Funktionseliten der DDR süffisant gnädig verlautbaren, „wir brauchen für diese Personen gewiss keine Lager, wir werden sie nicht in Lager sperren, das haben wir nicht nötig, wir werden sie an den Rand der Gesellschaft drängen“. Dreißig Jahre später befand sich die selbstverzwergte Unionspartei am Rand der ostdeutschen Gesellschaft.

Die Fehlentwicklungen zeigen sich auch bei Wahlen im Sport. Im neugewählten DOSB-Präsidium (04.12.2021) gibt es nun keinen ostdeutschen Vertreter mehr. Und die mediale Demontage des ebenfalls neugewählten Vorsitzenden des Sportausschusses des Deutschen Bundestages, Olympiasieger F.Ullrich (SPD) aus Thüringen, hatte bereits begonnen, bevor er die erste Rede im Sportausschuss gehalten hat. Seine Verstrickungen mit Dopingpraktiken im DDR-Sport vor über 30 Jahren standen dabei reflexartig und wie selbstverständlich im Zentrum. Wohl kaum ein Bereich der deutsch-deutschen Sportvergangenheit ist so mit Heuchelei und Verlogenheit imprägniert, wie die geschichtswissenschaftlich durchaus notwendige Aufarbeitung der Dopingpraktiken in den beiden „Sport-Deutschländern“. In den geschichtspolitischen, zeitgeistigen und pseudowissenschaftlichen Aufarbeitungsszenarien stand von vornerein fest, es darf keine Gleichsetzung von Doping-Ost und Doping-West geben. Was im Unrechtsstaat Ost ein systemisches Merkmal war konnte im Rechtsstaat West lediglich ein individuelles Versagen oder ein kommunikatives Missverständnis sein. Seriöse Wissenschaftler, die an dieser Prämisse nur vorsichtig kratzten, erhielten keine finanzielle Förderung und vor allem keine juristische Unterstützung durch ihre Auftraggeber mehr. Diese Delegitimations-und Sündenbockorientierung der politisch motivierten Forschung leistete keinen Beitrag zur Wiedervereinigung, sondern zur vertiefenden Spaltung.

Was vom gemeinsamen Kampf gegen die Doping-Pandemie im Sport übrig blieb

Bereits zu Beginn der 90er Jahre war erkennbar, dass Doping im Sport eine globale, pandemische Dimension erreicht hatte. Das epidemische Ausmaß war bereits überschritten, nahezu alle Staaten und Nationen waren von dieser selbstzerstörerischen Krankheit des Sports, insbesondere des Spitzensports aber nicht nur im Spitzensport, betroffen. Wer die Berichte der Welt-Antidoping-Agentur (WADA) zur Kenntnis nimmt, wird feststellen, dass alle olympische Sportarten davon betroffen sind und dass in allen Nationen, die an Olympischen Spielen teilgenommen haben, Dopingverstöße aufgedeckt wurden (vgl. Digel 2021). Das von Digel ins Gespräch gebrachte Gleichnis von Corona und Doping hat seinen heuristischen Reiz in mehrfacher Hinsicht, wenn damit folgende Annahmen verknüpft werden: Das Virus-Doping war irgendwie schon immer da, es wird im weltweiten Sport ständig mutieren, es wird nie (völlig) verschwinden und man muss damit im weltweiten Sport in irgendeiner Form leben. In welcher Form kann aber der Sport damit leben ohne sich zu zerstören.

Zugespitzt bieten sich drei Modelle an, die sich von der realistischen Annahme leiten lassen, dass dieses Doping-Virus nie gänzlich verschwinden wird (vgl. hierzu Digels Metapher vom „ewigen Virus“):

  1. Vollständige Freigabe in Verbindung mit Aufklärung;
  2. Partielle Freigabe für Erwachsene und besonderer Schutz für Kinder und Jugendliche durch Fürsorge, Aufklärung und Kontrolle;
  3. Dauerhafte, umfassende Aufklärung, Kontrollen, Sanktionierungen und Eindämmungen bis zur erhofften globalen Herdenimmunität.

Die Ausrichtung der deutschen Deutschen  Opferhilfe (DOH) – eine historische Fehlleistung

In der Aufbruchstimmung der 1990er Jahre fanden sich in unterschiedlichen Bereichen ambitionierte Sportler und Freunde des Sports aus West und Ost zusammen, die sich der generellen Bedrohung des Sports durch Doping, der davon ausgehenden gesundheitlichen Gefährdungen und dem damit verbunden Sportbetrug bewusst waren und energisch gegen diese „Krankheit des Sports“ aufklärend und präventiv vorgehen wollten. Aus einer dieser frühen Initiativ-Gruppen bildete sich der spätere, formal 1999 gegründete Doping-Opfer-Hilfe-Verein (DOH e.V.). Personen mit ganz unterschiedlichen biografischen Hintergründen, beruflichem Wissen und Können, sozialen Erfahrungen, zeitgeschichtlichen Aufarbeitungsinteressen, Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit im Sport und praktischen Sporterfahrungen trafen hier aufeinander. Der gemeinsame Nenner der beteiligten Akteure kann unvoreingenommen in der Schaffung von Voraussetzungen für einen zukünftig „besseren“, „sauberen“ und „humanen“ Sport“ gesehen werden. Die Akteure wollten gemeinsam gegen Dopingvergehen kämpfen, sie wollten gemeinsam aufklären und Dopingprävention betreiben. Zeitgeschichtliche Aufklärungen und Aufarbeitungen durch wissenschaftliche Rekonstruktion von Geschichte als Grundlage für künftige Entwicklungen und Ableitung präventiver Maßnahmen gehörten im Selbstverständnis der Akteure dazu.

Die Geschichte dieser Aufklärungs-, Aufarbeitungs-und Präventionsgruppe ist aufs Ganze gesehen nicht gut ausgegangen; im Gegenteil: die edlen Ausgangsintentionen haben sich in ihr groteskes Gegenteil verkehrt. Das Vorhaben ist schlichtweg gescheitert, es endete in offenen Briefen, in aufwendigen Gerichtsprozessen mit persönlichen Schuldzuweisungen bis hin zu medial inszenierten Handgreiflichkeiten zwischen Mitgliedern dieser Gruppe. Der Schaden, den das unprofessionelle, egomanische Wirken einzelner Mitglieder dieser Gruppe unter dem Strich für die Sportentwicklung in Deutschland angerichtet hat, ist letztlich viel größer als der ursprünglich erhoffte Nutzen. War das ein unvorhersehbarer Sonderfall oder eine geradezu strukturell angelegte Fehlentwicklung?

Es bleibt festzustellen: Die ursprünglich gutgemeinte Doping-Opfer-Hilfe Vereinigung (DOH e.V.) hat der Sportentwicklung in Deutschland Schaden zugefügt. Das hat vielfältige interne und externe Ursachen und eine eigene Eskalationsgeschichte.

Die individuellen Besonderheiten einzelner DOH-Akteure konnten sich nur deshalb so exzessiv und hasserfüllt entladen, weil eine diffuse Beschreibung der Ziele, die schwammige Bestimmung der inhaltlichen Aufgaben und die Vermischung deutlich zu unterscheidender Funktionen dies in dieser Ausprägung ermöglichte. Die Vorwürfe an die DOH, Steuergelder nicht zweckgebunden zu verwenden und freihändige Opferentschädigungen vorzunehmen, sind nachvollziehbar belegt (vgl.u.a.Rüdiger Nickels Beiträge in diesem Magazin). Das DOH-Konstrukt selbst wurde zunehmend, wissentlich und gewollt, politisch missbraucht. Die Tiefpunkte dieser Fehlentwicklungen wurden im vergangenen und in diesem Jahr erreicht. Dennoch ist es nicht zielführend, diese Fehler ausschließlich einzelnen Personen und deren Selbstinszenierung anzulasten. Eine Personifizierung oder gar Psychologisierung hilft hier nicht weiter.

Das strukturelle Grundübel: Die einseitige politische Instrumentalisierung der Doping-Aufarbeitung der DOH

Ein Grundübel und vermutlich der dominante Geburtsfehler des DOH-Konstruktes war deren politische Instrumentalisierung im Sinne eines geschichtspolitischen Projektes zur Aufarbeitung und Abrechnung mit der SED-Diktatur in der DDR. Diese Adressierung führt, was erst einmal irritierend klingt, letztlich zur Entlastung, Entsorgung und Bagatellisierung der eigentlichen Doping-Problematik. Es wurde das klassische Sündenbock-Phänomen bedient. Mit der Fokussierung der DOH-Aktivitäten auf die Doping-Praktiken im Leistungssportsystem der DDR bei gleichzeitiger Verknüpfung mit Verfahren zur finanziellen Entschädigung von identifizierten Opfern der Dopingpraktiken, entstand eine strukturelle Schieflage und politisch motivierte Einseitigkeit, die zahlreiche Folgeprobleme, Zielkonflikte und Fehlentwicklungen auslöste: Die Entsorgung und Bagatellisierung der tatsächlichen Dopingproblematik, der Verlust an Wissenschaftlichkeit und Evidenz, zahlreiche Erfindungen von Wahrheiten und „alternativen Fakten“, so die Erfindung eines flächendeckenden Zwangsdopings in der DDR, die Erfindung von Doping-Opfern durch Umdeutung von Doping-Tätern zu Doping-Opfern, die Entdeckung der Opfer-Hilfe als Geschäftsmodell und die Hybris eines Vereins, der sich anmaßt, die Bezeichnung eines staatlich anerkannten Dopingopfers verleihen zu dürfen, gehören zu den markantesten Folgeerscheinungen. Die angelegten Struktur-und Zielkonflikte dieser Organisation in Verbindung mit den individuellen Interessenlagen und verstärkt durch das Ego ausgeprägter Persönlichkeiten musste geradezu zwangsläufig zu einer explosiven sozialen Gemengelage führen.

Das „ewige“ pandemische Virus „Doping“ wurde gewissermaßen zeitlich und regional auf die DDR eingegrenzt, ausschließlich dort wurden sowohl die Täter als auch deren Opfer ausgemacht und das Ganze als Folge des Wirkens der SED-Diktatur eingeordnet. Gemäß §2 des vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Dopingopfer-Hilfegesetz vom 24.August 2002 sind ausschließlich Hochleistungssportler und Nachwuchsleistungssportler der ehemaligen DDR anspruchsberechtigt, denen ohne ihr Wissen oder gegen ihren Willen Dopingsubstanzen verabreicht worden und die auf Grund dessen, erhebliche Gesundheitsschäden erlitten haben.

Dieses handwerklich schlampig gemachte Gesetz bagatellisiert die tatsächliche Dopingproblematik und trägt sprichwörtlich zur Vertiefung der Risse in der deutschen Sporteinheit bei. Dieses Gesetz ist ganz gewiss kein Ruhmesblatt der Gesetzgebung des Deutschen Bundestages und es ist bezeichnend für die mangelnde Qualifikation der betreffenden Fachausschüsse, die derartige Gesetzesvorlagen erarbeiteten. Eine besonders unrühmliche Rolle spielte dabei auch der Sportausschuss des Deutschen Bundestages. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätten alle (!) Mitglieder des DOH ihre Arbeit niederlegen müssen und sagen, an diesen politischen Machenschaften beteiligen wir uns nicht. Bereits zu diesem Zeitpunkt war allen Insidern bekannt, dass die Dopingproblematik in vollem Umfang auch in der „alten“ BRD verbreitet war und sich im vereinigten Doping-Sport-Deutschland auch nach 1990 fortsetzte. Die Dissertation von Simon Krivec (2017) zur Anwendung von anabolen-androgenen Steroiden im Leistungssport der Alt-BRD von 1960-1988 gibt darüber differenziert Auskunft. Dabei werden die Auswirkungen des Doping-Virus in der Fitness-Branche und in der informellen Sportszene mit den marktwirtschaftlich unterstützten Enhancement-Praktiken noch gar nicht mitbedacht. Es gab auch im Westen organisiertes Doping mit Wissen und Duldung staatlicher Institutionen, um im leistungssportlichen Systemvergleich konkurrenzfähig zu sein. Der bundesdeutsche Leistungssport besaß durch Überläufer aus der DDR keine Informationsdefizite. Die Doping-Praktiken sind inhuman und betrügerisch unabhängig davon, von welcher systemischen Logik sie sich leiten lassen. Die inhumanen Methoden des Dopens diskreditieren sich selbst.

„Doping – West“ darf nicht so schlimm sein wie „Doping-Ost“

Selbstverständlich wurden diese Verweise auf das West-Doping von Anfang an vehement relativiert und die vermeintlich gravierenden, grundsätzlichen systemischen Unterschiede (flächendeckend, staatlich, zwangsweise) zum Ost-Doping hervorgehoben, um unzulässige Gleichsetzungen bei den sich aufdrängenden Vergleichen zu vermeiden. Selbst der Staat mischte mit, wenn man die steuergeldfinanzierten Forschungen zum grotesk-peinlichen „Blähbauch-Doping“ der Leistungsschwimmer im Rahmen der Vorbereitungen der Olympischen Spiele in Montreal 1976 bedenkt oder sich an die diverse „Cocktail-Verabreichungen“ durch wissenschaftlich führende Sportmediziner jener Jahre erinnert. Die Staatlichkeit der alten BRD konnte subtil steuernd wirksam werden ohne staatlich auszusehen, sie benötigte keinen Staatsplan zur Erforschung trainingsunterstützender Mittel. Kenner der westdeutschen Dopingszene beschreiben die Praktiken als toleriertes Staatsdoping oder Staatsdoping unter stillem Druck. Beeindruckend war auch der Informationsaustausch und die „stille“ Kooperation zwischen west-und ostdeutschen Sportmedizinern, wenn es um den Abgleich von Erkenntnisständen bei der Doping-Diagnostik ging. Hier erkannte man schnell gemeinsame Interessen „um nicht Erwischt werden“ auf internationaler Bühne über politische Systemgrenzen hinweg.

Dies einseitige Argumentation zu Lasten des Ost Dopings konnte und kann vor dem pandemischen Hintergrund d der Doping-Seuche nicht überzeugen. Sie konnte auch deshalb nicht überzeugen, weil die gesamte Faktenlage nicht tragfähig war. Die vorgenommene zeitgeschichtliche und regionale Eingrenzung des deutschen Dopingproblems auf die DDR ist so absurd wie wenn eine  Eindämmung der gesetzlich noch zu regelnden kirchlich-sexuellen Mißbrauchsproblematik in deutschen Religionsgemeinschaften lediglich auf bayrische Messdiener und Chorknaben beschränkt würde. Auch damit würde der tatsächlichen Problemlage nicht entsprochen werden.

Die DOH spaltet und erfindet neue existenzsichernde Aufgaben

Die DOH Führung protestierte nicht gegen diese erkennbare Fehlentwicklung, nahm keine Kurskorrektur vor und stellte erst recht nicht ihre Arbeit ein. Einige besorgte und fachlich qualifizierte Mitglieder kritisierten die Missstände (vgl. „Blackbox DOH“) und verließen den DOH-Verein. Das beschleunigte und verstärkte eher die eingetretene, politisch instrumentalisierten, geschichtsvergessenen und irrationalen Opfer-Inszenierungen.

Die DOH-Organisation entwickelte sich zu einem hybriden Gebilde zwischen einer freiwilligen Vereinigung und einer Quasi- Behörde. Sie stufte Menschen willkürlich in erfundene Täter-Opfer-Schema ein, sie verlieh selbstanmaßend Pseudo-Titel (staatlich anerkanntes Dopingopfer), sie vergab Auszeichnungen und finanzielle Entschädigungen, sie verstand sich als Tribunal, sprach nachhaltig wirksame „Empfehlungs-Entscheidungen“ für finanzielle Opferentschädigungen gegenüber dem Bundesverwaltungsamt aus und entfaltete ein zukunftssicherndes dynamisches organisationales Eigenleben.

Der funktional, wissenschaftlich und politisch überforderte DOH-Verein entwickelte ein Eigenleben mit all den Merkmalen, wie sie organisationswissenschaftlich seit langem bekannt sind und für derartige organisationale Gebilde beschrieben werden: Solche multifunktionalen Organisationen folgen dem Ziel ihres Selbsterhalts und ihrer ständigen Existenzsicherung. Sie werden dabei außerordentlich erfinderisch, sie erfinden den Sinn und Zweck ihres Daseins permanent neu und sie agieren als ein sich selbst regulierender Organismus. So auch die DOH-Organisation: Die Größe der Aufgabe wird dramatisiert und die Zahl der Opfer wird überhöht. Es werden stets existenzsichernde Aufgaben gesucht und erfunden und wenn Aufgaben historisch-zeitbedingt auslaufen und faktisch wegfallen, müssen eben neue Aufgabenformate entdeckt und erfunden werden. Die üppige Finanzierung des DOH-Konzeptes mittels Steuergelder (ausreichend Geld und wenig echte Opfer) begünstigt Missbrauch und lässt intelligente Geschäftsmodelle entstehen.

In der Medizinwirtschaft und Gesundheitsindustrie wuchert die Geldmacherei mit der Erzeugung von angeblichen Patienten seit langem und die vielfach beschriebene „Krankheitserfinderei“ hat Konjunktur. Die Ökonomisierung von Gesundheit fällt dabei umso leichter, je deutlicher Gesundheit als ein imaginärer Zustand beschrieben wird, den ohnehin keiner mehr erreichen kann. Damit wird nahezu zwangsläufig der Nährboden für gesundheitsökonomische Geschäftsmodelle geschaffen.

Die Entdeckung des Transgenerationalen durch die DOH: Gene und Meme sollen die Zukunft sichern

Ein ausbaufähiges neues Feld der Aufgabenerweiterung durch Aufgabenerfindung ergab sich für die DOH-Organisation durch die Einordnung des Doping-Geschehens in das aktuelle, wissenschaftlich kontrovers diskutierte transgenerationales Paradigma. Das betrifft die altbekannte soziale Vererbung (die Rolle der Meme), das betrifft die unbestrittene genetische Vererbung (die Rolle der Gene) und das betrifft die heftig umstrittene Verknüpfung von Beidem, dass Umschlagen sozial erworbener Eigenschaften und Erfahrungen (Traumata!) in genetische Dispositionen. Für das eine Lager handelt es sich hier um gesichertes wissenschaftliches Wissen und für das andere Lager ist das schlichte „Psycho-Kacke“.

Die Grundannahme lautet: Erworbene gesundheitliche Schäden durch Doping wurden als erblich, als erblich im biogenetischen Sinne verstanden und somit als vererbbar an nachfolgende Generationen, also an Kinder gedopter Athleten. Die Annahme bzw. Nicht-Annahme der These zur Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften unterscheidet seit langem die „Darwinisten“ von den „Lamarckisten“ und diese Differenz hat bereits verhängnisvolle, wissenschaftsgeschichtliche Spuren hinterlassen (vgl. die leidvolle Lyssenko-Stalin -Affäre).

Die gegenwärtig wissenschaftlich besonders umstrittene, neo-lamarckistische Position, die von einigen Vertretern der Epigenetik gestützt wird und auf ein genetisch vererbbares zelluläres Gedächtnis setzt, ermöglicht die organisationale Existenzsicherung durch Aufgabenerweiterung und Aufgabenerfindung der DOH auf Dauer. Kinder und Kindeskinder von gesundheitsgeschädigten, angeblich zwangsgedopten (DDR-) Athleten könnten in Zukunft zu anspruchsberechtigten Doping-Opfern werden. Ein fast schon an Absurdität grenzendes geniales Geschäftsmodell. Der ironische Verweis des Molekularbiologen und früheren DOH-Mitgliedes W.Franke auf die unbehandelten Dauerschäden der Traumata des Dreißigjährigen Krieges in Westfalen karikiert diesen Ansatz treffend.

Schon der eindeutige Nachweis der Verursachung von dauerhaften Gesundheitschädigungen bei Athleten durch Dopingsubstanzen ist im konkreten, individuellen Einzelfall schwer zu erbringen. Das politisch motivierte Geschäftsmodell der DOH erweist sich eben auch als aufgeschlossen  gegenüber sog. „alternativen Fakten“.

Ostbeauftragte Forschungsförderung soll bei der wissenschaftlichen Legitimation helfen

Diese neue, epigenetische Sicht auf das transgenerationale Vererbungsgeschehen bedarf offensichtlich der weiteren Erforschung. Als großzügiger Forschungsförderer mit besonderer Expertise für derartige Drittmittelprojekte wirkt hier nicht die DFG, die Frauenhofer-Gesellschaft oder die Leopoldina, hier ist es der (ehemalige) Ostbeauftragte der Bundesregierung, ein spendierfreudiger Forschungsförderer. Mit insgesamt 2,4 Millionen Euro sollen  die gesundheitlichen Spätfolgen der politisch traumatisierten DDR-Bevölkerung untersucht werden. Die Klinik für psychosomatische Medizin der Universität Rostock ist dabei vor allem für die gesundheitlichen Spätschäden des unterstellten, flächendeckenden Zwangsdopings in der DDR und die Schädigungen durch Machtmissbrauch im DDR-Leistungssport zuständig. Die Rostocker Psychosomatiker gehen dieser Problematik nicht etwa mittels naturwissenschaftlicher, molekularbiologischer, genetischer und epigenetischer Diagnostik auf die Spur der zellulären Vererbung traumatischer Erfahrungen, sondern durch den Einsatz von „sozialwissenschaftlich fundierten Fragebögen“ zur Ermittlung und Verwertung von Selbstauskünften Betroffener und sie setzen eher auf die Meme als auf die Gene.

Folgende-als faktisch angenommene- Ausgangspositionen lassen dabei das erkenntnisleitende Interesse der Rostocker Psychosomatiker bei der Aufarbeitung gesundheitlicher Spätschäden durch DDR-Unrecht erkennen:

Das Spektrum der gesundheitlichen Spätfolgen des Dopings reicht von veränderten Schmerzwahrnehmungen durch frühere chemische Anhebung der Schmerzschwelle im Kindes-und Jugendalter bis hin zu schweren Krebserkrankungen.

Machtmissbrauch kommt im Spitzensport häufiger vor als in der Gesamtgesellschaft, das ist auf der ganzen Welt so. Sexueller Missbrauch ist eine stark verbreitete Form des Machtmissbrauchs und ritueller Gewalt im Leistungssport.

Ungefähr 12.000 Leistungssportler der DDR waren vom staatlich organisierten Zwangsdoping betroffen, viele davon im Kindesalter. 300 Athleten starben an den Folgen des Dopings. Die Lebenserwartung von DDR-Dopingopfern liegt zehn bis zwölf Jahre unter dem allgemeinen Durchschnitt.

Auf welchem wissenschaftlich gesicherten Wissen basieren diese Annahmen? Warum finden andere, empirisch fundierte Erkenntnisse zur Lebenserwartung von Olympiateilnehmern in Ost-und Westdeutschland (so z.B. vonThieme) oder zur differenzierten Betrachtung des angeblichen oder tatsächlichen „Zwangsdopings“, noch dazu in der logisch widersprüchlichen Verkopplung von „unwissentlich“ und „unwillentlich“ (so z.B, von Misersky) keine Beachtung? Wenn erst einmal das politisch opportune, theoretische Konstrukt weltanschaulich verfestigt vorliegt, ist es ja bekanntermaßen-in bester Hegelscher Tradition-schlimm um die Tatsachen bestellt.

Diese interessengeleitete Auftragsforschung des (ehemaligen) Ostbeauftragten verspricht von vornherein eine vergleichbare wissenschaftliche Seriosität wie das Forschungsprojekt, das zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz durchgeführt wurde. Die  Freiheit der Wissenschaft und die gebotene Objektivität werden dabei ganz gewiss nicht gewährleistet.

Die regional begrenzte Aufarbeitungsforschung erhält aber noch eine erweiterte, eine besondere historische Rahmung: Die Ostdeutschen gelten ja ohnehin als doppelt diktaturgeschädigt, und das hat besonders weitreichende psychosomatische Folgen. An die nichtaufgearbeitete, zwölfjährige NS-Diktatur schlossen sich im Osten mehr oder weniger nahtlos 40 Jahre SED-Diktatur im Unrechtsstaat-DDR an. Das führte zwangsläufig dazu, dass den bedauernswerten, unaufgeklärten Ostdeutschen, gewissermaßen als inkorporierter Homunkulus, immer noch der „kleine Hitler“, eventuell modifiziert, ein „kleiner Stalin“ innewohnt und deren Denken und Verhalten nachhaltig beeinflusst.

Für Doping-Praktiken, Machtmissbrauch, Fremdenfeindlichkeit, Querdenkereien, Terror-Agenten, Amok-Läufe und anderes mehr, macht sie das dann besonders anfällig. Gegen derartige Spätschäden ist kein psychosomatisches Kraut gewachsen, hier muss verstärkend eine schriftstellerisch aktive Exorzistin ans Werk, um den ewigen Ossis diesen faschistoiden Doping-Teufel für immer auszutreiben.

Dieses absurde Narrativ bedient eine durchaus phantasiebegabte „Verskünstlerin“, früher hochgedopte ostdeutsche Sprinterin und zugleich eifernde Dopingaufklärerin, die sich vor einem Berliner Kammergericht im Dezember 2021 in der Klageerwiderung eines namhaften Anwaltes anhören durfte: „Die Klägerin ist eine echte Hochstaplerin. Sie setzt nach der Wende in der Bundesrepublik fort, was sie zu DDR-Zeiten bereits getan hat: Lügen, betrügen, täuschen, massiv den eigenen Vorteil suchen.“

Derartige Aussagen vor einem deutschen Gericht sind irritierend, erschreckend und schwer verdaulich zumal im abschließenden Gerichtsurteil diesen Äußerungen nicht widersprochen und die Klage der Klägerin keinesfalls zurückgewiesen wurde. Der mediale Umgang mit diesem Gerichtsurteil ist bemerkenswert. Er reicht vom Beschweigen in den Leitmedien FAZ und SZ über „endlich kommt die Wahrheit ans Licht“in einigen ostdeutschen Tageszeitungen bis hin zu beflissentlichen, gesichtswahrenden Bemühungen einzelner Preisverleiher, dass man bei der Klägerin doch zwischen Person und (schriftstellerischem) Werk unterscheiden müsse. Das Werk als Doping-Opfer-Helferin und Dopingaufklärerin nimmt daran jedoch erheblichen Schaden. Dieser Sache dient es nicht.

Die schriftstellerisch begabte Klägerin kann bei manchem mittlerweile Mitleid hervorrufen. Verleiher literarischer Auszeichnungen und Verdienstorden insistieren bereits auf eine deutliche Trennung von Person und Werk. Die intensive, verstörende Aufarbeitung ihrer eigenen Biografie und Familiengeschichte, die anscheinend voller Verdrängung, Hass, Verbitterung und Schmerz gewesen war, lässt aufhorchen. Die Wahrnehmungen und Deutungen ihrer eigenen Biografie nimmt sie jedoch unbekümmert als Blaupause und Maßstab, um pauschalisierend auf den Zustand der ostdeutschen Gesellschaft als Ganzes zu schließen. Dabei verschwimmen die Übergänge zwischen schriftstellerisch Fiktionalem und sachlich Faktischem. Diese Art der Aufarbeitung mag der eigenen Selbstfürsorge dienen, es ist jedoch eine denkbar ungünstige Voraussetzung, um wissenschaftlich fundiert als evidenzbasierte Doping-Aufklärerin in der Doping-0pfer-Hilfe zu arbeiten.

Lehren aus der deutsch – deutschen Geschichte zu Opferentschädigungen wurden nicht gezogen

Die jüngere deutsche Geschichte ist reich an politisch motivierten Opferinszenierungen mit konjunkturell schwankenden Entschädigungsansprüchen, mit variierenden Opfergedenktagen und mit Prozessen vor Gericht zwecks Klärung des Opferstatus. Unmittelbar nach Beendigung des 2.Weltkrieges schien anfänglich klar zu sein, wer die Täter und wer die Opfer des Faschismus waren. Auf Anordnung der Alliierten wurden in allen Besatzungszonen Ausschüsse für die Opfer des Faschismus (OdF) gebildet. (Der deutsche Nationalsozialismus wurde als Teil und Ausprägungsform des Faschismus angesehen.) In den ersten Nachkriegsjahren wurde das feierliche Gedenken an die Opfer des Faschismus an einem festgelegten Gedenktag in allen Besatzungszonen überparteilich und konfessionsübergreifend begangen. „Nie wieder Faschismus“, „nie wieder Nationalsozialismus“ galten als Prämissen für das wiederaufzubauende Deutschland in Ost und West.

Spätestens mit der deutschen Teilung (1949), dem einsetzenden Kalten Krieg, der strukturellen und personellen Restauration im Westen und dem radikalen Neubeginn im Osten durch den Aufbau eines kommunistischen Staates, war es mit dem konsensualen Herangehen zu Ende. Auf einmal war es gar nicht mehr so klar wer Opfer, wer Täter und wer aktiver Kämpfer gegen den Faschismus war. Es fanden politisch motivierte Abgrenzungen, Abstufungen und Ausgrenzungen statt. Es ging um finanzielle Entschädigungen, Renten-und Pensionsansprüche. Es ging um politische Deutungshoheiten über die Vergangenheit, um Instrumentalisierungen und Tabuisierungen. Kommunistische Opfer des stalinistischen Gulag-Systems durften (offiziell) keine Opfer im Osten sein. Der übersteigerte Buchwald-Mythos avancierte zum Gründungsmythos der DDR und verwischte bei einigen kommunistischen Funktionshäftlingen nachweisbar die Täter-Opfer-Differenz. Das kollektive Beschweigen in der westdeutschen Restaurationsphase begünstigte den Mythos von der „sauberen“ Deutschen Wehrmacht, das Ende der „Naziriecherei“ und förderte einen abstrusen Kommunistenhass.

Die juristischen Bemühungen zum Verbot der VVN-Organisation (Vereinigung Verfolgter des Naziregimes) scheiterte schmählich vor einem westdeutschen Gericht auf Grund der Nazibelastung der dortigen Richter. Der Opferstatus spielte im Osten eine große Rolle, deutlich wurde zwischen „passiven“ Opfer des und „aktiven“ Kämpfern gegen den Faschismus unterschieden. Bedeutsam wurde die konfessionelle, die parteipolitische und die „klassenmäßige“ Bindung der Opfer und Kämpfer. Die Zuschreibung des Opfer-Status hatte transgenerationale Auswirkungen bis in die jüngste Vergangenheit. Und die Ergebnisse der unterschiedlichen, politisch instrumentalisierten Aufarbeitungen bzw. Nicht-Aufarbeitungen zeigen sich durch soziale Vererbung noch heute in Ost und Westdeutschland.

Die Herausforderungen der Opferentschädigungen nach den Verbrechen des Naziregimes haben zweifelsohne eine ganz andere historische und politisch-moralische Dimension als die Aufarbeitung der Dopingpraktiken im deutschen Spitzensport nach 1990. Aber dennoch, dass Aufarbeitungsgeschehen nachdem zweiten Weltkrieg und das nachfolgende, geschichtspolitisch instrumentalisierte Aufarbeiten im späteren geteilten Deutschland hätten ein Lehrstück zur Vermeidung von Fehlern in Aufarbeitungsprozessen im wiedervereinten Deutschland auch im Sport sein können. Diese Chancen wurden offensichtlich vergeben, es fand eine schlichte Fortsetzung des Kalten Krieges mit subtileren Mitteln statt, es musste wieder gesiegt werden, um die Unterlegenen zu demütigen. Den Schaden erleidet „Sport-Deutschland“.

 

Letzte Überarebeitung:27.9.2022