Die Weltleichtathletik befindet sich nicht erst seit dem russischen Dopingskandal in einer gefährlichen Krise. Unter Führung des unter Korruptionsverdacht stehenden afrikanischen Präsidenten Lamine Diack war die Entwicklung der Leichtathletik über mehr als ein Jahrzehnt von Stagnation, Reformunfähigkeit und Innovationsfeindlichkeit geprägt. Mit der Wahl eines neuen Präsidenten wurden Hoffnungen wachgerufen, der Wunsch und der Wille zu einer umfassenden Reform sind dabei kaum zu übersehen. Deshalb richteten sich die Erwartungen einer leichtathletikinteressierten Öffentlichkeit auf den ersten IAAF-Kongress unter Leitung von Sebastian Coe, der am 02./03.08.2017 in London stattfand. Der IAAF bat sich bei diesem Kongress eine einmalige und große Chance, die, so muss man es allerdings bereits wenige Wochen danach feststellen, vollständig verspielt wurde.
Man könnte es schon als symbolisch bezeichnen, dass bereits bei der Kongresseröffnung, die bei sämtlichen IAAF-Kongressen der letzten 20 Jahre üblichen technischen Pannen anzutreffen waren, als es um die Überprüfung der Anwesenheit der Mitglieder und deren Stimmabgabe gegangen ist. Sehr schnell wurde dann allerdings klar, dass es der Führung der IAAF bei diesem Kongress nicht um eine kommunikative Reflexion all ihrer Probleme geht, vielmehr sollte ein Bilderteppich aus den schönsten Bildern der Leichtathletik Atmosphäre und ein Gefühl der Gemeinsamkeit erzeugen. „Athletics connect“ – das gewählte Kongressthema – wurde somit lediglich in Bildern erfasst. Im Mittelpunkt des Kongresses standen nicht differenzierte und abwägende Ausführungen über einzelne Fragestellungen zur Entwicklung der Leichtathletik, im Mittelpunkt befand sich vielmehr eine „personality show“ des Präsidenten. Seine Läuferkarriere bildete bei jedem seiner Auftritte den visuellen Rahmen oder inhaltlichen Bezug und er selbst erwies sich einmal mehr als Kommunikationstalent. Viel „talk“, wenig „action“ scheint sein Motto zu sein. Von der großen Erneuerung war dabei die Rede, doch betrachtet man die vergangenen zwei Jahre seit dem letzten Kongress in Peking 2015, so muss man von einer Fortsetzung der Stagnation sprechen. Anstelle von Innovation werden vielmehr nur bestehende Strukturen mit neuen Etiketten versehen und die IAAF ist dabei auf dem Weg nach Angelsachsen. Waren unter Diack frankofone Einflüsse dominant, so ist es nun der Commonwealth, der sich die Leichtathletik wieder zurückerobert hat. Die von Coe neu besetzten Stellen im IAAF-Headquarters und die von ihm berufenen Consultants sprechen eine eigene Sprache. Der Begriff der „integrity unit“ steht nun anstelle des Begriffs einer „Anti-Doping-Kommission“. „Ethikkommission“ wird durch „Ethikboard“ ersetzt und man bedient sich einer ganzen Reihe von „celebrities“ als geeignete Akteure für ein oberflächliches „window dressing“. Prinz Albert gehört dabei ebenso dazu wie der ehemalige Generalsekretär der WADA. Zu all dem passt ein neuer Generalsekretär, der als Alleswisser auftritt, dem aber jegliches Grundlagenwissen zur Leichtathletik fehlt. Auffällig ist dabei, dass die Begriffe „ethics“, „transparency“ und „good governance“ zu Modewörtern der Stunde innerhalb der IAAF geworden sind. Dies wird auch in den Ausführungen deutlich, wie sie von den Präsidenten der fünf Kontinentalverbände vorgetragen wurden.
Dem europäischen Präsidenten bleibt es dabei vorbehalten, über eine Reform der Rekorde nachzudenken, ohne die ethische Problematik dieser Reformen auch nur annähernd zu erkennen und seine Vorschläge sind einmal mehr bloße Ankündigungen, ohne dass im Kongress Reformbeschlüsse zur Anerkennung von Weltrekorden angestrebt werden.
Noch oberflächlicher sind die Ideen zu einer Kalenderreform, wie sie vom asiatischen Präsidenten vorgetragen wurden, wobei hinzuzufügen ist, dass in der asiatischen Leichtathletik angesichts der völlig unzureichenderen Wettkampfstrukturen so gut wie kein Kalenderproblem besteht. „Wir sind am Anfang“ behauptete Asiens Präsident ohne zu bedenken, dass die selbe Aussage in den letzten 20 Jahren von jedem seiner Vorgänger in gleicher Weise vorgetragen wurde, ohne dass sich in Asiens Leichtathletik außerhalb von China und Japan auch nur das geringste geändert hat.
Dass dem afrikanischen Präsidenten aufgetragen wurde über die problematischen Verfahren beim Nationalitätenwechsel von Athleten zu referieren war nicht weniger symptomatisch, obgleich das Problem bereits wenige Tage danach bei den Wettkämpfen mehr als offensichtlich wurde. Einmal mehr blieb es bei selbstgerechten Ankündigungen. Von Kongress zu Kongress wird dieses Thema mit dem Hinweis auf eine unmittelbar bevorstehende Reform verschoben, ohne dass man einen glaubwürdigen Willen zur Lösung des Problems erkennen könnte.
Amerikas Präsident blieb das Problem der „gender balance“ und „gender equity“ vorbehalten. Er übertraf sich dabei mit einem auch sonst üblichen Selbstlob. Auch dabei wurde erneut das Genderproblem auf die Gleichheit der Wettkampfdisziplinen verengt und wenn von Gleichheit in der Leichtathletik die Rede ist, so meint man damit lediglich gleiche Prämien für gleiche Wettbewerbe.
Der südamerikanische Präsident berief sich bei seinem Kurzvortrag auf die große griechische Tradition, in der der Integrität der Athleten und der Offiziellen höchste Priorität zugewiesen war. „Transparency“ und „code of contact“ waren dabei seine Stichworte, um die Notwendigkeit einer „good governance“ einer Leichtathletik zu erläutern. Jeder kritische Zuhörer musste sich dabei die Frage stellen, in wie weit in den jeweiligen Kontinentalverbänden eben diese Prinzipien auch nur ansatzweise umgesetzt sind. Beispielhaft zeigt sich dieser Widerspruch in Asien, wo es möglich ist, dass der indische Vorsitzende der asiatischen Ethikkommission wegen Korruption in Zusammenhang mit den Commonwealth Spielen, die in Indien ausgetragen wurden, zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Diese Strafe stellte ganz offensichtlich seine Eignung als Vorsitzender einer Ethikkommission nicht in Frage.
Dem Repräsentanten des kleinsten Kontinents, Ozeaniens, war es vorbehalten über „global balance“ im Council und über „equital geografical representation“ in der Leichtathletik zu sprechen. Allein diese Forderung nach dieser Art von Gleichheit angesichts der tatsächlichen Verhältnisse der Leichtathletik im Inselkontinent Ozeanien macht allerdings deutlich, wie utopisch und wenig durchdacht solche Forderungen nach geografischer und repräsentativer Gleichheit bei Wettkämpfen in der Leichtathletik sind.
Suchte man während der Tage von London innerhalb der IAAF-Strukturen nach Innovationen, so waren diese nahezu vergeblich. Gefallen konnten lediglich einige Vorschläge von Experten anderer Verbände und Organisationen, die als Gäste eingeladen waren. Rugby erwies sich dabei als ein besonders geeignetes Lernfeld, wenn es darum geht seine Sportart für neue Zielgruppen attraktiver zu gestalten. Auch die Vorschläge von erfahrenen TV-Moderatoren und Fernsehproduzenten konnten als wichtige Hinweise für eine dringend anstehende Modernisierung der Kommunikationsformen über die Leichtathletik sein. Waren sie durchdacht, so zielten sie auf eine spezifische Authentizität der Leichtathletik und warnten gleichzeitig vor vorschnellen Unterhaltungseffekten und wenig sinnvollen Vergleichen, die allenfalls zu einem Spektakel führen. In jedem Beitrag der Experten blieb die Notwendigkeit einer intelligenten Modernisierung der Leichtathletik jedoch unbestritten. Das hierzu die von der IAAF aus Anlass der WM 2017 selbstveranlasste Innovation ganz gewiss nicht gehört war offensichtlich.
Die Anzahl der WM-Wettbewerbe von 47 auf 48 zu erhöhen und dabei der WM-Wettkampfstruktur den 50km Gehwettbewerb für Frauen hinzuzufügen, kann angesichts der internationalen Kritik an den Geherwettbewerben allenfalls als grotesk bezeichnet werden. Dabei muss hinzugefügt werden, dass diese angebliche Innovation gleichsam über Nacht eingeführt wurde. Sie wurde weder in der für solche Veränderungsprozesse verantwortlichen Kommission für Gehen erörtert, noch war sie Inhalt einer Debatte in der Wettkampfkommission der IAAF. Vielmehr hatten sich amerikanische Feministinnen aus der Leichtathletikszene der USA mit einem Brief an die IAAF gewandt und die Gleichbehandlung von Männern und Frauen verlangt und dabei die Einführung des 50km Wettbewerbs für Frauen gefordert. Eine Umfrage unter den Council-Kollegen hat eine Mehrheit für diese Anfrage ergeben und so wurde von heute auf morgen, das heißt 14 Tage vor der WM, dieser Wettbewerb neu eingeführt, ohne dass er entsprechend vorbereitet war. Weder Sponsor Seiko, der für die Zeitnahme verantwortlich ist war technologisch auf dieses Ereignis vorbereitet, noch die Fernsehsender, die plötzlich über einen neuen Goldmedaillenwettbewerb zu berichten hatten. Bei der WM wenige Tage später stellt sich dann heraus, dass lediglich vier Nationen an diesem Wettbewerb teilgenommen haben, sechs Geherinnen erreichten dabei das Ziel und die Siegerin wurde mit dem üblichen Preisgeld von 60.000 US-Dollar ausgestattet und da sie einen Weltrekord bei diesem ersten Wettbewerb erreichte, erhielt sie noch die Weltrekordprämie von 100.000 US-Dollar. Einen größeren Verstoß gegen die angeblich so wichtigen Prinzipien „good governance“, „integretiy“, „equity“ und „transparency“ und vor allem gegen das Fair Play-Prinzip kann es wohl kaum geben.
Von einer Reform des Wettkampfprogramms der IAAF konnte bei diesem Kongress deshalb nicht die Rede sein. Ein Blick in die Zukunft der IAAF muss angesichts der Tage von London deshalb vor allem von Skepsis geprägt sein. Diese ist nicht zuletzt auch ökonomisch begründet. Mit den Entscheidungen, die nächsten Weltmeisterschaften in Doha und Eugene auszurichten, hat sich die IAAF entschieden, ihr größtes Sportereignis in Märkte zu vergeben, die in vieler Hinsicht unattraktiv sind und in denen ein vergleichbares Gelingen einer Leichtathletik-WM wie es in London der Fall war höchst unwahrscheinlich ist. Es kann deshalb auch nicht überraschen, dass die IAAF in eine erneute Kooperation mit der EBU eingetreten ist, nach dem sich zuvor sehr schnell erwiesen hat, dass die Erwartungen der neuen IAAF-Führung, die sie in einer Ausschreibung der TV- und Internetrechte zum Ausdruck gebracht hatten, sehr schnell unrealistisch gewesen sind. Die IAAF musste finanzielle Einbußen im Vergleich zur abgelaufenen EBU-Kooperation in Kauf nehmen. Besonders problematisch ist auch der Abschluss eines neuen Vertrages mit der TV-Produktionsfirma ITM. Damit wird wohl die Produktion zukünftiger Leichtathletik-Veranstaltungen auch unter qualitativen Gesichtspunkten gesichert, doch die Kosten hat zunächst die IAAF zu tragen, die nun jedoch beabsichtigt, diese Kosten in voller Höhe an die Organisationskomitees zukünftiger Leichtathletik-Ereignisse zu übertragen. Ob sich unter diesen Bedingungen geeignete Städte finden lassen, die für die gesamte Fernsehproduktion finanziell aufzukommen haben, kann durchaus bezweifelt werden. Diese Zweifel werden vor allem europäische Städte betreffen. Haben die Gastgeber zukünftiger Leichtathletik-Großveranstaltungen nur Pflichten und gibt es so gut wie keine Möglichkeit zur Refinanzierung der hohen Kosten, so ist es äußerst unwahrscheinlich, dass in westlichen Demokratien, in denen lokale, regionale oder nationale Parlamente über solche Ereignisse zu entscheiden haben, die notwendigen Mehrheiten zu finden sind. Sind zukünftig hingegen nur solche Staaten Gastgeber der Leichtathletik-Großereignisse, deren politische Strukturen autoritär sind, so ist davon auszugehen, dass es zu einer Verödung der Leichtathletikkultur kommt. Ein Leichtathletikpublikum wie in London kann in der Welt nur in wenigen Städten angetroffen werden. Mit ihnen in eine direkte Kommunikation einzutreten wäre die eigentliche Herausforderung für die zukünftige Entwicklung der Weltleichtathletik.
Die WM in London war dank der einmaligen Sportkultur und dank des großartigen Londoner Publikums ein ganz besonderer Erfolg. Es waren ohne Zweifel die schönsten Weltmeisterschaften im schönsten Leichtathletikstadion der Welt. Dieser Erfolg gibt der neuen Führung der IAAF die Möglichkeit zum Durchatmen. Doch die Schatten der WM konnten auch durch das helle Licht von London nicht verdeckt werden. Ein zehntägiges Leichtathletikprogramm wird an keinem anderen Ort der Welt gelingen. Selbst in London waren viele „Sessionen“ von viel zu wenigen Entscheidungen geprägt. Zu lange Pausen hatten Langeweile zur Folge und nur wenige Wettbewerbe waren spektakulär genug. Die Verweilzeit der Zuschauer war nach wie vor viel zu lang. Deren unzureichende Fokussierung auf die einzelnen Finalentscheidungen war einmal mehr offensichtlich. Eine bessere Kommunikation der Veranstalter mit den Zuschauern ist dringend erforderlich. An Ideen zur Reform mangelt es nicht, sie liegen bei der IAAF längst auf dem Tisch. Es bleibt deshalb zur zu hoffen, dass die aktuelle Führung der IAAF mehr Mut zu Entscheidungen und eine größere Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung findet.
Verfasst: 16.08.2017