Was aus einer gescheiterten Olympiabewerbung gelernt werden kann

Bei einer gesellschaftlichen Entwicklung, die ganz wesentlich vom Merkmal der Globalisierung geprägt wird, ist die Frage nach der Selbstwahrnehmung von höchster Relevanz, weil sich Menschen, Gruppen, Regionen, Nationen oder gar ganze Kontinente in der sich immer wieder aufs Neue vernetzten globalen Welt angemessen einzuordnen haben. Wer bin ich? Wie sehe ich mich im Vergleich zu anderen? Wie sehen andere mich im Vergleich zu sich selbst? Was sind meine Stärken, was sind meine Schwächen? Wo habe ich Möglichkeiten? Wo liegen meine Versäumnisse?

In Deutschland, so scheint es, gibt es schon seit längerer Zeit ein Problem der Selbstwahrnehmung. Meist sieht sich Deutschland dabei als etwas besonderes, als etwas einmaliges, tradiert und propagiert diese Bewertung in Presse, Hörfunk, Fernsehen und neuerdings immer häufiger auch im Internet. Wird die auf diese Weise beeinflusste und verführte Masse der deutschen Bevölkerung mit der Realität konfrontiert, die oft eine ganz andere Sprache spricht, verfällt die deutsche Gesellschaft sehr schnell in eine Schockstarre zurück, erweist sich als handlungsunfähig und schon gar nicht können tragfähige Zukunftsperspektiven entwickelt werden.

Es kann kaum überraschen, dass auch im Bereich des Sports Probleme der Selbstwahrnehmung zu erkennen sind. Dies ließ sich vor allem nach den Entscheidungen über die Vergabe zukünftiger Olympischer Spiele beobachten. Die Abstimmungsniederlage z.B. der deutschen Bewerbung für die Winterspiele 2018 und der klare Sieg Koreas hatte bei den Verlierern Unverständnis, teilweise Empörung, mehrheitlich Trauer, bei manchem auch Verärgerung hinterlassen. Manche Reaktion war verständlich. Wer in einen Wettbewerb eintritt möchte siegen und wer mit der besten Bewerbung antritt und dennoch verliert, der darf zunächst einmal zu Recht auch verärgert sein. Kaum zu verstehen war jedoch das Unverständnis, mit der man auf die Entscheidung des IOCs reagierte. Problematisch war auch, wie man sich selbst in der Konstellation der drei Bewerber aus Frankreich, Korea und Deutschland einordnete. Frankreich, als Freund und Partner, als respektable Wintersportnation, als Bewerber mit Annecy – einer durchaus sehr schönen und wintersportaffinen Stadt – wurde schon im Vorfeld von Deutschland so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen, eine angemessene sachliche Einordnung dieser Bewerbung war eher die Ausnahme als die Regel. Von Korea wusste man, dass ihre Bewerbung zweimal gescheitert war, dass sie von Bewerbung zu Bewerbung bemüht gewesen sind die handwerkliche Konzeption zur Ausrichtung zukünftiger Spiele zu verbessern und dass sie gelehrige Schüler des IOCs gewesen waren. Das Bewerbungskomitee Deutschlands war sich dennoch seiner Siegchancen bewusst, die fachliche Konzeption der deutschen Bewerbung war und wäre auch heute noch äußerst tragfähig, in ökologischer Hinsicht war sie modellgebend und unter ökonomischen Gesichtspunkten konnte und könnte sie auch noch in der aktuellen Situation sie als besonders verantwortungsvoll bezeichnet werden. Dennoch überraschte es Experten wie sich Deutschland als ernsthafter Konkurrent von Pyeongchang wahrgenommen hat. Seit mehr als zwei Jahrzehnten war es klar, dass die Entscheidungen zur Vergabe Olympischer Spiele nach Kriterien erfolgen, die sich durch eine ungewöhnliche Rationalität auszeichnen. Es hat bis heute nur ganz selten Entscheidungen gegeben, die aus der Sicht einer großen Mehrheit als verständlich zu bezeichnen gewesen sind: Sotschi gewann und Salzburg war chancenlos; Rio de Janeiro war der Überraschungssieger, weil dem Bewerber Chicago ein Denkzettel verpasst wurde; Peking, als Zentrum einer Diktatur, ließ ein wiedervereintes Berlin als unbedeutend erscheinen; Turin als Industriemoloch verwies Wintersportidyllen auf hintere Ränge.

All diese eigenartigen Entscheidungen haben gezeigt, wie problematisch es war und   ist, wenn eine Vollversammlung mit mehr als 100 Stimmen über die Vergabe von Olympischen Spielen entscheidet. Die Entscheidungen haben auch deutlich gemacht, dass es wenig Sinn macht, dass Personen, die zu Winterspielen gar keine Beziehung aufweisen, über die Vergabe von Winterspielen mitentscheiden. Umgekehrt gilt dies gleichermaßen für die Sommerspiele. Bei den Winterspielen ist dieser Sachverhalt jedoch besonders bedeutsam. Immerhin waren es mehr als die Hälfte der IOC-Delegierten, die ohne Bezug zum Wintersport entschieden und denen es gleichgültig war, in welchem Ort die zukünftigen Winterspiele stattfinden. Die Stimmabgabe all dieser Unbeteiligten war und ist jedoch nicht kriterienlos, auch sie können mit ihrer Stimmabgabe Interessen verfolgen. Auch sie sind in das Gefüge der Sportwelt eingebunden und nicht zuletzt wirtschaftliche Interessen sind es, die einen Delegierten zu einer bestimmten Stimmabgabe veranlassen können. Weist ein internationaler Sportfachverband eine langjährige Kooperation mit einem Sponsor auf, der aus einem der Bewerberländer kommt, so kann eine moralische Verpflichtung für diesen Sponsor durchaus als gegeben vermutet werden. Bemühen sich Industrieunternehmen aus einem Bewerberland seit Jahren im Bereich des Sportsponsorings, wie dies beispielsweise bei Korea der Fall ist, so ist dies für die Stimmabgabe von Repräsentanten internationaler Sportorganisationen nicht folgenlos. Gerade im Vergleich zwischen Korea und Deutschland wird dabei deutlich, dass es nur ganz selten deutsche Unternehmen sind, die sich im internationalen Sport mit Sponsoringpartnerschaften engagieren. Für koreanische Unternehmen ist dies hingegen eine Selbstverständlichkeit. Dies gilt für das staatliche Flugunternehmen gleichermaßen wie für die führenden Industriekonzerne Koreas. Hinzukommt, dass die Sportorganisation Koreas unter personellen Gesichtspunkten eine enge Verflechtung mit den nationalen Großkonzernen aufweisen und auf diese Weise die Unternehmen in die internationalen Sportorganisationen und deren Entscheidungsgremien auf teilweise direkte, teilweise indirekte Weise eingebunden sind.

Betrachtet man hierzu noch ergänzend die Stimmenverhältnisse in der IOC-Vollversammlung unter kontinentalen Gesichtspunkten, so muss vor allem das Gewicht Afrikas beachtet werden, aber auch die Stimmen Südamerikas und Asiens waren in Bezug auf die Abstimmung zu Gunsten von Pyeongchang, Rio de Janeiro und Peking bedeutsam gewesen. Anzunehmen, dass dabei die europäischen Bewerber vor allem europäische Unterstützung erhalten, ist keineswegs naheliegend, wie dies auf den ersten Blick erscheint. Stimmabgaben hängen auch mit taktischen Überlegungen zusammen. Da mittlerweile üblich geworden ist, dass zumindest für manche Delegierte, eine Rotation der Kontinente bei der Ausrichtung zukünftiger Spiele wünschenswert sein könnte, darf angenommen werden, dass Delegierte, die selbst die Absicht haben, sich für zukünftige Spiele zu bewerben, einer Bewerberstadt aus der eigenen Region Ihre Unterstützung verweigern, weil angenommen werden kann, dass sich die eigenen Chancen durch diese Verweigerung erhöhen. Wenn man z.B. weiß, dass Italien sich mit Rom für die nächsten Sommerspiele bewerben möchte, wenn vergleichbare Absichtserklärungen in Spanien mit Madrid vorliegen, Spanien aber auch an zukünftige Winterspiele denkt, so steigen die eigenen Chancen ganz erheblich, wenn der Ausrichter der zukünftigen Olympischen Winterspiele aus Asien kommt. „Der vergangene Mittwoch war ein guter Tag für jene, die sich Olympia in der Schweiz wünschen“, so wurde in der Schweizer Sonntags-Zeitung die Abstimmung von Pyeongchang kommentiert. Das kleine Land Schweiz verfügt über relativ viel Stimmen in der Vollversammlung des IOCs. Doch diese Stimmen konnten von den europäischen Bewerbern nicht erwartet werden, denn nur mit einem Erfolg von Pyeongchang könnte eine erfolgreiche Schweizer Bewerbung um zukünftige Winterspiele zielführend sein. Die Unterstützung der europäischen Wettbewerber konnte deshalb aus taktischen Gründen kaum erfolgen. Der von Beckenbauer ausgesprochene Wunsch einer europäischen Zusammenarbeit bei internationalen Bewerbungen war lobenswert, er ist aber auch naiv. Die politische Realität in den internationalen Sportorganisationen spricht eine andere Sprache.

Die Beispiele können aber auch zeigen, dass hinter den Entscheidungen des IOCs durchaus ein Regelkonstrukt zu erkennen ist, das keineswegs beliebig ist, das seine eigene Logik aufweist und das vor allem äußerst komplex ist. Vor dem Hintergrund dieser Entscheidungsregeln kann es nicht überraschen, dass die große Mehrheit der internationalen Experten der Auffassung gewesen ist, dass die Entscheidung für Pyeongchang bereits im ersten Wahlgang stattfinden könnte. Einige Experten hatten angenommen, dass der koreanische Bewerber sich im ersten Durchgang mehr als 60 Stimmen sichern kann und dass die europäischen Bewerber aus grundsätzlichen Erwägungen heraus mit Blick auf das Regelkonstrukt bei dieser Entscheidung keine Rolle spielen werden. Vor diesem Hintergrund ist das von München erreichte Resultat durchaus beachtlich. Häme war und ist zumindest nicht angebracht.

All diese Erkenntnisse und Zusammenhänge waren längst vor der Entscheidung zugunsten von Pyeongchang bekannt, niemand ist sich dieser Zusammenhänge mehr bewusst als der damalige deutsche IOC-Vizepräsident, der mit großem Engagement sich für die deutsche Bewerbung eingesetzt hat, und dessen Reaktion auf die Entscheidung zugunsten von Pyeongchang auch äußerst professionell gewesen ist. Die deutsche öffentliche Wahrnehmung, teilweise auch bedingt durch einige Repräsentanten der deutschen Bewerbung, war jedoch eine andere. Da man selbst seine Chancen nicht realistisch eingeordnet hatte, war die Enttäuschung umso größer und die Suche nach den Schuldigen naheliegend, wenngleich die aus Berlin vorlaut geäußerte Kritik verbunden mit einem ungeprüften Bewerbungsanspruch auf deutsche Sommerspiele gewiss nicht hilfreich und sinnvoll gewesen ist.

Da in Deutschland die neue Geographie des Weltsports politisch nur sehr unzureichend zur Kenntnis genommen wurde, wurde man mit der neuen Realität umso härter über eine schmerzhafte Niederlage konfrontiert. In der Welt des Sports ist Deutschland mittlerweile eine Sportnation unter vielen. Sie hat wohl manche historischen Verdienste aufzuweisen, doch bei aktuellen und zukünftigen Entscheidungen über den Sport spielt die Vergangenheit keine Rolle. Sportpolitik ist zukunftsorientiert, die Entscheidungen folgen überwiegend einer ökonomischen Logik: Wer zahlt, schafft an und Werte sind dann wichtig, wenn man damit Geld verdienen kann. Asien wird aktuell als der entscheidende Kontinent der Zukunft wahrgenommen, China und Indien sind die relevanten Zukunftsmärkte, die Repräsentanten aus Südamerika und Afrika leiden heute gewiss nicht unter einem Minderwertigkeitskomplex. Die superiore Position europäischer Delegierter und Repräsentanten ist für immer aufzugeben. Die Entscheidung über die Winterspiele von Pyeongchang sollte auch heute noch Anlass sein zu einer Überprüfung der Selbstwahrnehmung in der Welt des deutschen Sports. Marketingstrategien können trügerisch sein. „A Festival of Friendship“ – Slogans spiegeln nicht die Realität wider. Beliebtheit und Mehrheiten entstehen nur durch kluge und harte Arbeit. Solidarleistungen, Entwicklungszusammenarbeit und Partnerhilfe dürfen nicht Kalkulationsmasse für ökonomische Interessen sein. Wer sich selbst in der Welt des Sports unangemessen einordnet, der darf sich über enttäuschende Folgen nicht beklagen.

letzte Überarbeitung 27.11.2020