Tokio 2020 – die „Spiele der Athletinnen und Athleten“

Mir war es vergönnt, dass ich sieben Olympische Spiele in sieben verschiedenen Ländern dieser Welt direkt vor Ort erleben durfte. Ob es die Olympischen Spiele in Atlanta, in Sydney, in Athen, in Peking, in London oder in Rio de Janeiro waren, jedes dieser olympischen Ereignisse war für mich ein besonderes Erlebnis. Jedes Athletendorf zeichnete sich durch landestypische Merkmale aus, die Sportstätten waren fast immer bewundernswert, in jeder der Olympiastädte ist mir eine andere Kultur begegnet, die Gastgeber mit ihren Tausenden von „Volunteers“ waren immer überaus freundlich und ich war gleichzeitig über einen Zeitraum von drei Wochen in einem ständigen Austausch mit Menschen aus aller Welt. Ich durfte im wahrsten Sinne des Wortes drei Wochen „Frieden auf Zeit erleben“.

Die Olympischen Spiele 2020 in Tokio habe ich nun in einer ganz anderen Weise erlebt. Es waren die ersten Spiele seit 1992, bei denen ich nicht selbst vor Ort anwesend war und doch fühlte ich mich jeden Tag mit den Athletinnen und den Athleten aus aller Welt verbunden. Es war für mich ein Privileg, die Spiele gleich auf drei verschiedenen Fernsehkanälen (auf Eurosport, beim ORF, und bei ARD/ZDF) gleichzeitig verfolgen zu können, und darüber hinaus gab es zu jedem stattfindenden sportlichen Wettkampf ein Streaming, das es mir möglich machte, nahezu jeden für mich interessanten Wettkampf – ob zeitversetzt oder live – mit zu verfolgen.  Bei den sieben Olympischen Spielen zuvor musste ich immer jeden Tag von neuem früh morgens eine Entscheidung treffen, zu welchen Wettkämpfen und Entscheidungen ich fahren möchte und welche Kombination von Wettkampfbesuchen an einem Tag überhaupt möglich ist. Trotz des besonderen Privilegs, dass ich bei all diesen Spielen auf ein Fahrzeug mit Fahrer aus dem sog. Carpool zurückgreifen konnte, war es nur möglich, maximal drei Sportwettkämpfe an verschiedenen Orten aufzusuchen. Die Entfernungen zwischen den Sportstätten ließen mehr Besuche pro Tag nicht zu. So war ich nun bei den Spielen von Tokio in der „privilegierten“ Situation, dass ich weder zu den einzelnen Wettkämpfen anreisen musste, noch dass einmal getroffene Entscheidungen nicht mehr rückgängig gemacht werden konnten. Der schnelle Wechsel von Sportstätte zu Sportstätte, von Wettkampf zu Wettkampf war ebenso möglich wie auch das nachträgliche Betrachten jener Wettkämpfe, die ich durch meine getroffenen Entscheidungen zunächst einmal versäumt hatte. Meine Erlebnisse als Zuschauer waren deshalb bei den Spielen von Tokio mindestens so faszinierend wie bei den Olympischen Spielen, die ich vor Ort besuchen durfte. Ich konnte mich als Zuschauer in die Wettkämpfe der Olympischen Traditionssportarten wie Leichtathletik, Schwimmen oder Turnen ebenso vertiefen wie in die neu gewonnene Wettkampfvielfalt, die durch die vielen neuen olympischen Sportarten (u.a., BMX, Surfen, Skaten, Klettern) entstanden ist. Auf diese Weise konnte ich herausragende sportliche Höchstleistungen bewundern und es wurde mir auch viel neues Wissen über „junge“ Sportarten übermittelt, von denen ich zuvor kaum eine Ahnung hatte. Das Mountainbike-Finale war von einer Dramatik wie ich es mir hätte nicht vorstellen können, die Finals zu den Schießwettbewerben, bei denen über ein äußerst spannendes K.o.- System der Sieger oder die Siegerin ermittelt wird, die faszinierenden Ballwechsel von Ovtcharov  mit seinen asiatischen Gegnern,  die ihn am Ende zur Bronze- Medaille führte, der Überraschungssieg der österreichischen Ärztin Anna Kiesenhofer im Straßenrennen der Radfahrerinnen, Alexander Zverev´s bewegender Sieg über Djokovic und sein großartiger Goldmedaillenerfolg, der Sieg von Xander Schauffele am allerletzten Loch beim Olympischen Golf-Finale; die Reihe der beispiellosen Leistungen und besonderen Ereignisse könnte  fortgesetzt werden.
Das alles konnte ich zu Hause im eigenen Wohnzimmer aus einem bequemen Sessel heraus erleben, ohne dass ich von irgendjemand abgelenkt wurde. Im Vergleich zu meinen früheren Besuchen bei Olympischen Spielen hatte ich im wahrsten Sinne des Wortes einen „Platz in der ersten Reihe“ und konnte dank hervorragender Kameraleute und Regisseure und deren Filmkunst die Wettkämpfe aus Perspektiven erleben, wie ich sie zuvor noch nie gesehen hatte. Aufnahmen aus der Nahperspektive, Zeitlupen, begleitende Grafiken, die Aufschluss über die Technik der Athletinnen und Athleten gaben, Luftaufnahmen und interessante statistische Informationen wurden mir „frei Haus“ geliefert, die mir zuvor bei meinen Besuchen von Olympischen Spielen aus naheliegenden Gründen nicht zugänglich waren. Wenn es im Vergleich zu meinem Besuch früherer Olympischer Spiele diesbezüglich einen erwähnenswerten Nachteil gab, so müsste vielleicht erwähnt werden, dass für mich die drei Wochen der Spiele von Tokio die Gefahr mit sich brachte, dass mein Körpergewicht unzulässig erhöht wird, während ich bei den Spielen zuvor angesichts der oft tropischen Temperaturen, die bei den meisten Spielen herrschten, bei meiner Heimreise einen Gewichtsverlust zu verzeichnen hatte.

Gewiss waren die Spiele von Tokio 2020 besondere Spiele. Für viele werden sie als die „Corona-Spiele“ in die Geschichtsschreibung eingehen. Die Coronapandemie hat nicht nur eine Verschiebung der Spiele um ein Jahr bewirkt, sie hat auch die Spiele während ihrer verspäteten Durchführung in Tokio im Jahr 2021 täglich belastet. Sie war für den Gastgeber eine kaum zu lösende Herausforderung, nachdem dieser es über ein Jahr nicht geschafft hatte, eine ausreichend hohe Impfquote in der eigenen Bevölkerung zu erreichen, um wenigstens für japanische Zuschauer den Besuch von Wettkämpfen möglich zu machen. Die Olympischen Spiele 2020 waren für das IOC das wohl schwierigste Unterfangen in dessen Geschichte: Es ging dabei in erster Linie darum, für Athletinnen und Athleten sichere Olympische Spiele zu gewährleisten ohne dass dabei der Charakter der Olympischen Spiele aus dem Blick geriet. Vor allem waren diese Spiele jedoch für die Athletinnen und Athleten die wohl eigentümlichsten Spiele, weil vieles von dem, was Olympische Spiele in der Vergangenheit ausgezeichnet hat, durch die Corona-Pandemie nicht möglich gewesen ist. Allein die Vorbereitung auf die Spiele, das zielgerichtete Training und das Bestehen von oft sehr unklaren Qualifikationsprozesse war sehr viel schwieriger als dies jemals zuvor der Fall war.  Das Training der Athletinnen und Athleten auf die bevorstehenden Olympischen Spiele war ständig vom Zweifel begleitet, ob die Olympischen Spiele überhaupt durchgeführt werden können, ob es überhaupt zu rechtfertigen ist, dass sie angesichts einer Pandemie auch stattfinden dürfen. Und saubere Athletinnen und Athleten waren zurecht besorgt, dass in der sehr unübersichtlichen Vorbereitung auf die Spiele den Dopingbetrügern in ihren Wettkampfdisziplinen Tür und Tor geöffnet war. In vielen Ländern fanden wegen der Pandemie keine Dopingkontrollen statt und so musste man leider davon ausgehen, dass vor den Spielen in Tokio die Qualität und Quantität der Dopingkontrollen völlig unzureichend gewesen ist. Auch in Tokio selbst mussten die Athletinnen und Athleten auf vieles verzichten. Der Aufenthalt im Athletendorf wurde zeitlich radikal begrenzt. Die Begegnungen mit anderen Nationen und deren Athletinnen und Athleten wurden auf ein Minimum reduziert. Die Hygienevorschriften beim Wohnen, beim Essen und beim Training waren strikt einzuhalten und hatten ein hohes Maß an Isolation zur Folge. Besonders belastend waren die Bedingungen für jene Athleten, die bei den täglichen Corona-Kontrollen positiv getestet wurden und damit sich umgehend in Quarantäne zu begeben hatten. Hierbei waren die Athletinnen und Athleten mit einem außergewöhnlichen Sicherheitsbewusstsein des Gastgebers konfrontiert wie es wohl für Japan typisch ist, jedoch für die ausländischen Athleten eher als große Belastung wahrgenommen wurde. Als der wohl größte Verlust dieser Spiele muss aus meiner Sicht der Sachverhalt benannt werden, dass die Athletinnen und Athleten von Land und Leuten so gut wie nichts während ihres Aufenthalts in Japan kennen lernen konnten. Bot die Eröffnungsfeier noch einen kleinen Hauch von der großen kulturellen Tradition Japans und waren die Bilder bei den Radrennen rund um den Fujiyama, dem besonders mystischem  Gebirgsmonument dieses Landes, sehr eindrucksvoll, so hat Corona letztlich doch den mehr als 12.000 Athletinnen und Athleten, den Kampfrichtern, Journalisten und Funktionären aus aller Welt einen Einblick in die einmalige Kultur Japans, in dessen Religionen, in dessen Künste und Musik und vor allem auch in Japans einmalige Körperkultur und Essensgewohnheiten nahezu unmöglich gemacht. Diesbezüglich könnte die Liste all dessen, was durch Corona für die Athletinnen und Athleten unmöglich gemacht wurde, noch lange fortgesetzt werden.

Für mich selbst waren diese Spiele dennoch keine „Corona-Spiele“ auch wenn das Virus während der gesamten Zeit der Spiele ständig präsent war. Schon gar nicht waren diese Spiele „Geisterspiele“. Für mich waren die Spiele von Tokio deshalb ganz besondere Spiele, weil die Athletinnen und Athleten wie nie zuvor im Zentrum der Spiele gestanden haben und weil sich nahezu alle organisatorischen Bemühungen um das Gelingen guter Wettkämpfe gedreht haben. Bei jenen Spielen, bei denen ich anwesend sein durfte, waren die Wettkämpfe selbst ganz gewiss ebenfalls bedeutsam. Doch neben den Wettkämpfen gab es noch viele Ereignisse, die von jenen die dabei sein konnten oder mussten, ebenfalls als sehr bedeutsam empfunden wurden, die jedoch auch dazu beitrugen, dass man immer wieder vom eigenen Wettkampfgeschehen abgelenkt wurde. Nahezu jeden Tag gab es einen oder mehrere Empfänge. Hospitality- Einrichtungen waren an jeder Sportstätte zu finden. Der sog. „Olympic Family“ wurde ein umfangreiches Besuchsprogramm angeboten. Olympisches Marketing war für jeden Mann und für jede Frau täglich sichtbar. Die Sponsoren hatten ihr eigenes „Olympic Village“, um ihre Produkte anzupreisen und ihre Gäste zu empfangen. Neben den vielen „Olympic Family Lounges“ hatten mehrere Internationale Sportverbände ihre eigenen Lounges. Die teilnehmenden Nationen trafen sich Abend für Abend in ihrem „Deutschen Haus“, im„Casa Italia“, dem italienischen Haus, im „Schweizer Haus“ und im australischen Haus etc. Im Umfeld der Olympischen Sportstätten gab es ganze Fun-Parks und Spielstraßen und das Merchandising konnte immer höchste Aufmerksamkeit erzielen.
Olympische Spiele wurden immer auch von einer großen Anzahl von im Grund unberechtigten Nutznießern und Trittbrettfahrern begleitet, die für mich immer auch die Frage aufgeworfen haben, wie bei allen von mir besuchten Spielen so viele Menschen zu ihren Akkreditierungen gekommen waren, obwohl sie eigentlich keine Aufgabe im Zusammenhang mit den Spielen aufzuweisen hatten.

Viele dieser Beobachtungen über die früheren Spiele sind bei den Spielen in Tokio 2020 notwendigerweise und aus guten Gründen nicht möglich gewesen. Selbst die Mitglieder des IOC mussten auf begleitende Personen verzichten. Beispielhaft sei auf die Frau des IOC-Präsidenten hingewiesen, die zu Hause in Deutschland zum ersten Mal die Spiele im Fernsehen zu verfolgen hatte, weil sich das IOC gemeinsam mit dem japanischen Organisationskomitee im Vorfeld der Spiele geeinigt hatte, dass die Anzahl der ausländischen Gäste auf das geringstmögliche Maß reduziert wird und nur jene bei den Spielen anwesend sein dürfen, die eine wichtige Aufgabe bei den Spielen auszuführen haben.
Bei diesen Spielen waren fast sämtliche Bemühungen des IOC und des japanischen Organisationskomitees auf die Athletinnen und Athleten ausgerichtet, auf deren gesunde Anreise, auf deren sichere Ankunft in Japan, auf deren Vorbereitung auf die Wettkämpfe und auf deren Wettkämpfe selbst. Die Wettkampfstätten waren dabei außergewöhnlich gut. Sie haben während der Wettkämpfe den Beweis erbracht, dass in diesen Wettkampfanlagen Olympische Wettkämpfe auf höchstem Niveau durchgeführt werden können und dass diese Anlagen dennoch sich als nachhaltig erweisen werden. Auch das Athletendorf war bestens auf die Belange der Athletinnen und Athleten ausgerichtet. Athleten aus aller Welt haben darüber berichtet wie vielfältig das Essensangebot in der Mensa gewesen ist und wie bemüht die japanischen Gastgeber waren, allen Athletinnen und Athleten ihre Wünsche zu erfüllen. Die japanischen Helferinnen und Helfer wurden zurecht von den Athletinnen und Athleten geradezu überschwänglich wegen ihrer außergewöhnlichen Gastfreundschaft gelobt, auch dann, wenn ihre Sprachkenntnisse vielleicht in der einen oder anderen Situation nicht ausreichend waren. Die internationalen Fachverbände haben dafür gesorgt, dass bei den Spielen in Tokio unter der Aufsicht von bestens ausgebildeten Kampfrichterinnen und Kampfrichtern faire Wettkämpfe stattfinden.
Viele Kommentatoren haben die Meinung vertreten, dass Spiele ohne Zuschauer keinen Sinn machen und dass sie allein aus diesem Grund hätten verschoben oder abgesagt werden müssen. Die Athletinnen und Athleten haben vor, während und nach ihren Wettkämpfen in Tokio eindrucksvoll gezeigt, dass dieses Argument keine Gültigkeit haben kann. Genau das Gegenteil war in Tokio der Fall. Nie zuvor und vermutlich auch nie wieder danach wurde uns der Kern der Ideen von Coubertin über seinen modernen Olympismus vor Augen geführt. Seine Idee von den Olympischen Spielen war keineswegs auf Zuschauer ausgerichtet, auch dann, wenn wir es selbst später erleben konnten, dass Zuschauer bei den Olympischen Spielen durchaus eine Bereicherung sein können. Doch die Idee des olympischen Wettkampfsports ist nicht auf die Anwesenheit von Zuschauern angewiesen. Wer als Kind und Jugendlicher sich mit anderen in sportlichen Wettkämpfen gemessen hat, der weiß, was Wettkämpfen im Sport bedeutet. Wer während seiner Schulzeit sich bei selbst organisierten Fußball- oder Handballspielen mit seiner Schulmannschaft mit den Schulmannschaften anderer Schulen gemessen hat, wer auf der Straße bei Wettläufen um die beste Zeit und um den Sieg gekämpft hat, wer sich bei „Kopfballturnieren“ unter den Teppichstangen vor den Häusern der Nachbarn beteiligte, der weiß was sportliche Wettkämpfe für Menschen bedeuten können, welche pädagogische Bedeutung solche Wettkämpfe haben können, und dass bei diesen Wettkämpfen keineswegs Zuschauer anwesend sein müssen. Die Ideen, die solche Wettkämpfe prägen, waren Ausgangspunkt für Coubertin´s Modernen Olympismus. In Tokio haben deshalb keineswegs Geisterspiele stattgefunden. „Wettkampfsport pur“ war vielmehr die Botschaft, die bei diesen Spielen von den Athletinnen und Athleten anschaulich dargestellt wurde. Die olympischen Werte, allen voran das Fairplay-Ideal, der Gedanke vom friedlichen Wettkampf, und die Werte „Freundschaft“, „Respekt“ und „Leistung“ wurden bei den Spielen in Tokio in einer Weise anschaulich gemacht, wie dies zuvor nur ganz selten der Fall war. Mittels fantastischer optischer Linsen und modernster Kameratechnik konnten diese Darstellungen von den außergewöhnlichsten olympischen Höchstleistungen durch stehende und bewegte Bilder in der ganzen Welt wahrgenommen werden. Die Kombination seiner Olympischen Ideen mit dem technischen Fortschritt der Moderne hätte vermutlich Coubertin sehr gefallen.

Auch hier könnte von mir die Liste der Argumente noch lange fortgeführt werden, mit denen begründet werden kann, warum die Spiele von Tokio die „Spiele der Athletinnen und Athleten“ waren, wie sie zuvor und vermutlich auch danach kaum wieder stattfinden werden.

Gewiss war bei diesen Spielen auch mancher Makel zu beklagen. Die unerträgliche Diskriminierung eines jüdischen Athleten sollte das IOC veranlassen, wirkungsvolle Sanktionen festzulegen, damit solche Verstöße bei den Spielen in Paris 2024 und in Los Angeles 2028 möglichst von vornherein ausgeschlossen werden können, wenngleich es in der Natur von Regeln liegt, dass gegen sie auch verstoßen werden kann. Auch die rassistischen An feuerungsrufe eines deutschen Betreuers sind ganz gewiss mehr als ein bloßer „Faux pas“. Die Behandlung dieses Falles durch den Delegationsleiter der deutschen Mannschaft lässt einen Mangel an Führungskompetenz erkennen, der unverzeihlich ist und der für zukünftige Mannschaftsführungen nahelegen muss, Bildungs-Erziehungs-und Aufklärungsarbeit gegenüber einer Olympiamannschaft vor den Spielen ernster zu nehmen als dies in der Vergangenheit ganz offensichtlich der Fall war. Es muss auch im Vorfeld von Olympischen Spielen geklärt werden, welche Maßnahmen und Sanktionen bei entsprechenden Verfehlungen sofort und unverzichtbar zu treffen sind.
Für mich ist es auch ein Makel der Spiele von Tokio, wenn in der deutschen massenmedialen Rezeption der olympische Medaillenerfolg gegen das Fair-Play Ideal ausgespielt wird und bei den Zuschauern der Eindruck erweckt wird, dass der Gewinn von Medaillen nicht wichtig sei, obgleich der Staat mit hohen finanziellen Mitteln die Olympischen Fachverbände in ihrer Vorbereitung auf die Olympischen Spiele unterstützt. Meines Erachtens wären dabei eher nüchterne Analysen notwendig, um über Maßnahmen zu entscheiden, die den deutschen Hochleistungssportlerinnen und Hochleistungssportlern den Anschluss zur Olympischen Weltspitze wieder ermöglicht. Einige Kennzahlen zu den vergangenen Olympischen Sommerspielen sollte man sich dabei durchaus in Erinnerung rufen: Barcelona 82 Medaillen (20 Gold, 21Silber, 28Bronze), Atlanta 65 (20, 18, 27), Sydney 56 (13, 17,26), Athen 49 (13, 16, 20), Peking 41 (16, 11, 14), London 44 (11, 20, 15), Rio 42 (17, 10, 15) und Tokyo 37 (10, 11, 16. Man braucht gewiss kein Medaillenfetischist zu sein, um die Entwicklung zu erkennen, die sich im deutschen Hochleistungssport seit der Wiedervereinigung abgezeichnet hat. Besonders problematisch sind dabei die Verluste, die Deutschland in den Ranglisten aufzuweisen haben, bei denen die acht ersten Plätze bewertet werden. Die Leichtathletik konnte zum Beispiel 2012 noch bei den Spielen in London 103 Nationenpunkte aufweisen, 2016 in Rio de Janeiro wurden bereits nur noch 73 Punkte erreicht und in Tokio ist der niedrigste Stand von 45 Nationenpunkten zu beklagen Der Trend ist eindeutig und andere Nationen haben gezeigt, dass man einen derartigen Trend aufhalten und umkehren kann.

Als ein erneutes Ärgernis habe ich empfunden, dass einmal mehr deutsche Athletinnen und Athleten während der Spiele in Tokio wider besseres Wissen finanzielle Forderungen an das IOC gerichtet haben und sie sich dabei des Applaus` der Medien, insbesondere von ARD und ZDF, sicher sein konnten. Deren Berichte über die sog. „IOC Bonzen“ und dessen geldgierigen Präsidenten entbehrte einmal mehr jeder Sachlichkeit und die Prinzipien einer guten Recherche wurden dabei mit Füßen getreten. Unhinterfragt wird die Behauptung wiedergegeben, dass das IOC die angeblichen Einnahmen von 4 Milliarden US $ für sich behält und dabei die Athletinnen und Athleten außen vor bleiben. Max Hartung, Präsident von „Athleten Deutschland“ wiederholt dabei seine Kritik am IOC einmal mehr, ohne dass auch nur ein einziges neues Argument genannt wurde. Hier kann man nur darauf hinweisen, dass falsche Informationen auch dadurch nicht wahr werden, dass man sie mehrfach wiederholt. Hätte das ZDF in seinem Bericht über das angeblich so geldgierige IOC die öffentlich ausgewiesenen Ein – und Ausgaben des IOC überprüft, hätte es einen IOC-Vertreter als Interviewpartner eingeladen und hätte es den Chef de Mission der deutschen Olympiamannschaft in dieser Angelegenheit befragt, so hätte es u.a. erfahren können, dass 90% der Einnahmen des IOC in direkter oder indirekter Weise den Athletinnen und Athleten zu Gute kommen, dass der DOSB nur dank der Unterstützung des IOC und der Bundesregierung eine deutsche Olympiamannschaft nach Tokio entsenden konnte, dass fast sämtliche internationalen olympischen Fachverbände ohne die finanzielle Unterstützung des IOC ihre Wettkampfstrukturen nicht finanzieren könnten, dass es kein Flüchtlingsteam bei Olympischen Spielen geben würde und dass mit dem  „Olympic-Solidarity-Programm“ vor allem die Athletinnen und Athleten aus den Entwicklungsländern finanzielle Unterstützung durch das IOC erhalten.
Max Hartung müsste sich selbst  die Frage stellen, wer seine Reise nach Tokio finanziert hat, wer seinen Aufenthalt in Tokio bezahlt hat, wer die Trainingslager und die vielfältigen Unterstützungsmaßnahmen im Training und bei den Wettkämpfen vor den Olympischen Spielen ermöglicht hat, wer das Personal bezahlt, das die Laufbahn von Athletinnen und Athleten  medizinisch, trainingswissenschaftlich und biomechanisch begleitet hat und wer die  notwendigen Mittel für ein Anti-Dopingsystem zum Schutz der sauberen Athleten und Athletinnen aufwendet. Würde er sich diese Fragen stellen, so müsste er wohl sehr schnell erkennen, dass ohne die Einnahmen des IOC das internationale Hochleistungssportsystem, so wie es heute existiert, nicht möglich wäre. Dabei werden mit diesen Einnahmen selbst die vielen Arbeitsplätze der Journalistinnen und Journalisten in Olympischen Sportstätten und in den olympischen Medienzentren finanziert, die die vielen ausländischen Fernsehanstalten und Presseorgane vermutlich kaum selbst finanzieren möchten. Wenngleich einschränkend hierzu erwähnt werden muss, dass die sog. „Rights-Holding-Broadcaster“ durch den Erwerb ihrer Rechte die Kosten indirekt dafür bezahlt haben. All dies hätte man auf der Grundlage einer fundierten Recherche in eine sehr viel differenziertere Berichterstattung über das IOC einbringen können als dies während der Spiele in Tokio der Fall war.

Je länger die Spiele andauern, desto verständlicher wurden für mich die Klagen einiger Freunde und Bekannten, die eine Übersättigung des olympischen Programms beklagt haben. Mir wurde bewusst, dass selbst für den Zuschauer zu Hause vor dem Fernseher zu viele Sportwettkämpfe gleichzeitig stattfinden und viele Zuschauer sich dadurch überfordert sehen. Bei den Spielen von Tokio wurden meines Erachtens zu viele Wettkämpfe in zu vielen Sportarten ausgetragen, und die beabsichtigte Programmreform des IOC hat meines Erachtens nach wie vor noch nicht stattgefunden. Die Spiele sind zu groß: An den inzwischen 33 Sportarten nehmen mehr als 12000 Athletinnen und Athleten teil. Eine Folge davon, dass mehr Sportarten neu aufgenommen als aus dem Programm genommen wurden. Die Anzahl der Sportarten (33) bedarf deshalb dringend einer Reduktion. Vor allem muss aber auch das Wettkampfprogramm der einzelnen Sportarten verkürzt werden. In Tokio gab es in 50 Disziplinen 339 Wettkämpfe, wobei die Gefahr besteht, dass je mehr Wettkämpfe stattfinden, desto mehr der Wert des einzelnen olympischen Erfolgs noch mehr gemindert wird, als dies bereits heute der Fall ist. Dies gilt vor allem für die Traditionssportarten Schwimmen, Turnen und Leichtathletik. Einige Sportarten müssten in ihrer Gesamtheit aus dem olympischen Programm ausgeschlossen werden, weil sie nur unzureichend universell ausgeübt werden und teilweise auch nicht mehr zeitgemäß sind. Auf der Grundlage der Erfahrungen von Tokio kann man dem IOC nur empfehlen, seine Agenda 2020 noch einmal auf den Prüfstand zu stellen und sie mit neuen Reformvorhaben fortzuschreiben. Dabei sollte auch die Frage gestellt werden, ob Olympische Jugendspiele sinnvoll sind, wenn bei den Spielen, die eigentlich für die Erwachsenen vorgesehen waren, immer mehr Kinder und Jugendliche teilnehmen und in einigen Sportarten die am ehesten noch zu akzeptierende Altersgrenze von 16 Jahren während der Spiele in Tokio dramatisch unterschritten wurde. Einmal mehr hatte man bei einigen Wettkämpfen, wie zum Beispiel bei der Rhythmischen Sportgymnastik, bei den Skateboard –  Wettbewerben und teilweise auch beim Turmspringen, den Eindruck, dass Kinderschutzgesetze, wie sie von einer demokratischen Rechtstaatlichkeit vorgeschrieben werden, bei den Olympischen Spielen von manchen Sportfachverbänden und deren Mitgliedern nicht beachtet werden.

Auch die hier versuchte Beschreibung der Mängel der Spiele von Tokio ist gewiss nur sehr skizzenhaft. Mein Gesamturteil über die Spiele von Tokio 2021 kann dadurch aber nicht beeinträchtigt werden. Für mich waren die Olympischen Sommerspiele 2020 in Tokio die „Spiele der Athletinnen und Athleten“ und mir selbst haben diese Athletinnen und Athleten ein besonderes Sommererlebnis ermöglicht, dass ich zu Hause bei der Betrachtung von faszinierenden Wettkämpfen in fast allen olympischen Sportarten im Fernsehen oder beim Streaming haben konnte.

Letzte Bearbeitung: 8. August 2021