Zur medialen Inszenierung eines Dopingskandals

In der Sendung „Sport inside“ im WDR vom 25.03.2017 berichtet Simon Krivec, ein Doktorand der Universität Hamburg, über die Ergebnisse seiner Dissertation. Daraus wird die Nachricht „Doping West – Top-Leichtathleten gestehen Anabolika-Einnahme“. Am nächsten Tag hat diese Nachricht bereits die Tagesschau um 20:15 Uhr der ARD erreicht. Zwei Tage später berichtet das ZDF Morgenmagazin über den angeblichen Dopingskandal. Die Agenturen dpa und sid verbreiten, wie nicht anders zu erwarten, schnellstmöglich diese neue Nachricht. Sie führt zu einer umfassenden Berichterstattung in nahezu sämtlichen Tageszeitungen. Inhalte und Schlagzeilen sind dabei nahezu identisch: „31 frühere Leichtathleten geben Anabolika-Doping zu“, „Simon Krivec enthüllt Dopingsystem“, „Anabolika war Alltag“, „Die Cocktail-Party des Westens“. Die FAZ titelt: „Auf Rezept: Doping West – Leichtathleten bestätigen Einnahme über Jahrzehnte“. „Wagner bekennt sich“ gegenüber der Süddeutschen Zeitung, wobei man sich allerdings fragt, zum wievielten Male diese Zeitung von diesem Bekenntnis in den letzten 40 Jahren berichtet hat. Ergänzend zur Nachricht über den angeblich neuen Dopingskandal werden die üblichen Experten zu Kommentaren eingeladen. In Bezug auf die Empörung über die angeblich neuen Nachrichten findet ein Überbietungswettkampf statt und der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes erwartet eine Aufarbeitung und stellt die Frage: „In welchen Strukturen, mit welchen Mechanismen geschah dies damals?“ In Bezug auf diese Aussage muss es allerdings überraschen, dass Krivec in seiner Dissertation darauf hinweist, dass seine schriftliche Anfrage vom 12.08.2015 an den Präsidenten des DLV mit der Bitte um Zugang in das DLV-Archiv unbeantwortet geblieben ist. Krivec selbst wird von den Medien von einer weitreichenden Kompetenz ausgestattet, obwohl er mir gegenüber darauf hingewiesen hat, dass seine Promotion eigentlich „nur ein etwas ungewöhnliches Hobby“ sei, dem er als Apotheker in seiner Freizeit nachgegangen ist. Die Zeitungen der Funke-Mediengruppe melden dennoch, dass Wissenschaftler Simon Krivec die Leistungssportreform des DOSB als problematisch betrachtet.

Die Medien folgen ganz offensichtlich ihrer eigenen Logik. Nur schlechte Nachrichten haben Nachrichtenwert und wenn sie nicht schlecht genug sind, so müssen sie zumindest als solche zur Darstellung gebracht werden.

Ist jemand ein ganzes Berufsleben vom Dopingbetrug betroffen gewesen, hat er sich als Sportwissenschaftler mit dem kontinuierlichen Werteverfall des Hochleistungssports auseinandergesetzt und war er gleichzeitig über mehr als drei Jahrzehnte Funktionär in den verschiedensten Organisationen des Sports, so kann die Berichterstattung über den Fall Krivec wohl kaum überraschen. Meine wissenschaftliche Neugierde legte es jedoch nahe, dass ich mir die Frage stellte, welche empirischen Sachverhalte dieser Berichterstattung zugrunde liegen. Ich habe mir deshalb erlaubt, den Doktorvater von Herrn Krivec zu kontaktieren und ich habe ihn gebeten, mir seine Dissertation zur Lektüre zu überlassen. Auf dessen Bemühen hat Herr Krivec mir zunächst eine E-Mail geschrieben und mir mitgeteilt, dass seine Dissertation eher als eine Hobbyarbeit zu betrachten ist, bei der nebenbei die spektakulär publizierten Befunde hervorgebracht wurden und die Skandalberichterstattung ausgelöst haben. Mich machte diese Antwort noch neugieriger und ich habe deshalb insistiert, Herr Krivec möge mir doch seine Dissertation online überlassen. Dankenswerter Weise ist er dieser Bitte nachgekommen und so war es mir nun möglich, die Dissertation im Original und im Wortlaut zu lesen.

Zunächst überrascht, dass diese Dissertation in einer Fakultät für Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften eingereicht wurde, der Autor im Fachbereich Chemie tätig ist und er mit dieser Dissertation den akademischen Grad eines Doktors der Naturwissenschaft erreicht hat. Von Beruf ist Herr Krivec Apotheker. Die öffentliche Berichterstattung über diese Dissertation ist jedoch ausschließlich sozialwissenschaftlicher Natur. Man hätte vermuten können, dass diese Dissertation in der Sportwissenschaft, in einer soziologischen Abteilung oder in einem sozialpsychologischen Institut angefertigt wurde. Es überrascht auch, dass diese Dissertation von einem Hamburger Professor betreut wurde, der eine Venia für die Geschichte der Naturwissenschaften hat und der zweite Gutachter ein Fachapotheker für pharmazeutische Technologie gewesen ist. Betrachtet man die eigentlichen Fragestellungen der Dissertation so kann diese Betreuungskonstellation durchaus als angemessen bezeichnet werden, denn das Anliegen, dass Herr Krivec mit seiner Dissertation verfolgt, ist vor allem auf medizinisch-pharmakologische Gesichtspunkte des Dopings ausgerichtet – es soll um eine Rekonstruktion der Pharmakologie der anabolen Steroide gehen. Er geht der Frage nach, wie Sportmediziner und Apotheker in den Dopingbetrug in der ehemaligen Bundesrepublik eingebunden gewesen sind. Dies sind ohne Zweifel relevante Forschungsfragen, dennoch stellt sich die Frage, ob Herr Krivec dem selbstgestellten Anspruch gerecht wird. Als Untersuchungszeitraum bezieht er sich auf die Jahre von 1960 bis 1988. Der Dopingfall Ben Johnson ist dabei das Ereignis des Jahres 1988. Das Jahr 1960 resultiert aus der Markteinführung des anabolen Arzneimittels Dianabol in Deutschland. Wobei alleine diese Festlegung relativ willkürlich ist angesichts der Tatsache, dass der Gebrauch anaboler Steroide bereits sehr viel früher im Hochleistungssport der ehemaligen Bundesrepublik diskutiert wurde, wobei vor allem ein enger Kontakt in amerikanischen Besatzungszonen zu amerikanischen Quellen möglicherweise ausschlaggebend gewesen ist.

Die eigentliche Problematik in der Dissertation von Herrn Krivec liegt jedoch in der von ihm gewählten Methodik. Seiner Untersuchung liegen neben schriftlichen Quellen eine schriftliche und mündliche Zeitzeugenbefragung zugrunde. Die Auswahl der Sportart Leichtathletik erfolgt aus pragmatischen Gründen relativ willkürlich, denn bereits in den 60er Jahren wurde der Missbrauch von anabolen Steroiden im Hochleistungssport in mehreren olympischen Sportarten beklagt. Die Auswahl innerhalb der Leichtathletik selbst erfolgte nicht weniger willkürlich, denn im Zeitraum von 1960 bis 1988 haben sehr viel mehr Athleten an Deutschen Leichtathletikmeisterschaften und Deutschen Hallenmeisterschaften teilgenommen und die Ausgliederung der Mittel- und Langstrecken muss aus heutiger Sicht ebenfalls als willkürlich bezeichnet werden. Im Interesse des Verfassers der Dissertation kann dennoch angenommen werden, dass seine Liste der 129 ausgewählten männlichen Athleten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes jenen Kriterien entspricht, die er selbst als Selektionskriterien vorgibt. Nicht zu begründen ist jedoch der Ausschluss weiblicher Probanden, vor allem wenn der Autor darauf hinweist, dass die Bereitschaft weiblicher Athleten an dieser Arbeit mitzuwirken nicht gegeben war. Zumindest wäre es interessant gewesen, dass man der Frage nachgeht, warum weibliche Athleten nicht bereit sind, über ihre Leistungssportvergangenheit in der Leichtathletik zu sprechen und es wäre interessant gewesen vorliegende Befunde in Bezug auf die Manipulationen weiblicher Leistungen mittels anaboler Steroide in Deutschland, die für diesen Zeitraum bereits diskutiert wurden, mit zu beachten.

Allein mit Blick auf diesen Sachverhalt ist es völlig irreführend, von einer repräsentativen Studie über den Anabolikamissbrauch in Westdeutschland in Bezug auf den Zeitraum von 1960-1988 zu sprechen. Dieser Einwand wird noch erhärtet, wenn man die unterschiedlichen Wege der Datenerhebung betrachtet. Krivec hat 129 potenzielle Athleten definiert, 121 davon hat er ausfindig gemacht. 82 wurden mit einem Fragebogen angeschrieben, dabei waren neun Adressen nicht mehr gültig. 39 Athleten wurden persönlich angesprochen – telefonisch, im persönlichen Gespräch oder über einen Email-Kontakt. Die genaue Anzahl der „face-to-face“-Gespräche wird nicht benannt. Es wird lediglich darauf hingewiesen, dass sich die Methoden der „oral history“ als ungeeignet erwiesen haben. Das diese Methode jedoch in der Sportwissenschaft bereits sehr häufig und sehr erfolgreich zur Anwendung gekommen ist, wird dabei nicht zur Kenntnis genommen. Vielmehr spricht Krivec von einem halbstrukturierten Interview, dem sich die Zeitzeugen ausgesetzt haben. Die wichtigsten Erkenntnisse von Krivec beruhen auf Aussagen von zwölf Athleten, die sich bereiterklärt haben während eines Zeitzeugen-Interviews relativ ausführlich über ihre Anabolika-Vergangenheit zu sprechen. Dabei kommen neun Werfer, zwei Mehrkämpfer und ein Sprinter zu Wort. Die meisten dieser zwölf Athleten hatten bereits in der Vergangenheit mehrfach über ihren Gebrauch anaboler Steroide berichtet, hatten teilweise Auseinandersetzungen mit ihren Trainern und Funktionären des Deutschen Leichtathletik-Verbandes und waren als Zeitzeugen immer wieder gefragt, wenn es um die Verfehlungen der Mediziner ging, die in dem Untersuchungszeitraum die Nationalmannschaft des Deutschen Leichtathletik-Verbandes betreut haben.

Fasst man diese methodischen Aspekte zusammen, so kann man wohl kaum zu der Annahme kommen, dass diese Dissertation unter repräsentativen Gesichtspunkten tragfähig ist, um den umfassenden Dopingbetrug, der ohne Zweifel in Westdeutschland stattgefunden hat, empirisch zu belegen. Alle in der Dissertation vorgelegten Befunde sind Bestätigungen bekannter Befunde aus der Vergangenheit. Lediglich in Bezug auf die Anwendung der anabolen Steroide, deren Anwendungshäufigkeit und deren Einnahmedauer kann diese Studie als weiterführend betrachtet werden. In Bezug auf die Beteiligung der Sportmedizin und ausgewählter Ärzte und Apotheker hat die Studie auch eine besondere ethische Bedeutung. Für den Untersuchungszeitraum ist ganz offensichtlich eine Sportmedizin aktiv gewesen, der es an einer grundsätzlichen ärztlichen Standesethik mangelte und bei der die Leistungssteigerung der Athleten, auch dann wenn sie unerlaubt war, im Mittelpunkt ihrer Interessen stand. Die von Krivec vorgelegte Dissertation hat somit durchaus ihre besonderen Verdienste aufzuweisen. In der Berichterstattung über diese Dissertation ist davon jedoch nicht die Rede gewesen. Vielmehr werden Pauschalisierungen und Generalisierungen vorgenommen, die gerade angesichts der statistischen Begrenztheit dieser Untersuchung als völlig unangemessen zu bezeichnen sind. Anstelle eigener Recherchen, anstelle einer Überprüfung der vorgelegten Befunde wurde vielmehr ein Spektakel inszeniert, dessen Verlauf von der ersten Nachricht bis zum Verfall des Nachrichtenwerts genau so verlief, wie dies in allen tatsächlichen und angeblichen Dopingskandalen der vergangenen Jahrzehnte üblich war. Wann immer ein Anlass als geeignet erachtet wird, werden längst bekannte Erkenntnisse als angeblich völlig neue Nachrichten inszeniert. Der mediale Dopingmarkt sucht und findet seine Rendite. Man darf gespannt sein, wann die nächste Nachricht im Anti-Doping-Kampf zum Spektakel erhoben wird.

Verfasst: 24.04.2017