Warum der Fall Kamila Valieva eine grundsätzliche sportpolitische Diskussion notwendig macht

Die Stellungnahme des IOC durch dessen Pressesprecher und die Stellungnahme des DOSB durch dessen Präsidenten zum Dopingfall „Valieva“ sollten Aufforderung zu einer dringend notwendigen öffentlichen sportpolitischen Diskussion sein, in der man sich mit dem seit Jahrzehnten ungelösten Problem der Minderjährigen im internationalen Hochleistungssport auseinandersetzt. DOSB Präsident Weikert fordert in seiner Stellungnahme eine Einzelfallbetrachtung jeder Sportart, wenn es um die Anfälligkeit der unterschiedlichen olympischen Sportarten für medikamentöse Manipulationen der sportlichen Leistungen geht. Dieser Aussage kann wohl kaum widersprochen werden. Doch in Weikerts Erklärung bleibt unklar, was diese Forderung mit dem Auslaufen der Sperre gegen den russischen Sport zum Jahresende 2022 zu tun hat. Da Weikert selbst Jurist ist, darf von ihm wohl zu Recht erwartet werden, dass er klar zum Ausdruck bringt, ob er das Auslaufen für begründet hält oder ob er der Auffassung ist, dass die Sperre gegen Russland verlängert werden muss. Ist Letzteres der Fall, so muss ferner erwartet werden, dass der DOSB einen entsprechenden Antrag gegenüber den Entscheidungsgremien des internationalen Sports in dieser Angelegenheit einreicht. Es wäre auch zu wünschen, dass der DOSB sich um eine Mehrheit bemüht, die bei einer entsprechenden Abstimmung über seinen Antrag in dem dafür zuständigen Entscheidungsgremium erforderlich sein könnte. Im letzten Jahrzehnt ist mir kein Fall bekannt, in dem es entsprechende Initiativen des DOSB bei den Vollversammlungen der Nationalen Olympischen Komitees, bei IOC – Sessionen, bei den Versammlungen der europäischen Olympischen Komitees oder bei allen sonstigen Versammlungen wie z.B. beim Sportaccord – Kongress gegeben hat. Sich öffentlich über Verfehlungen im internationalen Sport zu empören, aber selbst die notwendigen entscheidenden Schritte nicht einzuleiten, kann nur als eine besonders ärgerliche Form der Heuchelei bezeichnet werden. Dies gilt für Doping- Skandale gleichermaßen wie für Manipulationen bei Wahlen zu den internationalen Sportgremien wie auch für die zu Recht beklagten und noch immer anzutreffenden Korruptionsfälle.

Gleiches gilt für den zweiten Teil der Stellungnahme des DOSB – Präsidenten Weikert. Er fragt, welchen Leistungssport wir eigentlich haben wollen und sieht sich in seiner Auffassung bestärkt, „dass jungen Athlet*innen Zeit gegeben werden muss – ein humaner Leistungssport darf nicht so früh viel verlangen“.
Auch diese Aussage ist in vieler Hinsicht ärgerlich. Weikert weicht der Frage aus, ab welchem Alter Hochleistungssport erlaubt sein soll und ab welchem Alter mit dem Training für den Hochleistungssport begonnen werden soll. Die Forderung, dass Athlet*innen Zeit gegeben werden muss, ist vielmehr genauso ausweichend wie die gesamte Pressemitteilung des DOSB Präsidenten. Sie ist populistisch und wird vor allem aber auch folgenlos sein.

Nicht weniger problematisch ist die Stellungnahme von Mark Adams, dem Sprecher des IOC-Präsidenten, zu dem Doping Fall der 15-jährigen Eiskunstläuferin. Wohl konstatierte Adams, dass es Herausforderungen in der Frage gibt, ob jüngere Athleten und Athletinnen bei Olympischen Spielen teilnehmen sollen. Doch das IOC vertritt die Auffassung, dass man ihnen Gelegenheiten geben soll, wenn man solche für möglich hält. Das IOC glaubt, dass dies eine Frage der richtigen Balance ist und in seiner Stellungnahme behauptet Adams: „Wir haben jedem eine Chance zu geben, seinen olympischen Traum zu erfüllen und ich denke, dass jedermann jüngere Athleten bei den Olympischen Spielen eingebunden sehen möchte“. Er erinnerte an die außergewöhnlichen Leistungen im Skateboarding von jüngeren Athleten bei den Sommerspielen 2020 in Tokio. Ergänzend hierzu meinte er, dass man dabei immer das Wohlergehen der Athleten im Blick haben sollte. Dabei war das Durchschnittsalter der weiblichen Skateboarder in Tokio gerade mal 14 Jahre; im Kunstturnen ist das Alterslimit bei 16 Jahren angesetzt und beim Eiskunstlauf beträgt derzeit das Alterslimit 15 Jahre. Erinnert sei auch an die 13-jährige Schwimmerin aus Nepal, die 2016 bei den Olympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro teilgenommen hat und an den Doppelolympiasieger Nieminen, der als 16-jähriger 1992 an den Olympischen Winterspielen teilgenommen hat. Die Liste der minderjährigen Olympiateilnehmer kann nahezu unendlich fortgeführt werden. Bei der Nennung der Namen dieser Athletinnen und Athleten muss daran erinnert werden, dass nicht selten ihre Teilnahme bei Olympischen Spielen eine Diskussion über die weit verbreitete Gefahr der Magersucht bei diesen Athletinnen und Athleten und über die nicht weniger gefährlichen Wachstumsmanipulationen zur Folge hatte, ohne dass bis heute wirkungsvolle Maßnahmen dagegen unternommen wurden.
Wem wirklich das Wohlergehen der Athletinnen und Athleten ein wichtiges Anliegen ist, der kann sich mit einer derart allgemein gehaltenen Stellungnahme des IOC nicht zufriedengeben. Wenn behauptet wird, dass „jedermann“ Kinder und Jugendliche bei Olympischen Spielen als Athletinnen und Athleten dabeihaben möchte, so muss dieser Annahme entschieden widersprochen werden. Zumindest ich selbst gehöre nicht zu „jedermann“ und ich kenne viele, die der Auffassung sind, dass Kinderhochleistungssport unter ethischen und moralischen Gesichtspunkten nicht zu verantworten ist. Vielmehr gehört Kinderhochleistungssport in gleicher Weise geächtet wie dies gegenüber der Kinderarbeit in westlichen Demokratien eine unverzichtbare Maxime ist. Herrn Adams faszinierten möglicherweise die außergewöhnlichen akrobatischen Leistungen der 13 – und 14 – jährigen Mädchen beim Olympischen Finale im Skateboarding. Für mich und für viele meiner Freunde und Bekannten waren diese sportlichen Leistungen wohl faszinierend, doch gleichzeitig waren sie aber auch erschreckend und empörend, denn sie setzen ein tägliches Training über mehrere Jahre voraus, wenn Mädchen im Kindesalter diese sportlichen Höchstleistungen bei Olympischen Spielen präsentieren wollen. Das Problem des Kinderhochleistungssports lässt sich nicht nur auf das Skateboarding und den weiblichen Eiskunstlauf beschränken. Es ist in der großen Mehrheit der olympischen Sportarten anzutreffen. Frühkindliche Belastungsschäden und eine ständige Gefährdung der Gesundheit junger Menschen sind kennzeichnend für das Training in vielen olympischen Sportarten.
Schon im vergangenen Jahrhundert hat es zahlreiche Stellungnahmen gegen den Kinderhochleistungssport gegeben. Erinnert sei an die Grundsatzerklärung des Deutschen Sportbundes „Kinder im Leistungssport“, die 1983 in Stuttgart verabschiedet wurde. Doch wie so viele Resolutionen, die von Sportorganisationen verabschiedet wurden, sind fast alle bis heute wirkungslos geblieben.

Die Lösung für das an Dringlichkeit kaum noch zu überbietende Problem des olympischen Hochleistungssports könnte dabei meines Erachtens durchaus sehr einfach sein. Eine Lösung des Problems könnte darin bestehen, dass sich alle Olympischen Sportverbände an jenen Verbänden orientieren, die für ihre Sportart/Sportdisziplin seit mehr als 100 Jahren an dem Eintrittsalter von 18 Jahren für den Erwachsenensport festgehalten haben. Es kann Sinn machen, sich an frühere Zeiten zu erinnern, in denen auch in jenen Sportarten, in denen heute der Kinderhochleistungssport ein verantwortungsloses Ausmaß angenommen hat, die Altersgrenze noch bei 18 Jahren lag. Man kann durchaus das „Rad der Zeit“ zurückdrehen und eine Einsicht in Fehler kann auch als Fortschritt gedeutet werden. Meines Erachtens hat es zu keinem Zeitpunkt tragfähige, d.h. ethisch und medizinisch verantwortbare Gründe gegeben, die Grenze von 18 Jahren für die Teilnahme bei Olympischen Spielen zu unterschreiten.

In Bezug auf den zweiten Aspekt des Falls „Kamila Valiewa“ gibt es ebenfalls einen dringenden Handlungsbedarf. Das gegenüber der russischen Eiskunstläuferin vielfach geäußerte Mitleid ist verständlich, wenngleich man gleichzeitig wissen sollte, dass gerade in der Welt des Hochleistungssports, mit dessen unzähligen Dopingskandalen, es nur sehr selten möglich war, „Opfer“ und „Täter“ trennscharf zu unterscheiden. Doch genau deshalb muss auch gefragt werden wie es möglich ist, dass die russische Eiskunstläuferin trotz ihres Dopingverstoßes am bevorstehenden Eiskunstlaufwettbewerb teilnehmen darf, ohne dass die Öffentlichkeit in einem ausreichenden Maße die juristischen Gründe erfährt, die diese Teilnahme möglich gemacht haben. Sollte die Goldmedaille der russischen Eislaufmannschaft nicht aberkannt werden und sollte es zu einem Fortbestehen der Startberechtigung der gedoptem 15-jährigen russischen Eiskunstläuferin auf der Grundlage des Minderjährigenschutzes kommen, so würde dies alle aufrichtigen Bemühungen im Anti – Dopingkampf konterkarieren. Es würde damit auch die Möglichkeit eröffnet, dass sanktionsfrei Tür und Tor für das Minderjährigendoping offenbleiben würde.

Vor allem muss aber auch gefragt werden, gegen welche Personen im Umfeld der Athletin durch das IOC, die WADA und die Internationale Eislaufunion Verfahren eingeleitet wurden, wenn gleichzeitig die Schutzbedürftigkeit der Athletin hervorgehoben wird. Warum wird das Russische Olympische Komitee von den Spielen und aus dem IOC nicht ausgeschlossen? Wie ist es möglich, dass ein von der WADA akkreditiertes schwedisches Labor in Stockholm die festgelegten Fristen für die Prüfung von Proben um Wochen überschreitet, wenngleich die Olympischen Winterspiele in Peking unmittelbar bevorstehen? Warum wird der Russische – Eislaufverband von der Internationalen Eislaufunion nicht für einen längeren Zeitraum gesperrt? Welche Schritte unternehmen die Mitgliedstaaten im Aufsichtsgremium der WADA, wenn in Russland gegen die eigentlich Verantwortlichen dieses Falls keine ordentlichen Rechtsverfahren eingeleitet werden?
Aus deutscher Sicht darf durchaus auch gefragt werden, mit welchen Anträgen gegenüber den internationalen Gremien sich die Deutsche Eislaufunion und der DOSB in Bezug auf diesen Dopingskandal beteiligt?

Der olympische Sport definiert sich durch seine selbst gegebenen Regeln. Diese Regeln können verändert werden. Wenn gegen Regeln verstoßen wird, muss es tragfähige Sanktionen geben, damit das Regel-Gebäude des olympischen Sports gefestigt bleibt. Wer neue Regeln für notwendig hält, der muss zum Antragsteller bei den internationalen Kongressen der Internationalen Sportverbände werden. Er muss sich um Mehrheiten zu Gunsten seiner neuen Regeln bemühen, und er muss sich geheimen Abstimmungen stellen. Diese Maximen sind nicht nur wichtig für die weitere Entwicklung des Olympischen Sports und des Olympismus. Sie sind auch die Maximen einer lebendigen Demokratie, in der über Mehrheitsentscheidungen in Parlamenten die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Die deutschen Persönlichkeiten, die in leitenden Positionen in den internationalen Gremien tätig sind, aber auch die deutschen Sportfachverbände sind deshalb aufgefordert, sich bei ihrem internationalen Handeln an diesen Maximen zur orientieren. Auf folgenlose Pressemitteilungen und auf populistische Empörungsrituale vor laufenden Kameras kann verzichtet werden. Unverzichtbar sind jedoch begründete Anträge gegenüber den Entscheidungsgremien des internationalen Sports, mit denen dessen Zukunft gesichert und mit denen den nachkommenden Generationen ein Weg in den Olympischen Sport möglich gemacht werden kann.