Zum Verhältnis zwischen Staat und Spitzensport

Das Verhältnis zwischen Staat und Spitzensport verweist auf eine lange Tradition. Schon Rousseau hat bei seinen Politikberatungen, unter anderem für Polen, auf die herausragende Bedeutung hingewiesen, die sportliche Wettkämpfe für die Entwicklung einer Nation leisten können und bereits bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 in Athen wurde von Repräsentanten der teilnehmenden Nationen, insbesondere der Vereinigten Staaten, auf die repräsentative Wirkung sportlicher Erfolge für nationale Politiksysteme hingewiesen. Damit sind die beiden Funktionen benannt, die der Spitzensport für staatliche Gebilde auch heute noch haben kann. Er kann zum einen innenpolitische Funktionen erfüllen: Soziale Integration, Arbeitsmarkt, Infrastruktur und kulturelle Bedeutung können dabei in einer Beziehung zum Phänomen des Hochleistungssport stehen. Zum anderen erfüllt der Spitzensport die Funktion der nationalen repräsentativen Funktion gegenüber anderen Nationen und Staaten. Er wird als Ausdrucksmittel zur Leistungsfähigkeit ganzer gesellschaftlicher Systeme instrumentalisiert. Oft weisen diese beiden Funktionsmuster eine enge Beziehung zueinander auf. Besonders deutlich zu erkennen ist dies bei jungen Nationen, wo die Erfolge mittels spitzensportlicher Darstellung einen Beitrag zum sogenannten Nationbuilding erbringen sollen und sich gleichzeitig die jungen Nationen nach außen hin als leistungs- und konkurrenzfähig zu repräsentieren haben.

Mit diesen bedeutenden Funktionen, die der Spitzensport für staatliche Systeme erfüllen kann, überrascht es nicht, dass es heute keinen einzigen Staat in der Welt gibt, der sich des Instruments des Spitzensports nicht direkt bedient. Um dies zu erreichen ist es allerdings notwendig, dass sich der Staat selbst um die Förderung des Sports bemüht, wobei ihm unterschiedliche Möglichkeiten und Instrumente zur Verfügung stehen können. Unter systematischen Gesichtspunkten lassen sich dabei zwei Pole erkennen, die das Verhältnis zwischen Staat und Spitzensport prägen können. Auf der einen Seite steht die Möglichkeit des Staatssports bei der der Spitzensport direkt vom Staat gesteuert, durchgeführt und damit als eigenständiges Politikressort verantwortet wird. Der Gegenpol hierzu zeigt sich in der Möglichkeit, dass der Spitzensport autonom organisiert ist und sich der Staat nur in indirekter Weise, gleichsam nebenbei, die positiven Effekte des Systems des Spitzensports zu Eigen macht. Zwischen diesen beiden Polen lassen sich heute viele Varianten des Verhältnisses zwischen Staat und Spitzensport beobachten. Das Verhältnis wird ganz wesentlich von der Staatsform beeinflusst, in der der Spitzensport sich ereignet. Ist man an Staatsideologien orientiert, so lassen sich viele verschiedene Staatsformen unterscheiden. Für den Hochleistungssport und seinem Verhältnis zu den Staaten scheint dabei der Gegensatz zwischen Zentralismus und Föderalismus eine bedeutsame Rolle zu spielen. Darüber hinaus ist der Gegensatz von Demokratie und Diktatur von Bedeutung. Die genannten Merkmale kommen in unterschiedlichen Paarungen vor und bedingen dabei auch jeweils ein unterschiedliches Verhältnis zwischen Spitzensport und Staat. Zentralistisch-demokratisch, zentralistisch-diktatorisch, föderal-demokratisch und föderal-diktatorisch sind die logischen Kombinationsmöglichkeiten, wenngleich die letztere so gut wie nicht existiert. Betrachten wir die drei relevanten Muster, so ist zu erkennen, dass man eine gewisse Regelhaftigkeit in der Beziehung zwischen Spitzensport und Staat beobachten kann. Je diktatorischer und zentralistischer sich staatliche Strukturen darstellen, desto wahrscheinlicher ist eine Ausrichtung auf den erstgenannten Pol. Je föderalistischer und demokratischer staatliche Strukturen hingegen sind, desto wahrscheinlicher orientiert sich das Verhältnis am zweiten Pol.

Fragt man nach den Ressourcen, die erfolgreichen Leistungssportnationen zur Verfügung stehen, um sportliche Erfolge im internationalen Wettbewerb mittel- und langfristig zu sichern, so lassen sich unter prinzipiellen Gesichtspunkten drei verschiedene Ressourcen erkennen.

Eine entscheidende und sehr wichtige Ressource ist dabei die Gesellschaft, die für die Leistungssportnation prägend ist. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben ganz offensichtlich einen zentralen Einfluss auf die sportliche Erfolgswahrscheinlichkeit eines Landes. Für die Identifizierung sportlicher Erfolgsbedingungen ist deshalb der Blick auf bestimmte Charakteristika eines Landes unerlässlich. So ist z.B. der Zentralisierungsgrad der politischen Systeme zu betrachten, die Frage nach der politischen Entscheidungsmacht ist zu stellen und auch die Größe und Ausdifferenzierung des Militärs scheint von besonderer Bedeutung zu sein. Nicht weniger wichtig ist die wirtschaftliche Situation eines Landes. Das nationale Pro-Kopf-Einkommen, das Bruttosozialprodukt und das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf stellen in diesem Zusammenhang wichtige Indikatoren für die wirtschaftliche Verfassung einer Nation dar. Des Weiteren ist das Bildungssystem für den Sport von grundlegender Bedeutung, da hierdurch alle gesellschaftlichen Gruppen inkludiert werden. Es stellt sich auch die Frage, an welchen Orten die Wertesozialisation in der jeweiligen Gesellschaft stattfindet und welche Rolle dabei das Leistungsprinzip spielt. Die individuelle Bereitschaft zur Leistung stellt für ein Fortkommen im Bildungswesen ebenso eine entscheidende Rolle wie für eine Teilhabe am System des Hochleistungssports. Bei den gesellschaftlichen Rahmendaten gibt es auch einige sozialstrukturelle Aspekte, die auf ihre sportfördernde bzw.  -hemmende Wirkung näher zu untersuchen sind.

Als zweite wichtige Ressource ist die Organisation des Hochleistungssports in der jeweiligen Nation in den Blick zu nehmen. Dieser Ressource sind eine Vielzahl von Einzelkategorien unterzuordnen, die für ein erfolgreiches Agieren in internationalen Wettkämpfen von Bedeutung sind. Dazu gehören das Sportinteresse und die Sportpartizipation, die Organisation des Hochleistungssports und ihr Personal, die Finanzierung des Hochleistungssports, die Talentsuche und Talentförderung, die Rekrutierung von Athleten und Trainern, ebenso wie die der Kampfrichter. Aber auch die Trainings- und Wettkampfstrukturen und die notwendigen Sportstätten in den jeweiligen Sportnationen sind zu betrachten.

Die dritte Ressource wird durch jene gesellschaftliche Teilsysteme geprägt, mit denen sich ein erfolgreicher Hochleistungssport in einem intensiven Austauschverhältnis befindet. Von größter Bedeutung ist dabei die Wirtschaft als Kooperationspartner und der Beitrag der Politik zur Ausgestaltung des Hochleistungssports. Aber auch die Teilsysteme der Massenmedien, das Bildungs- und Erziehungssystem, die Funktion der Wissenschaft für den sportlichen Erfolg und die Bedeutung des Militärs sind zu beachten.

Dem Staat muss ganz offensichtlich in mehrfacher Weise in seinem Verhältnis zum Spitzensport Aufmerksamkeit geschenkt werden. Zum Einen spielt er in Bezug auf die Qualität der Gesellschaftsressource eine prägende Rolle. Er bildet den gesellschaftlichen Resonanzboden für die Entwicklung des Leistungssports. Zum Zweiten wird der Staat als äußerst relevante Umwelt wahrgenommen, die sich in einem direkten Austauschverhältnis zum Spitzensport befindet. Schließlich kann der Staat aber auch auslösende und verstärkende Funktion bei der Entwicklung sogenannter institutioneller Phänomene im Bereich des Hochleistungssports spielen. Dies gilt sowohl für die Personalentwicklung als auch für die Entwicklung einzelner Aspekte innerhalb des Hochleistungssportssystems wie z.B. die Organisation des Anti-Doping-Kampfes. Für Repräsentanten des Staates, Politiker, Regierungsmitglieder, Parlamentarier und das staatliche Führungspersonal ist das Austauschverhältnis zwischen Staat und Spitzensport von großem Interesse.

Aus staatlicher Sicht ist es von großer Relevanz, dass die jeweiligen Sparten der Hochleistungssportsysteme ein fundiertes Wissen über ihre Konkurrenten haben. Es lohnt sich deshalb für Staaten einen Blick auf die Sportförderung konkurrierender Staaten zu werfen und funktionale Äquivalente zu kennen, um die eigenen Problemlösungen auf den Prüfstand zu stellen, sie zu optimieren und gegebenenfalls durch Neue zu ersetzen. Tut man dies, so lässt sich aus staatlicher Sicht erkennen, dass es sehr verschiedene Förderkonzepte des Spitzensports in den unterschiedlichen Leistungssportnationen geben kann, die allerdings auch eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen. Dies hängt damit zusammen, dass sich in allen erfolgreichen Leistungssportnationen die Problemstellungen in nahezu identischer Weise in Bezug auf die Tradierung der Sportsysteme stellen; d.h. wo immer Hochleistungssport betrieben wird, hat man nahezu die selben Probleme zu lösen. Die zur Lösung zur Verfügung stehenden Instrumente können jedoch sehr verschiedenartig sein. Es gibt gute und schlechte Lösungen und es gibt Probleme, bei denen der Staat bei Lösungen behilflich sein kann, es gibt aber auch Probleme, die sich der staatlichen Hilfe entziehen. Tritt man in einen derartigen Vergleich ein, so zeigt sich, dass die erfolgreichen Sportnationen vor allem folgende Probleme zu lösen haben:

  1. Es müssen Finanzen bereitgestellt werden, um einen kostenintensiven Hochleistungssport mittel- und langfristig abzusichern. Daraus resultiert die Frage, welchen finanziellen Beitrag der Staat zur Förderung des Spitzensports leistet?
  2. In allen erfolgreichen Sportnationen müssen die Talente möglichst frühzeitig gesichtet und definiert werden.
  3. Talentierte Athleten müssen in allen erfolgreichen Sportnationen über einen längeren Zeitraum gefördert werden, um sie zur sportlichen Spitzenleistung heranzuführen. Welche Hilfestellungen zur Förderung der Talente stellt der Staat bereit?
  4. Alle erfolgreichen Athleten, insbesondere der olympischen Sportarten, haben das Problem der sogenannten dualen Karriere zu bewältigen. Welche Hilfen stellt der Staat für die duale Karriere Schule – Spitzensport, Ausbildung – Spitzensport, Militär – Spitzensport, Studium – Spitzensport, Beruf – Spitzensport bereit?
  5. Jede Spitzensportnation bedarf der kreativen und intelligenten Steuerung eines qualitativen anspruchsvollen Trainings- und einer fundierten Wettkampfsteuerung. Dazu bedarf es der Unterstützung der Wissenschaft. Welche Rolle spielt dabei in diesem Zusammenhang der Staat?
  6. Der Spitzensport bedarf einer umfassenden Unterstützung durch die Massenmedien. Welche Rolle spielt dabei der Staat?

Eine besondere Verantwortung kommt dem Staat in Bezug auf die Frage der Talentfindung, Talentförderung, Steuerung der dualen Karriere und der wissenschaftlichen Begleitung des Hochleistungssports zu. Für jeden dieser Bereiche bedarf es einer institutionellen staatlichen Absicherung, wobei das Bildungssystem besonders gefordert ist. Bei allen übrigen Herausforderungen kommt es darauf an, dass der Staat die notwendigen katalysatorischen Möglichkeiten eröffnet, so dass das Hochleistungssportsystem selbst eine qualitativ anspruchsvolle Partnerschaft mit den erforderlichen Systemen eingehen kann. Dies gilt für die Kooperation mit der Wirtschaft gleichermaßen wie für die immer bedeutsamer werdende Kooperation mit den Massenmedien. Ohne eine staatliche Förderung, das machen diese Hinweise deutlich, ist der moderne Hochleistungssport nicht denkbar. Es scheint vom qualitativen Grad der Partnerschaft abhängig zu sein, wie erfolgreich sich Hochleistungssportsysteme in der Zukunft entwickeln werden.

letzte Überarbeitung: 26.04.2018

Erstveröffentlichung: In: Digel, H. (2014). Gefährdeter Sport. Schorndorf: Hofmann.