World Athletics – eine Gefahr für den modernen Olympismus ?

Helmut Digel

Einmal mehr ist es in diesen Tagen „Showmaster“ und „Rhetorikkünstler“ Sebastian Coe – seines Zeichens auch Lord im englischen Oberhaus -, der sich als Präsident von World Athletics mit einer spektakulären Nachricht zu Wort meldet, um sich die Aufmerksamkeit der sportlichen Weltöffentlichkeit mit einer populistischen Aktion zu sichern, bei der er sich des Applauses einiger Star-Athletinnen und Athleten und deren Repräsentanten¹ sicher sein konnte.

Über eine Pressemitteilung in der zweiten April- Woche des Jahres 2024 gabenWorld Athletics und dessen Präsident Coe bekannt, dass der olympische Weltverband der Leichtathletik bereits bei den Olympischen Spielen in Paris 2024 Preisgelder einführen wird und die Gewinner einer olympischen Goldmedaille mit 50.000 $ belohnt werden. Gleichzeitig wird die Zusage gemacht, dass das Preisgeld auf einer gestaffelten Ebene auf die Gewinner der Olympischen Silber- und Bronzemedaillen bei den Spielen 2028 in Los Angeles ausgeweitet werden wird. In Paris wird in 48 Leichtathletik Wettbewerben eine Goldmedaille vergeben, was somit ein Preisgeld in einer Gesamthöhe von 2,4 Millionen $ bedeutet. Das Geld wird aus den Mitteln genommen, die World Athletics alle vier Jahre vom IOC erhält. Für Coe wird damit das Engagement von World Athletics unterstrichen, „die Athleten zu stärken und die entscheidende Rolle anzuerkennen, die sie für den Erfolg der Olympischen Spiele haben“.

Wie kaum anders zu erwarten initiierte Coe seinen neuesten Mediencoup ohne Rücksprache mit dem IOC und ganz offensichtlich auch ohne solidarische Absicherung gegenüber den anderen Olympischen Sommersportfachverbänden. „Solidarität“ scheint damit einmal mehr für ihn ein Fremdwort zu sein. Er folgt damit vielmehr der Tradition seiner Vorgänger im Amt und fügt dem modernen Olympismus einen großen Schaden zu und gefährdet mit seinem Alleingang die weitere Entwicklung der Olympischen Spiele. Waren es die zu Größenwahn neigenden IAAF- Präsidenten Nebiolo und Diack, die während ihrer Amtszeit wiederholt einen besonderen Affront gegenüber allen anderen Olympischen Fachverbänden pflegten und alle vier Jahre verkündeten, dass die Olympischen Spiele eigentlich erst mit dem ersten Wettkampf der Leichtathletik, der „Königin“ der Olympischen Spiele, beginnen und zu keinem Zeitpunkt bereit gewesen sind, das Leichtathletik-Programm bei den Spielen zu straffen, die Anzahl der zu vergebenden Goldmedaillen zu reduzieren und anderen und neuen  olympischen Disziplinen mehr Raum für die Präsentation ihrer Sportarten zu gewähren. So folgt der aktuelle Weltpräsident der Leichtathletik dieser Alleinstellungsstrategie, indem er sogar die Aufnahme noch weiterer Leichtathletikdisziplinen in das olympische Programm fordert und sich somit – wie seine Vorgänger – jeder solidarischen Geschlossenheit innerhalb der olympischen Bewegung entzieht. Hierzu gehört auch die an Heuchelei wohl kaum zu übertreffende sportpolitische Haltung von World Athletics gegenüber der Teilnahme neutraler Athleten an den Olympischen Spielen und die Alleingänge im Anti- Dopingkampf, obwohl die Leichtathletik in der Welt jene Sportart ist, die die meisten Doping Fälle zu beklagen hat.

Das IOC hat auf die Einführung von Preisgeldern bei den Olympischen Spielen durch World Athletics bislang nur mit einer sehr kurzen Stellungnahme reagiert. Es teilte mit, dass es 90 % seiner Einnahmen an die Nationalen Olympischen Komitees und an die Internationalen Sportfachverbände verteilt und dass die Entscheidung, wie die Verbände das Geld verwenden, diesen selbst obliegt. Das IOC würde auf diese Weise täglich 4,2 Millionen $ (3,9 Millionen €) zur Unterstützung von Athleten und Athletinnen sowie für Sportorganisationen in aller Welt ausschütten.
Es bleibt nun abzuwarten, welche weiteren Reaktionen des IOC erfolgen werden. Schon jetzt kann man allerdings die Auffassung vertreten, dass das IOC schon seit längerer Zeit einen großen Fehler gemacht hat, indem es aus den Einnahmen des sehr erfolgreichen Verkaufs von Marketing- und Fernsehlizenzrechten alle vier Jahre hohe Millionen Beträge an die Stakeholder des IOC überweist, ohne dass die Vergabe dieser Mittel an bestimmte überprüfbare Kriterien der Verwendung gebunden wird.
Abzuwarten sind auch die Reaktionen der Dachorganisationen der internationalen Sportfachverbände und der übrigen internationalen Olympischen Sommersportverbände, die nun bei den Spielen in Paris mit dem Problem konfrontiert sein werden, dass Olympiasieger der Leichtathletik für den Gewinn einer Goldmedaille 50 000 US $ Preisgeld erhalten. Alle übrigen Olympiasieger hingegen müssen sich mit der Ehre des Gewinns einer olympischen Goldmedaille „begnügen“.

Für jemand, der den Charakter des Präsidenten von World Athletics und dessen Persönlichkeit etwas genauer kennt, kommt dessen populistische Aktion wohl kaum überraschend. Dabei ist diese Aktion in vieler Hinsicht völlig inakzeptabel und es muss in ihr eine Gefährdung der weiteren Zukunft der modernen Olympischen Spiele gesehen werden, denn Coe stellt auf diese Weise das Alleinstellungsmerkmal, das die mehr als 100-jährige Geschichte der modernen Olympischen Spiele ausgezeichnet hat, radikal in Frage. Er tut dies mit Unterstützung eines von „Yes-Men“ und „Yes-Women“ geprägten Councils, mit Unterstützung eines Generalsekretärs, der sein Amt aus Coes Gnaden ausübt, und mit Unterstützung von Ethik- und Compliance- Kommissionen, deren Mitglieder sich der Freundschaft des Präsidenten sicher sein können.
Würde Coe sich an die Olympische Charta halten, zu der er sich selbst und World Athletics verpflichtet haben, so würde sich sein Alleingang in jeder Hinsicht verbieten. Die Olympischen Spiele waren aus gutem Grund über mehr als 100 Jahre „werbefreie Spiele“ und unter kommerziellen Gesichtspunkten bewusst limitierte Spiele. Während der Spiele selbst, in den olympischen Sportarenen ist kommerzielle Werbung, z.B. mittels Werbebanden, nicht erlaubt und auf der Kleidung der Athleten ist nur in einem äußerst begrenzten Umfang Werbung zugelassen. Die Teilnahme von Athletinnen und Athleten unterliegt klaren ethischen Vorgaben und die Auszahlung von Preisgeldern ist in der Olympischen Charta nicht vorgesehen. Olympische Spiele sind in keinem Fall eine bloße Aneinanderreihung von Weltmeisterschaften verschiedener Sportarten. Ihr Auftrag ist in der olympischen Charta eindeutig festgelegt und seit der IOC-Session von Peking im Jahr 2022 haben sich alle IOC- Mitglieder für ein „communiter“ und damit für eine Erweiterung des olympischen Mottos in der olympischen Charta ausgesprochen. Das Gebot der Solidarität hat somit für alle Teilnehmer an Olympischen Spielen seine Gültigkeit.

Der sportpolitisch angemessene Weg für die Einführung von Preisgeldern bei Olympischen Spielen hätte deshalb darin bestehen müssen, dass World Athletics gegenüber der IOC-Executive sein Anliegen frühzeitig unterbreitet und vor allem auch alle übrigen internationalen Fachverbände konsultiert. Doch dieser Weg wurde von Coe aus naheliegenden Gründen nicht bestritten, da er seinen eigenen Interessen entgegenstand und er sich einer IOC- Unterstützung und einer Unterstützung seiner IF-Kollegen nicht sicher sein konnte. Vielmehr sucht Coe den Applaus von erfolgreichen Athleten wie Colin Jackson oder Robert Harting, die mit ihren sportlichen Erfolgen bereits sehr viel Geld verdient haben und mit ihrem Beifall nur eigene egoistische Interessen verfolgen. Gleiches gilt für Athleten Deutschland e.V.
Leichtathleten, die bei den Olympischen Spielen in Paris eine Goldmedaille gewinnen werden, dürfen nunmehr mit 50.000 $ Preisgeld rechnen, obgleich viele von ihnen angesichts ihrer sonstigen Einnahmen auf diese zusätzlichen Gelder nicht angewiesen sind. Die meisten Leichtathleten, die eine Goldmedaille gewinnen, sind schon seit längerer Zeit in der Regel sog. „Sportmillionäre“, die über ausreichende Werbeeinnahmen, Sponsorenverträge, Antrittsgelder und Preisgelder bei Leichtathletik- Meetings und Weltmeisterschaften verfügen. Coes altruistische Begründung ist deshalb in jeder Hinsicht unzutreffend, denn es sind vor allem jene Athletinnen und Athleten, die bei den Olympischen Wettbewerben keine Finalplätze erreichen, die wohl am ehesten eine finanzielle Unterstützung nötig hätten. Mit Coes Initiative werden somit reiche Athleten noch reicher und arme Athleten bleiben weiterhin arm und auch die ohnehin viel zu hohe Kluft zwischen reichen und armen Olympischen Sportarten wird dadurch noch vergrößert. Denn die Förderung der Reichen geht jetzt auch noch zu Lasten der Förderung all jener, die es dringend nötig hätten.
Auch für die vom IOC erwirtschafteten Einnahmen gilt der ökonomische Grundsatz, dass jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann. Würden sämtliche Olympischen Sportfachverbände dem Vorbild von Word Athletics folgen und die vom IOC zur Verfügung gestellten Finanzmittel für die Finanzierung von Prämien ihrer Medaillengewinner in den Wettbewerben ihrer Sportart verwenden, so würde sich somit die Frage stellen, welche Aufgaben von den internationalen Verbänden zukünftig nicht mehr erledigt werden können. Eines ist dabei heute schon sicher: Der Alleingang von World Athletics wird zu einem neuen finanziellen Begehren von Athletinnen und Athleten in allen Olympischen Sportarten führen. Immerhin ist dabei eine Frage berechtigt und naheliegend: Ist es gerecht, wenn die Olympiasieger in einer Olympischen Sportart für ihre Goldmedaillen 50 000 $ erhalten, die Olympiasieger in allen anderen olympischen Sportarten jedoch leer ausgehen?
Der Einwand von Coes Landsmann, des fünffachen Goldmedaillengewinners im Rudern, Steve Redgrave, gegen dessen Zugriff auf die Olympischen Spiele ist deshalb besonders bemerkenswert. Er weist darauf hin, dass dieser Angriff gegen das „Ethos der Spiele“ verstößt und dass sich Olympische Spiele dadurch auszeichnen, dass alle Athleten sich auf demselben Niveau einer Plattform befinden und es dabei kein „oben“ und „unten“ gibt. Es kommt somit bei den Spielen ein ganz besonderes Gleichheitsideal zum Tragen.

Coe sieht sich als Mitglied einer Generation, die noch für einen 75 Pence- Essensvoucher und mit einem zweiter Klasse Zugticket zur Ehre des eigenen Landes gelaufen ist. Er betont diesen Sachverhalt, um seine Kompetenz für den Wandel nachzuweisen, der sich im modernen Hochleistungssport in den vergangenen Jahrzehnten hat beobachten lassen.
Ihm ist zuzustimmen, dass wir heute auf einem völlig anderen Planeten leben als zu jener Zeit, in der er seine Wettkämpfe bestritt. Seine Schlussfolgerungen, die er daraus zieht, stehen jedoch im Gegensatz zu allen Notwendigkeiten und Herausforderungen, die sich uns auf unserem Planeten in diesen Tagen stellen. Angesichts einer drohenden Klimakatastrophe, angesichts gefährlicher militärischer Konflikte und angesichts einer weltwirtschaftlichen Krise ist eher Bescheidenheit und Verzicht und nicht eine Propagierung wachstumsideologischer Maximen angesagt. Eine radikale Senkung der durch den Weltsport verursachten CO2 Emissionen ist gefordert und eine Ausweitung des bestehenden Wettkampfbetriebs verbietet sich. Es muss vielmehr eine Reduktion der Internationalen Wettkampfstrukturen gefordert werden. Gerade zu fatal ist Coes Ansage, die Wettkampfsaison und die Anzahl der Wettkämpfe zu verlängern bzw. zu erhöhen. Die Kluft zwischen Arm und Reich muss zugunsten der Benachteiligten dieser Welt nachhaltig reduziert werden und darf nicht durch die Förderung einer unersättlichen Geldgier noch gesteigert werden.
Coe hat mit der Entscheidung von World Athletics, die Vergütung aus den Einnahmen des IOC für die Finanzierung von Preisgeldern zu verwenden, die Tür zu neuen Formen der Kommerzialisierung der Olympischen Spiele in gefährlicher Weise aufgestoßen. Die Forderung zur Freigabe von „Werbung am Mann“ bzw. von „Werbung an der Frau“ und von Werbung in den olympischen Arenen könnte noch eine gravierendere Bedrohung darstellen. Für jene, die den modernen Olympismus nach wie vor für bedeutungsvoll erachten und die ein Interesse an der Friedensidee von Pierre de Coubertin auch in diesen Tagen – trotz aller Gefährdungen – mit Nachdruck bekunden, bleibt die Hoffnung, dass das IOC Wege und Lösungen findet, um sich einer schleichenden Kommerzialisierung der Spiele glaubwürdig entgegenzustellen. Die Hoffnung muss auch mit dem Wunsch verbunden werden, dass die internationalen Olympischen Fachverbände sich ihrer solidarischen Verpflichtung gegenüber der olympischen Charta bewusst sind und ebenfalls bereit sind, sich einer selbstzerstörerischen Kommerzialisierung zu widersetzen.

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich, weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letzte Bearbeitung: 13. 4. 2024