Doping-Opfer-Hilfe – ein Steuerzahler stellt Fragen

Ein Gastbeitrag von Rüdiger Nickel

Es geht um Geld, um richtig viel Geld aus der Sicht eines Normalsterblichen, eines normalen Steuerzahlers: Um mehr als 6 Millionen €, wenn man dem Bericht der Bundesregierung zum Dopingopfer-Hilfegesetz (DOHG) folgt. Gelder, die anerkannten Dopingopfern als zusätzliche Entschädigung für erlittene erhebliche körperliche Beeinträchtigungen seit Inkrafttreten des DOHG als einmalige Zahlung gewährt worden sind.

Genau waren es  bis zum 10. September 2018  6.226.500 € (nämlich für 593 von 806 gestellten  und bewilligten Anträgen à 10.500 €nach dem DOHG). Bis zu diesem Zeitpunkt wurden 73,8 % der gestellten Anträge positiv beschieden, nur 4,5 % abgelehnt. Die restlichen befinden sich noch in Bearbeitung (vgl. Antwort der Bundesregierung vom 24.09.2018 – Drucksache 19/4491).

Und es geht um noch mehr Geld, das der Dopingopfer-Hilfevereine, eine Art Gewerkschaft für Dopinggeschädigte, als Entschädigung für Dopingopfer prognostiziert hat, immerhin weitere 15.000 Geschädigte, die aus dem Opfertopf, also aus Steuermitteln, entschädigt werden sollen. Werden diese weiteren Geschädigten als Dopingopfer anerkannt und legt man die bisherige Ablehnungsquote zugrunde, sind das 150.412.500 € zusätzliche Entschädigung für prognostizierte Dopinggeschädigte.

Um diese Summen geht es, wenn über die Gewährung von Entschädigungen gesprochen wird, über die das Bundesverwaltungsamt nach Prüfung, ob die Voraussetzungen hierfür nach dem DOHG erfüllt sind, entscheidet. Um diese Summen geht es auch, wenn darüber befunden wird, ob über die Gewährung leichtfertig und ohne vollständige Beachtung der gesetzlichen Gewährungsvoraussetzungen entschieden wird.

Voraussetzung für die Gewährung einer Entschädigung nach dem 2. Dopingopfer-Hilfegesetz  ist, dass einem Hochleistungssportler im ehemaligen DDR-System Dopingmittel ohne sein Wissen oder gegen seinen Willen verabreicht worden sind und schwere körperliche Gesundheitsbeeinträchtigungen auf diesem Dopingkonsum beruhen. Erforderlich ist dabei eine „doppelte Kausalität“: zum einen der Nachweis, dass die körperlichen Beeinträchtigungen – psychische Beeinträchtigungen werden vom DOHG ausdrücklich nicht erfasst – tatsächlich auf der Verabreichung von Dopingsubstanzen beruht, also nicht auf anderen Schädigungsursachen. Für diesen Nachweis ist somit beachtlich, ob eingetretene Schäden auf einem allgemeinen gesundheitlichen Risiko oder in direkter Weise auf dem Dopingkonsum basieren. Mit einzubeziehen ist insbesondere die Beantwortung der Frage, wie hoch die statistische Wahrscheinlichkeit ist, dass ein normaler Bürger im Vergleich zu DDR Spitzensportlern von solchen Schicksalsschlägen heimgesucht wird.

Nach dem DOHG ist ein Kausalitätsnachweis dann erbracht, wenn das Beruhen der Schäden auf dem Dopingkonsum „wahrscheinlich“ ist. Diese Nachweiserleichterung schafft das DOHG ausdrücklich, da andernfalls der vollständige Nachweis erbracht werden müsste, also keine vernünftigen Zweifel an der Kausalität bestehen dürften.

Erforderlich ist also der Nachweis, dass die körperlichen Schäden „wahrscheinlich“ auf einem Dopen beruht, das entweder gegen den Willen oder ohne das Wissen des Sportlers erfolgte. Dass dieser Kausalitätsnachweis (Beruhen der Körperbeeinträchtigung gerade und wahrscheinlich auf Dopen ohne Wissen oder gegen den Willen) außerordentlich schwierig ist, liegt gerade bei denjenigen Leistungssportlern auf der Hand, denen solche gesundheitsschädlichen Mittel sowohl im Kindes- und Jugendalter (in dem sie mangels Geschäftsfähigkeit nicht einwilligungsfähig waren) als auch im Erwachsenenalter verabreicht worden sind.

Dass Kinder und Jugendliche aufgrund fehlender Einwilligungsfähigkeit als Geschädigte anzuerkennen sind, wenn sie aufgrund dieses Missbrauchs erhebliche körperliche Schäden davongetragen haben, ist unbestritten. Nur: Wenn der Konsum auch im Erwachsenenalter fortgesetzt wurde, ist es schwierig und unter medizinischen Gesichtspunkten wohl kaum möglich, dass ein empirisch gesicherter Nachweis erbracht werden kann, dass die Schäden auf das Dopen als Kind oder Jugendlicher, aber nicht als Erwachsener zurückzuführen sind. Zumindest erzeugt eine Anerkennung als Dopingopfer als Voraussetzung für eine Entschädigung zumindest erst einmal Zweifel, denen nachzugehen ist.

Wer weiß, wie schwer es für andere Geschädigte ist, die Voraussetzung einer Opferrente oder eines Schadensersatzanspruches zu erfüllen und auch nachzuweisen, weiß auch, welche Hürden solche Geschädigte in anderen Bereichen zu überwinden haben.

In dem hier vorliegenden Zusammenhang stellt sich die Frage: Wie überprüft das Bundesverwaltungsamt, das für die Entschädigung zuständig ist, eventuelle Zweifel, vor allem die Wahrscheinlichkeit des Beruhens der Schäden auf Doping ohne Wissen oder gegen den Willen des Gedopten? In der geübten Praxis des Bundesverwaltungsamtes geht das ganz einfach: Es fragt den Antragsteller, ob ihm Dopingsubstanzen in dem angegebenen Gesamtzeitraum „ohne Wissen“ oder „gegen meinen Willen“ verabreicht worden sind. Der Antragsteller kann das dann begründungslos einfach ankreuzen: Ein Kreuz bei “ohne mein Wissen“ oder „gegen meinen Willen“ reicht als Nachweis aus. Das muss der Antragsteller nicht weiter begründen und „wahrscheinlich“ machen, geschweige denn nachweisen (durch Angabe von Nachweismitteln wie z.B. verabreichende Trainer/Ärzte oder Leidensgenossen beim Dopen, die man befragen oder von denen man eine Erklärung verlangen könnte).

Dem Antragsteller hat man es somit leicht gemacht. Er hat die eine oder andere Alternative anzukreuzen. Wenn er also ankreuzt, dass ihm die Dopingsubstanzen „ohne sein Wissen“ verabreicht worden sind, dann ist das als Nachweis ausreichend. Jeder Antragsteller hat schließlich auch zu versichern, „dass seine Angaben der Wahrheit entsprechen“ (siehe Antragsformular für finanzielle Hilfen nach dem Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetz (DOHG).

Dass bei solchen pauschalen Angaben Zweifel entstehen können, liegt auf der Hand, insbesondere dann, wenn im Hinweisblatt für Antragsteller/innen klargestellt wird, dass die Voraussetzung „ohne Wissen“ schon dann nicht (mehr) erfüllt ist und damit Entschädigung entfällt, wenn man es für möglich gehalten hat, dass es sich bei den eingenommenen Substanzen um Dopingmittel handelte und man dies billigend in Kauf genommen hat.

Betrachtet man nun die Praxis des Erwachsenendopings (sowohl in der DDR als auch in den „alten Bundesländern“), so wurden erwachsenen Leistungssportlern „Mittel“ verabreicht mit der Begründung, dass das „gut und förderlich“ für die Leistungsentwicklung sei. Verabreicht wurden diese Mittel in der Regel von Trainern oder Ärzten, die für die Leistungsentwicklung verantwortlich waren. Verabreicht wurden diese Mittel nicht beim Kaffeekränzchen als Beigabe zum Kaffee und Kuchen oder abends zum Bier als Knabberzeugs. Auch nicht zum Kindergeburtstag als Smarties, wie es Christian Schenk in seiner Autobiografie verharmlosend preisgegeben hat. Schenk schreibt: Als Erwachsene haben wir morgens bunte Pillen bekommen, die wir ohne Nachfrage, was da drin ist, konsumiert haben, weil es ja als förderlich für die Leistungsentwicklung oder Verletzungsvorbeugung oder Regeneration sei. Wer das dann schluckt (oder sich spritzen lässt), hat sich dem konkreten Wissen fahrlässig oder bewusst entzogen, nach dem Motto „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“. Als Leistungssportler in einer Zeit, in der es insbesondere auch darum ging, Leistung nicht nur durch Training, sondern auch durch unterstützende Mittel zu steigern, war jeder verpflichtet nachzufragen, sich zu informieren, sich zu vergewissern, um was für Mittel es sich handelt, ob diese Mittel  verboten waren oder nicht. Dass Leistungssteigerungen zum damaligen Zeitpunkt auch durch verbotene unterstützende Mittel herbeigeführt wurden, war allgemein bekannt, insbesondere den Betroffenen selbst. Die leistungsfördernden Smarties waren übrigens heiß begehrt: Es soll später als Dopingopfer Anerkannte gegeben haben, die sich beschwert haben, zu wenige bunte Smarties zu bekommen. Sie wollten mehr, zumindest so viel wie ihre Konkurrenten im Club, was ihnen allerdings verweigert wurde.

In dem Muster eines fachärztlichen Gutachtens, das das Bundesverwaltungsamt Antragstellern zum Nachweis der Erfüllung der Voraussetzungen zur Verfügung stellt, wird der Arzt ausschließlich um Auskunft darüber befragt, „welche der von ihm festgestellten erheblichen Gesundheitsschäden mit überwiegender Wahrscheinlichkeit (> 50 %) durch die Verabreichung von Dopingsubstanzen entstanden“ sind, nicht aber welche davon auf Dopen ohne Wissen oder gegen den Willen zurückzuführen sind. Abverlangt wird also nur ein „halber Kausalitätsnachweis“. Die zweite Hälfte kann mit einem einfachen „Kreuzchen“ auf dem Antragsformular erfüllt werden.

Durch das fachärztliche Gutachten kann somit ein nachvollziehbarer Nachweis gar nicht erbracht werden, weil er vom Gesetzgeber auch nicht gefordert wird.

Trotzdem befürwortet das BVA solche Anträge, obwohl die Erfüllung dieser Voraussetzungen weder nachgefragt, geschweige denn erbracht worden ist.

Wenn dies keine „Zweifel“ an der Erfüllung der Voraussetzungen hervorruft, dann fragt man sich, wann der Steuerzahler überhaupt noch Zweifel artikulieren darf. Folgt man dem Gesetz, so hat das BVA bei vorhandenen Zweifeln über die Erfüllung der Voraussetzungen für die Gewährung finanzieller Hilfen einen „Beirat“, bestehend aus sechs Personen einzusetzen, der in solchen Zweifelsfällen Stellung zu nehmen und diese Zweifel auszuräumen hat.

Doch die naheliegende Frage, bei wie viel Fällen aufgrund vorhandener Zweifel bei der Antragstellung (bisher 806 Anträge, weitere 15.000 erwartet) der Beirat angerufen wurde, lässt sich nicht beantworten. Der gesetzlich für diese Fälle vorgesehene Beirat wurde nämlich bis heute gar nicht installiert und eingesetzt: Antwort der Bundesregierung vom 24.09.2018 – Drucksache 19/4491: „Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 DOHG 2 werden die Antragsunterlagen einem beim Bundesministerium des Innern …. einzurichtenden Beirat vorgelegt, wenn die Voraussetzungen für die Gewährung der finanziellen Hilfe zweifelhaft sind. Dies war bisher nicht der Fall. Ein Beirat wurde bislang nicht eingerichtet“.

Deshalb erübrigt sich auch die Frage, welches Personal mit welcher Kompetenz in diesen Beirat berufen wurde.

Wenn man sich überlegt, welchen langwierigen Prozess Antragsteller durchlaufen müssen, die nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) Opferrente beantragen oder zivilrechtliche Schadensersatzansprüche wegen Körperverletzung (nach §§ 823 oder 839 BGB) geltend machen, dann kann ein Dopinggeschädigter dankbar sein, dass es das DOHG gibt. Denn da geht’s ganz offensichtlich schnell und ohne großen Aufwand, insbesondere ohne großes Nachweisverfahren. Zweifel haben nicht aufzukommen, weil niemand da ist, der solche Zweifel zu klären oder auszuräumen hat; ein zweiseitiges Formular „Facharztstellungnahme“ reicht aus, in dem nach den eigentlichen Grundlagen der Schäden gar nicht gefragt wird.

Im Übrigen: Auch Dopingopfern steht Opferrente nach dem Opferentschädigungsgesetz zu, wenn sie die dort aufgestellten – nahezu gleichwertigen Voraussetzungen erfüllen. Dies hat das Sozialgericht Berlin (vgl. Entscheidung vom 27.09.2013 – S 181 VG 167/07) entschieden; übrigens unter tatkräftiger Unterstützung des „Dopinggeschädigten-Experten Prof. Dr. Franke! Dopinggeschädigten stehen auch die allgemeinen zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche gegen Schädiger oder den Staat zu, so wie anderen Geschädigten und Opfern übrigens auch. D.h. aber, wer Dopinggeschädigter oder ‑opfer ist, wird den übrigen Anspruchsberechtigten aus dem OEG (Geschädigte nach körperlicher Gewalt, zu der auch das Verabreichen von Dopingsubstanzen gehört) oder nach den zivilrechtlichen Schadensersatzvorschriften des BGB privilegiert. Er bekommt 10.500 € mehr als die übrigen gleichartig Geschädigten. Eine Rechtfertigung dieser Besserstellung ist nicht zu erkennen. Sowohl Dopinggeschädigten als auch allen sonstigen Geschädigten stehen in einem Sozialstaat Hilfe und Beistand zu. Aber nicht bei gleichgelagerten Fällen den Dopinggeschädigten ein zusätzlicher Bonus von 10.500 €. Das können die übrigen Geschädigten schwerlich nachvollziehen. Abschließend sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die ausgegebenen 6.226.500 € und die prognostizierten 150.412.500 € für Entschädigungen aus Steuergeldern finanziert werden. Jeder Steuerzahler darf dabei zu Recht erwarten, dass solche Ausgaben nachvollziehbar und kontrollierbar sind.


Über den Autor.
Rüdiger Nickel (73), Hanau, aktiver Mittelstreckler und deutscher Juniorenmeister, später Jugendwart, ab 1989 Anti-Doping-Beauftragter und schließlich als Sportwart und Vizepräsident Leistungssport des Deutschen Leichtathletik-Verbandes in mehreren Positionen bis 2004 ehrenamtlich tätig. Aufgrund der Übernahme sportpolitischer Verantwortung für das schlechte Abschneiden bei den Weltmeisterschaften 2003 und den Olympischen Spielen 2004 in Athen trat er von sämtlichen leistungssportlichen Verbandsfunktionen zurück. Als einer der ersten Anti-Doping-Beauftragten eines Sportfachverbandes begleitete und gestaltete er – unter seinem Verbandspräsidenten Prof. Dr. Helmut Digel, dessen Wegbegleiter er zusammen mit dem DLV-Vizepräsidenten Theo Rous er war – die Zeit der Wende, insbesondere der Zusammenführung zweier Leistungssportsysteme mit der Integration von Athleten, Trainern und Funktionären. Seine hauptberufliche Tätigkeit als Jurist – Rechtsanwalt und Notar in eigener Familienkanzlei – kam ihm insbesondere im Kampf gegen Doping zustatten. Der gebürtige Berliner lebt nach wie vor in Hanau und ist dort beruflich in seiner Rechtsanwalts- und Notarkanzlei tätig.