Wissenschaft und Hochleistungssport – ein problembehaftetes Verhältnis
Wissenschaftler, die sich mit Fragen des Sports beschäftigen, haben in diesen Tagen Konjunktur. Ihr Einfluss ist größer denn je. Die Beratungsleistungen, die Wissenschaftler in den nationalen Systemen des Sports erbringen, werden als zunehmend bedeutsamer eingeschätzt. Wissenschaftliche Dienstleistungen werden vermehrt nachgefragt und in der öffentlichen Meinung werden sportliche Leistungen immer öfter auch auf die Beratungsleistungen von Wissenschaftlern zurückgeführt. Damit geht einher, dass bestimmten Institutionen der Wissenschaft immer größere Bedeutung zu kommt. Dies gilt vor allem für zentrale, nationale sportwissenschaftliche Einrichtungen, die sich der direkten Beratung von Verbänden, Mannschaften und Athleten verpflichtet haben. Fast alle erfolgreichen Nationen im olympischen Leistungssport weisen solche zentralen Einrichtungen auf und in fast allen Schwellenländern wird auf die Einrichtung solch sportwissenschaftlicher Institutionen gesetzt, um auf diese Weise den Anschluss an die Weltspitze zu schaffen.
Auch für Deutschland stellt sich die Frage, ob ein derartiges Institut des Hochleistungssports nicht zwingend erforderlich geworden ist, nachdem sich die föderalen Strukturen nur bedingt als effektiv erwiesen haben. Besonders eindrucksvoll konnte die neue Rolle der zentralen sportwissenschaftlichen Institute aus Anlass der jüngsten Olympischen Spiele wahrgenommen werden. Der große Erfolg der japanischen Olympia-Mannschaft wurde direkt dem japanischen Institut für Sportwissenschaft zugeschrieben, die Erfolge der chinesischen Athletinnen und Athleten wurden ebenfalls mit den Beratungsleistungen chinesischer sportwissenschaftlicher Institute in Verbindung gebracht. Das Institut von Loughborough spielt wohl für die Erfolge von England eine wichtige Rolle und das INCEP in Paris scheint für den französischen Sport unverzichtbar zu sein. Auch den schon seit längerem anhaltenden Erfolg Australiens im internationalen Hochleistungssport sieht man in einer direkten Verbindung mit dem „Australien Institute of Sport“ in Canberra.
Betrachtet man den Hochleistungssport in seinem Verhältnis zur Sportwissenschaft als Institution und zur Sportwissenschaft als einem Gefüge von Sportwissenschaftlern etwas genauer, so ist zu erkennen, dass sich dieses Verhältnis durch heterogene Merkmale auszeichnet. Dabei macht es kaum Unterschiede, ob man über das Verhältnis des Hochleistungssports zur Sportwissenschaft spricht oder ob das Verhältnis des Breiten- und Gesundheitssports in seiner Beziehung zur Sportwissenschaft betrachtet wird.
Setzt man sich mit dem Hochleistungssport und dessen Beziehungen zur Sportwissenschaft auseinander und geht dabei der Frage nach, wie sich dieses Verhältnis in diesen Tagen darstellt und wie es sich, sollte es Probleme in dieser wechselseitigen Beziehung geben, in der Zukunft optimieren lassen könnte, so ist auffällig, dass die Sportwissenschaft vor allem in fragwürdigen Formen sportwissenschaftlicher Technologien zum Tragen kommt, wenn sie sich dem Spitzensport zuwendet – oder wenn sie umgekehrt von den Verantwortlichen des Spitzensports angefragt wird. Sportwissenschaft hat dabei ausschließlich instrumentellen Charakter und die Erkenntnisse, die sie bereitstellt, sollen einen möglichst direkten Beitrag zur Leistungssteigerung leisten. Dass diese Art von eindimensionaler Partnerschaft für beide Seiten eher unbefriedigend ist und dass sie darüber hinaus eine grundlegende Gefährdung für beide Partner darstellen kann, wird angesichts der ohne Zweifel aufzuweisenden Erfolge in der Regel großzügig übersehen. Ja, es scheint vielmehr so zu sein, dass die damit verbundenen Fragen deshalb nicht diskutiert werden können, weil es sowohl im Sport als auch in der Sportwissenschaft an der notwendigen Sensibilität für eine entsprechende fachliche Diskussion mangelt.
Dabei ist das Problem offensichtlich: Wird das sportwissenschaftliche Handeln auf das einer Technologie verkürzt und sind es externe Technologien, die ganz wesentlich den sportlichen Erfolg definieren, so siegt im sportlichen Wettkampf nicht mehr der Athlet allein, sondern immer der Athlet in Verbindung zu der ihm offerierten und angewandten Erfolgstechnologie. Beim Radsport steht nicht nur der Athlet auf dem Siegerpodest, sondern auch der Ingenieur, der sein Rad konstruiert hat. Der Rodler ist nicht der alleinige Olympiasieger, ebenfalls zu ehren ist der Materialwissenschaftler, der die Kufen zu verantworten hat. Damit wird nicht nur – ungerechtfertigterweise – die individuelle Leistung des Athleten relativiert. Es wird dadurch vor allem das Fundament des Hochleistungssports verletzt, nämlich das Prinzip des Fair Play, welches auf das Engste an die Maxime der Chancengerechtigkeit gebunden ist. Genau diese wurde jedoch längst über Bord geworfen, seit man zulässt, dass gleichsam in geheimwissenschaftlicher Mission Technologen Sportausrüstungen entwickeln, die den Konkurrenten vorenthalten werden, um auf diese Weise den Ausgang der Wettkämpfe entscheidend zu beeinflussen.
Angesichts dieser Art von technologischer Beziehung zwischen Sportwissenschaft und Leistungssport kann es kaum überraschen, dass dabei nur ganz wenige Teildisziplinen der Sportwissenschaft angefragt werden und genau diese wiederum auch am direktesten in die Organisation des Sports eingebunden sind. Kommt es zu einer professionellen Beziehung und beschäftigen Sportorganisationen gar Sportwissenschaftler, so sind es in der Regel nur solche, die diesen Teildisziplinen verpflichtet sind. Die größte Bedeutung hat dabei die Sportmedizin, ihr folgt die Biomechanik. Ebenfalls gefragt sind die Trainingswissenschaften, eine eher nachgeordnete Rolle spielt die Sportpsychologie. Disziplinen wie die Sportsoziologie, die Sportpädagogik, die Sportökonomie, die Ethik und die Philosophie des Sports spielen dabei gar keine oder nur eine sehr bescheidene Rolle.
Sportwissenschaft wird in aller Regel nur dann kontaktiert, wenn sie direkt beratend Hilfestellungen anbieten kann, wenn ihre Rückmeldungen in relativ kurzfristiger Weise zu einer Anwendung führen können. Beispielhaft kann dies anhand der Biomechanik aufgezeigt werden. Athleten und Trainer, die auf die Erkenntnisse der Biomechanik setzen, gehen davon aus, dass Messungen im Training und im Wettkampf durchgeführt werden, dass dabei Flugkurven, Kraftverhältnisse, Anlaufgeschwindigkeiten, Kraft, Schnelligkeit, Sprungkraft-, Ausdauer- und sonstige Vektoren in einer systematischen Weise erfasst und diese möglichst innerhalb weniger als einer halben Woche als relevante Daten für den Trainingsprozess an den Athleten und den Trainer rückgemeldet werden. An weiterführenden systematischen Ausführungen sind diese nicht interessiert. Theoretisch-kritische Fragen, die möglicherweise den Biomechaniker in diesem Zusammenhang selbst beschäftigen, interessieren die Praxis nicht. Fühlen sich allerdings Athlet und Trainer selbst als Objekt in Versuchsreihen ausgenutzt, so stellen sie die Intervention der Sportwissenschaften schnell in Frage.
Die Praxis, das wird an diesem Beispiel deutlich, ist offensichtlich nur an der halben, d.h. an der technologischen Komponente der Wissenschaft interessiert. So, wie der Biomechaniker über seine Leistungsdiagnostik direkt in die Praxis eingebunden werden sollte, so wird dies auch vom Sportmediziner, vom Trainingsexperten und vom praktizierenden Psychologen erwartet.
Aus der Sicht des Hochleistungssports ist diese Haltung naheliegend und auch verständlich. Für ihn muss Wissenschaft instrumentellen Charakter haben. Man benutzt sie wie die anderen Instrumente, die zur Erbringung sportlicher Höchstleistungen im modernen Hochleistungssport erforderlich geworden sind. Kurzfristig scheint solch eine Haltung auch sinnvoll zu sein. Mittel- und langfristig wirft sie jedoch Fragen auf. Bei einer derart verkürzten Konzeption sportwissenschaftlicher Kooperation können die Probleme und Fehlentwicklungen kaum noch überraschen, die insbesondere durch solche Athleten, Trainer und Funktionäre hervorgerufen werden, für die ganz offensichtlich jedes Mittel angemessen ist, wenn damit der Sieg über den Gegner wahrscheinlicher gemacht werden kann. Mit der Manipulation durch pharmakologische Substanzen wird nicht nur die Leistung des mündigen Athleten in Frage gestellt, sondern auch die Arbeit und das Können eines Trainers in schändlicher Weise angegriffen. Ja, der ganze Sport wird dadurch diskreditiert.
Die problematischsten Rollen spielen dabei jedoch wissenschaftlich ausgebildete Experten, die, mittels ihrer im Umfeld des Athleten erstellten Expertise, die Grundlage für den kriminellen Betrug im und am Hochleistungssport schaffen. Biochemiker, Pharmakologen und Mediziner führen dabei ihre eigenen ethisch-moralischen Prinzipien ad absurdum, werden Teil eines kriminellen ökonomischen Kalküls und lassen die Wissenschaft zur Hure der sportlichen Höchstleistung verkommen. Wissenschaft prostituiert sich dabei selbst. Dies tut sie meist für gutes Geld und sie zeigt dabei auf besonders drastische Weise, was aus ihr werden kann, wenn die wissenschaftliche Arbeit zu einer Technologie ohne Moral verkommt.
Das, was Wissenschaft als Beratungsleistungen erbringen kann, wird durch die heute in der Sportpraxis übliche und meist unreflektiert vorgenommene Reduktion auf die technologische Seite wesentlich verkürzt und eingeschränkt. Die eigentliche Qualität wissenschaftlicher Beratungsleistungen kann – gerade auch unter instrumentellen Gesichtspunkten – damit aber nur bedingt jenen Ansprüchen genügen, durch die sich wissenschaftliche Beratung auszuzeichnen vermag. Erstarrt Wissenschaft zur Technologie, so hat sie überwiegend affirmative Bedeutung. Der Wissenschaftler handelt als Rädchen im Getriebe nach vorgegebenen Mustern und sein Handeln hat es dabei eigentlich nicht mehr verdient, mit dem Attribut „wissenschaftlich“ ausgezeichnet zu werden. Der kritisch-selbstreflexive Prozess, durch den sich der Wissenschaftler auszeichnen sollte, findet gar nicht oder nur noch am Rande statt. Ein notwendiger Prozess der Theorieentwicklung ist nicht zu erkennen und ein fruchtbarer Austausch zwischen Anwendungsorientierung und grundlagentheoretischer Konzeption kann keine Früchte tragen.
Dabei bedarf die aktuelle und zukünftige Entwicklung des Hochleistungssports genau dieser besonderen qualitativ-kritischen Begleitung. Die Fragen türmen sich, die sich innerhalb des Systems Hochleistungssports stellen und deren Beantwortung immer schwieriger wird. Es kann nicht überraschen, dass immer mehr die Frage nach der Psyche gestellt wird, wenn der menschliche Körper an die Grenze seiner Leistungsfähigkeiten gelangt. Es ist auch naheliegend, dass man immer intensiver die Antwort auf die Frage nach dem geeigneten Organisationssystem gesucht, wenn die Umweltbedingungen, in denen sich der Athlet mit seiner sportlichen Leistung befindet, immer komplexer und weniger durchschaubar werden. Dies alles gipfelt in der Frage nach den Möglichkeiten des humanen Leistens, wenn dieses Leisten nur dem typischen Code „Sieg – Niederlage“ des Hochleistungssports unterstellt bleibt.
Bei der Suche nach Antworten in Bezug auf die alles entscheidende Frage nach dem Menschlichen in der Zukunft des Hochleistungssports lässt zum einen die Sportwissenschaft von heute den Hochleistungssport im Stich, zum anderen wird sie danach schon gar nicht gefragt. Sportwissenschaft wird wohl an nahezu allen Universitäten in Deutschland gelehrt und geforscht. Der Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und Lehre wird dabei nahezu willkürlich vervielfältigt und an Allgemeinheit kann die Sportwissenschaft kaum noch übertroffen werden. Die Institutionen, in denen die Wissenschaftler arbeiten, führen auch meist noch den Begriff des Sports in ihrem Namen, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass die institutionelle Entwicklung der Sportwissenschaft in Deutschland vorrangig dem organisierten Sport zu verdanken ist. Der Sport selbst kommt jedoch, zumindest bei einigen Wissenschaftlern dieser Institute, sowohl in der Lehre, als auch in der Forschung nur noch am Rande vor. Von der menschlichen Bewegung, vom Körper, von der Motorik, von der Gesundheit ist dabei die Rede und Sportwissenschaftler sehen sich eher als Bewegungs-, Gesundheits- und Körperwissenschaftler. Der institutionelle Sport und dabei vor allem der Hochleistungssport wird allenfalls aus einer kritischen Distanz beobachtet, ohne dass man dabei erkennen könnte, dass das Phänomen des Hochleistungssports den Sportwissenschaftlern auch nur annähernd vertraut wäre. Hochleistungssport ist an vielen Ausbildungs- und Forschungseinrichtungen in Deutschland fast zu einem Fremdkörper geworden. Die wenigen, meist technologisch ausgerichteten Wissenschaftler beschäftigen sich als Außenseiter mit den Fragen des Hochleistungssports und aus der Sicht nicht weniger Sportwissenschaftler sind jene suspekt, die sich in einer engen Beziehung zu den Sportverbänden befinden. Bei all diesen Be- und Verurteilungen ist viel Heuchelei im Spiel. Neid und Missgunst sind dabei ebenso zu beobachten wie Bequemlichkeit, die nicht selten mit Ignoranz gepaart ist. Dabei könnte die Sportwissenschaft in vielerlei Hinsicht, sowohl als Institution, als auch in Form von Lehr- und Forschungsleistungen einzelner Persönlichkeiten, eine wegweisende Hilfe für die Zukunft des Hochleistungssports in Deutschland sein. Die Problemstellungen des Hochleistungssports haben stellvertretende Relevanz für unsere Gesellschaft. Das wissenschaftliche Handeln in diesen Problemfeldern ist eine interessante Herausforderung für Forscher und Forschungseinrichtungen, die an den handelnden Menschen im Hochleistungssport interessiert sind und die mit ihrer Arbeit einen Beitrag zu einer humanen Weiterentwicklung des Sports in unserer Gesellschaft leisten möchten.
letzte Überarbeitung: 08.04.2019