Sportler für den Frieden

Der Zusammenhang zwischen Sport und Frieden müsste eigentlich uns allen bekannt sein. Bereits in der Antike konnte der Sport seine friedensstiftende Wirkung zeigen als die im Krieg sich befindlichen Stadtstaaten Athen und Sparta ihre Waffen ruhen ließen, um sich bei den Olympischen Spielen zum friedlichen Wettkampf zu treffen. Coubertin hat die antike Friedensidee mit seinen Reflexionen über den modernen Olympismus mit neuen Dimensionen versehen und die Grundlagen geschaffen, dass bis heute alle vier Jahre Olympische Spiele stattfinden können und während dieser Spiele Athletinnen und Athleten aus aller Welt unabhängig von Rasse, Religion, Herkunft, politischer Überzeugung und Status sich beim friedlichen sportlichen Wettkampf begegnen können. Die Idee des olympischen Friedens war dabei in den vergangenen 100 Jahren mehrfach bedroht. Die jüngste Bedrohung konnte man bei den Winterspielen in Peking 2022 beobachten. Doch ein friedlicher Wettkampf und die friedliche Begegnung der Athletinnen und Athleten im Athletendorf hat auch in Peking stattgefunden und auch diese Spiele konnten sich durch Gesten der Solidarität, durch neu begründete Freundschaften und einem Bemühen um Verständigung auszeichnen. Trotz aller existierenden Gegensätzlichkeiten und Feindschaften.

Mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine, mit dem fürchterlichen Krieg zwischen Russland und der Ukraine, bei dem Russland das Ziel verfolgt, die Ukraine als unabhängigen Staat auszulöschen, womit Russland nicht nur gegen das Völkerrecht verstößt, sondern sich auch an unzähligen Kriegsverbrechen gegenüber der Bevölkerung der Ukraine schuldig macht. Mit diesem Angriffskrieg stellt sich die Friedensfrage in der Welt auf eine ganz neue Weise.

Davon ist auch der Sport betroffen. Täglich stehen sich in diesem Krieg nun bereits seit beinahe einem Jahr auch Sportler¹ als Soldaten ihrer Armee gegenüber. Sportler schießen auf Sportler. Wer sich als Sportler diesem militärischen Auftrag nicht fügt, stellt dabei meist auch seine eigene Karriere als Sportler infrage. Eine fragwürdige Instrumentalisierung von erfolgreichen Olympioniken zu Gunsten der eigenen Kriegsziele ist mittlerweile auf beiden Seiten der Kriegsparteien zu beobachten.

In diesen Tagen habe ich eine Weihnachtsgrußkarte erhalten, bei der ein von mir sehr geschätzter Journalist seinen Weihnachtsgruß mit einem Bild versehen hat, in dem sich ein russischer und ukrainischer Athlet die Hand reichen. Der Gruß wurde mit folgendem Zusatz versehen: „Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin“.

Die Hoffnung, dass russische Athletinnen und Athleten ebenso wie ukrainische Athleten und Athletinnen den Dienst an der Waffe verweigern und sich öffentlich für einen Waffenstillstand einsetzen, also ein Zeichen für den Frieden setzen, scheint in diesen Tagen mehr als utopisch zu sein. Die Frage, wie dieser fürchterliche Krieg beendet werden könnte wird auffallend selten gestellt. Hingegen findet auf beiden Seiten „Säbelrasseln“ statt. Es geht um Aufrüstung, wohl wissend, dass mit jedem neuen Waffensystem noch mehr Menschen in diesem fürchterlichen Krieg ihr Leben verlieren werden. Das Versagen der internationalen Diplomatie ist offensichtlich. An einem schnellen Friedensschluss zwischen den kriegsführenden Parteien scheint niemand interessiert zu sein.

Die Verbände und Organisationen des Sports haben sich in dieser Frage längst den Vorgaben der jeweils dominanten staatlichen Politik unterworfen und wenn sich eine Organisation des Sports, wie z.B. das IOC in der Person von IOC-Präsident Bach auf den Fair Play Gedanken und auf das Prinzip der Solidarität besinnt und sich zum Ziel setzt, dass möglichst schnell sich auch russische Athletinnen und Athleten wieder im friedlichen Wettkampf bei Olympischen Spielen mit den Athletinnen und Athleten aus anderen Ländern, insbesondere auch mit den Athleten aus der Ukraine messen können, so kann er sich einer „Breitseite“ an Angriffen aus dem System der Politik sicher sein. IOC-Präsident Bach musste erst jüngst erleben, wie der Präsident der Ukraine in martialischen Worten glaubt bestimmen zu können, wer bei den nächsten Olympischen Spielen in Paris 2024 teilnehmen darf und wer nicht.

Angesichts der Bevormundung des Sports und seiner Organisationen durch die Politik kann die überwiegend angepasste Haltung der Verantwortlichen im System des Sports, die bereits seit längerer Zeit zu beobachten ist, eigentlich kaum überraschen. Es könnte sich allerdings lohnen, dass man sich daran erinnert, dass vor 40 Jahren in Deutschland noch eine Organisation von Sportlern existierte, die sich „Sportler für den Frieden“ nannte und deren Symbol die weiße Friedenstaube gewesen ist. 1983 ist ein Buch mit dem gleichnamigen Titel erschienen, das von dem ehemaligen Olympiasieger Horst Meyer und dem ehemaligen Leiter der Olympischen Akademie in Berlin Sven Güldenpfennig herausgegeben wurde. In diesem Buch wurde u.a. gefragt, wie „unfriedliche Elemente“ mittels Sport zu überwinden sind. Historisch wurde die Frage aufgeworfen, wie sich Turner und Sportler für Revolution und Bürgerkrieg immer wieder haben instrumentalisieren lassen, wie es zu einer Militarisierung der Turn-, Spiel- und Sportbewegung im wilhelminischen Kaiserreich gekommen ist und welche Rolle der Sport bei den Kriegsvorbereitungen des nationalsozialistischen Deutschlands gespielt hat. Die Initiative „Sportler gegen Atom Raketen – Sportler für den Frieden“ wurde als ein Beispiel für ein allgemeinpolitisches Engagement des Sports und im Sport vorgestellt.
Besonders eindrucksvoll und lesenswert ist dabei das Vorwort dieses Buches. Es wurde von Willi Daume geschrieben und er weist einleitend daraufhin, dass jene, die sich für den Frieden einsetzen, es nicht leicht haben. Doch sie zeigen zumindest Mut. „Und im Herzen des Feigen wohnt keine Tugend“. Daume diskutiert in diesem Vorwort die Frage, ob man sich nicht besser bei den einschlägigen politischen Organisationen artikulieren sollte. Er weist jedoch darauf hin, dass die Sportler zu Recht als Sportler sprechen möchten, weil sie wissen, dass der Sport, vor allem der olympische Sport, nur im Frieden bestehen kann. „Und Frieden ist mehr als die Abwesenheit von SS 20 und Pershing. Jeder weiß, dass wir auch heute keinen Frieden haben. Es ist keine Kunst und kein Verdienst den Krieg zu hassen. Das tun mehr oder weniger alle. Und die „Großen“ dieser Welt tun noch mehr: nämlich immer genau das, was sie beim anderen verurteilen in der verharmlosenden Illusion der Sicherheit durch weiteres Wettrüsten, wodurch schon das jetzige Atompotenzial genügt, einundzwanzigmal alles Leben und alle Zukunft dieser Welt endgültig zu zerstören“.
„Wenn aber die Weltmächte schon bei der Diskussion des Themas Weltfrieden kaum mehr als ihre Ohnmacht formulieren können, was soll unsere Jugend sagen oder gar tun?…
Gott sei Dank weiß diese Jugend mehr zu sagen als die Festredner-Floskel, die Olympischen Spiele seien eine Friedensbewegung in sich. Das stimmt doch gar nicht. Es gibt Entartungen, symbolisch ausgetragener Streit. Es geht im sportlichen Wettkampf wie im Krieg um die Überbietung eines Gegners mit dem Ziel, ihn zu besiegen. Es geht um politischen Missbrauch, um Beweise für die Überlegenheit des eigenen Gesellschaftssystems bzw. der eigenen Ideologie, es geht um Propaganda. Es geht um die Aufrüstung des menschlichen Körpers durch extreme Arten von Training. All das gleicht sehr ernsthaft den militärischen Begriffen von Rüstung und Aufrüstung. Aber man sagt es wenigstens offen. Bezogen auf den Krieg soll Aufrüstung und immer neu herzustellendes Gleichgewicht dem Frieden dienen. Im Sport dürfen die Experten die Güte ihrer Vorbereitung am Erfolg im Wettkampf selbst überprüfen. Die großen Rüstungsnationen können dies allenfalls in den kleinen Nebenkriegen der Welt. Das geschieht auf Kosten kleiner Völker. Auch der Sport braucht Abrüstung. Mit der Bekämpfung des Dopings gibt er ein Beispiel“.
„Dem Sport fehlt aber jede ausreichende politische oder wirtschaftliche und erst recht militärische Macht, um im Sinne einer wie immer gearteten Friedenssicherung zu wirken. Aber dann muss man natürlich auch sofort fragen, welche Voraussetzungen zur Unterbindung wahnwitzigen Wettrüstens denn die Kirchen, die Gewerkschaften, die politischen Parteien, die Regierungen mit Ausnahme derer in Washington und Moskau (hier müsste man vermutlich heute noch Peking hinzufügen H.D.), ja selbst die Vollversammlung der Vereinten Nationen haben. Die leben– oder todbringende Entscheidung haben nicht sie, sondern eng begrenzte Machtzentren, strategische Cliquen, deren Mitglieder sich an ihrem Herrschaftswissen und den darauf basierenden Zielvorstellungen orientieren. Doch auch diejenigen die selbst genauso ohnmächtig sind wie der Sport erheben angesichts der weltweiten Angst um den Frieden ihre Stimme. Weshalb also sollte gerade der Sport schweigen?“

Daume sieht durchaus auch Risiken, wenn sich der Sport für den Frieden auf dieser Welt einsetzt. Um seiner Einheit willen muss der Sport die interne Austragung politischer, rassischer und religiöser Konflikte meiden. Doch wer sich für den Frieden einsetzt, muss begreifen, dass Friedensliebe nicht vor Konfliktgefahren schützt. Deshalb ist es wichtig, dass jene, die sich für den Frieden engagieren, Toleranz und Fair Play als die Eckpfeiler der Olympischen Idee beachten. Ein Friedensdogmatismus hilft dabei nicht weiter, denn er sichert weder den großen Frieden dieser Welt, aber vermutlich gefährdet er umso mehr den „kleinen Frieden des Sports“.
Daume beschließt sein bemerkenswertes Vorwort zu diesem bemerkenswerten Buch aus dem Jahr 1983 mit der folgenden Schlussbemerkung: „Aber es ist auch das Recht der Sportler, für den großen Frieden in der Welt einzutreten zu einer Zeit, in der auf dieser Welt alle zwei Sekunden ein Kind Hungers stirbt“.

2023 – 40 Jahre später – ist in den deutschen Sportorganisationen weit und breit kein zweiter Daume in Sicht und dass sich deutsche Olympioniken und Hochleistungssportler in einer Bewegung zusammenfinden, die den Frieden in dieser von vielen Krisen und militärischen Konflikten geprägten und schwer betroffenen Welt zum Ziel setzt, ist höchst unwahrscheinlich. Noch unwahrscheinlicher ist es, dass die Funktionäre der deutschen Sportorganisationen mit dem DOSB an ihrer Spitze sich aktiv für eine Friedensinitiative bzw. für einen Waffenstillstand in dem fürchterlichen Krieg zwischen Russland und der Ukraine einsetzen. „Fair Play“ und „Solidarität“ sind für viele deutsche Sportfunktionäre lediglich Floskeln bei ihren Sonntagsreden. Eine konkrete Solidarität, so zum Beispiel eine öffentlichkeitswirksame Unterstützung von IOC-Präsident Bach und dessen Reformbemühungen, ein aktives Engagement dafür, dass man unschuldige Athleten nur wegen der barbarischen Politik in ihrem Heimatland von zukünftigen Olympischen Spielen nicht ausschließen darf, ist unter den Verantwortlichen des deutschen Sports nirgendwo in Sicht. Man lässt viel mehr zu, dass im öffentlich-rechtlichen Fernsehen irreführende und falsche Darstellungen über die aktuelle Situation der olympischen Bewegung, über das IOC und dessen Präsidenten nahezu gebetsmühlenhaft in die deutsche Bevölkerung hineingetragen werden und man sich deshalb nicht wundern darf, dass die Möglichkeit zur Durchführung zukünftiger Olympische Spiele in Deutschland in weite Ferne gerückt ist.

“Im Herzen des Feigen wohnt keine Tugend“. Daumes deutlicher Hinweis ist heute bedeutsamer denn je. Schon während der Corona-Pandemie musste man erkennen, wie angepasst das Führungspersonal in den deutschen Sportorganisationen den Vorgaben der Politik gefolgt ist, wohl wissend, dass dadurch insbesondere bei den Kindern und Jugendlichen aber auch bei vielen Seniorensportgruppen ein erheblicher gesundheitlicher Schaden entsteht, bzw. entstanden ist, der kaum wieder gut zu machen ist. Unter den deutschen Sportfunktionären sind schon seit längerer Zeit eine immer größere Zahl von „Duckmäusern“ zu beobachten, die ihre Kritik allenfalls mit vorgehaltener Hand äußern, sich aber scheuen, bei Konflikten klare Positionen einzunehmen. Jüngstes Beispiel war die Fußball Weltmeisterschaft in Katar bei der die Politik und einzelne Politiker den Sport für ihre eigenen Ziele missbrauchten. Dabei konnten sie jedoch sicher sein, dass Widerstand aus den Reihen der Sportorganisationen nicht zu befürchten war. Eher das Gegenteil war der Fall.
In einer Zeit, in der Pazifisten belächelt und der „Weltfremdheit“ bezichtigt werden, ist es wohl naiv, von den Verantwortlichen des deutschen Sports eine besondere Friedensinitiative zu erwarten, die zum Ziel hat, dass der fürchterliche Krieg und das massenhafte Sterben vieler unschuldiger Menschen möglichst schnell beendet wird. Die Friedensidee hat wohl für den Olympischen Sport eine äußerst zentrale Bedeutung und so gib es ohne Zweifel ein besonderes Mandat für die Verantwortlichen im Sport sich für den Frieden in dieser Welt zu engagieren. Ein derartiges Mandat gibt es jedoch auch für die Kirchen, die Kunst, die Wissenschaft, die Massenmedien, die Gewerkschaften, die Wirtschaft, die politischen Parteien und für alle Regierungen in den westlichen Demokratien. In fast allen Einflusssphären, für die diese gesellschaftspolitischen Akteure verantwortlich zeichnen, muss jedoch ein nahezu totales friedenspolitisches Versagen konstatiert werden.

Einer muss jedoch immer den Anfang machen, was mir es möglich macht, an dieser Stelle einen – möglicherweise etwas hilflos anmutenden – Vorschlag zu unterbreiten. Doch ich erinnere mich dabei an den von mir schon als Kind und Jugendlicher bewunderten Mahatma Gandhi und dessen „Salzmarsch“ und seinem Festhalten an der Wahrheit („Sathyagraha“) im Jahr 1930, der anfangs für dessen Kritiker und Gegner ebenfalls als hilflos erschien, letztendlich aber zur Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien führte.
Seit der Gründung des Deutschen Sportbundes im Jahr 1950 verbindet die Kirchen und der Sport eine Partnerschaft. Sie ist in den vergangenen Jahrzehnten wohl etwas schwächer geworden, doch kann diese Partnerschaft durchaus auf beispielhafte ethische Initiativen verweisen. Eine gemeinsame Friedensinitiative der Kirchen und des DOSB zu Gunsten der Beendigung des Krieges in der Ukraine könnte an diese wichtige Tradition anknüpfen und ein bedeutsames Zeichen setzen. Hierzu ist allerdings Mut erforderlich, wie ihn Daume bereits vor 40 Jahren schon gefordert hat und wir ihn auch in diesen Tagen für die Verantwortlichen von Kirche und Sport uns wünschen würden.
Eine gemeinsame „christlich – olympische Friedensinitiative“, initiiert von dem Vorsitzenden der katholischen Bischofskonferenz Georg Bätzing, gemeinsam mit Reinhard Kardinal Marx für die katholische Kirche, von der Ratsvorsitzenden der EKD Präses Annette Kurschuss und dem bayerischen Landesbischof Heinrich Bedford- Strohm für die evangelische Kirche und von Thomas Weikert, dem Präsidenten des DOSB, dessen Mandat durch eine geschlossene Unterstützung aller Olympischen Fachverbände zu stärken wäre, könnte durchaus zu einer Friedensoffensive werden, die weder von der Politik in Berlin noch in Brüssel zu übergehen wäre. Auch für die Vereinten Nationen, den Vatikan und für das IOC könnte eine derartige Initiative bedeutsam sein. Papst Franziskus sagte erst vor wenigen Tagen in seiner Weihnachtsansprache einmal mehr das, was wir uns alle wünschen sollten: „Der Herr möge den Verstand derer erleuchten, die die Macht haben die Waffen zum Schweigen zu bringen und diesem sinnlosen Krieg ein sofortiges Ende zu setzen“. Würde dieser Weg von den Verantwortlichen aus Kirche und Sport beschritten, so könnten sie des Dankes von bekennenden Christen und auch einer großen Mehrheit aller sporttreibenden Bürgerinnen und Bürger sicher sein. Ein „Salzmarsch“ oder wie wir es in Deutschland üblicherweise nennen – ein Sternlauf oder eine Sternfahrt zu Fuß oder auf Rädern zum Brandenburger Tor und zu den Botschaften Russlands und der Ukraine in Berlin könnte vielleicht ein erster Anfang sein. Ich kenne einige Radfahrer und Läufer die hierzu bereit wären.

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letzte Bearbeitung: 28.12.2022