Sport zwischen Ethik und Markt

Am 6. Juni 1986 fand in Darmstadt ein Gespräch zwischen dem Herausgeber der Lutherischen Monatshefte (LM) und Helmut Digel (HD) statt. Das Gespräch soll hier in einer überarbeiteten und aktualisierten Fassung wiedergegeben werden, da von den Fragen und Antworten angenommen werden kann, dass sie auch für die noch in diesen Tagen zu beobachtenden Probleme des Sports von Relevanz sein können.

LM: Herr Digel, ein Getränkekonzern sponsert die Olympischen Spiele seit mehr als 100 Jahren, die Fußballweltmeisterschaften stehen unter dem Zeichen von Sportartikelfirmen, Sportler laufen als „lebende Litfaßsäulen1“ durch die Welt: Was ist passiert?

HD: Zunächst muss festgestellt werden, dass das internationale Leistungssportsystem, was seine Organisierbarkeit anbelangt, viel zu teuer geworden ist, als dass es sich mit traditionellen Finanzmitteln, die der Sport aus sich selbst heraus aufgebracht hat, finanzieren lässt. Der internationale Sportverkehr lässt sich nicht mehr über Zuschauereinnahmen oder über Mitgliedsbeiträge von Vereinsmitgliedern finanzieren, wie es früher vor allem für die BRD typisch war. Außerdem sind teilweise berechtigte materielle Interessen auf der Seite des Athleten2 entstanden; ein Athlet, der sehr viel Zeit investiert, einen Teil seines Lebens opfert für den Sport, stellt Ansprüche an den Sport, auch materieller Art. Er möchte nicht nur Entschädigung, sondern auch verdienen.

 

LM: Sind die alten Ideale des Sportlers damit verschwunden?

HD: Wir müssen heute sehr genau trennen zwischen verschiedenen Teilsystemen des Sports, die sich auch unter ethischen, moralischen oder ideellen Gesichtspunkten sehr weit auseinandergelebt haben und normativ kaum mehr auf einen Nenner gebracht werden können. Wir können also heute nicht mehr von einem Einheitssystem „Sport“ und nicht mehr von „dem Sportler“ sprechen. Es gibt nach wie vor in der großen Mehrheit den Sportler, der idealistisch handelt, der Sport treibt um seiner selbst willen, natürlich auch immer zielgerichtet, um zum Beispiel in einem Wettkampf Sieger zu sein, um sich fit und gesund zu halten oder um gemeinsam mit anderen gesellige Stunden zu erleben; dies ist nach wie vor die zentrale tragende Säule im Gesamtsystem „Sport“. Aber daneben hat sich ein Teilsystem im Sport entwickelt, das man ethisch und von seinen Grundsätzen her völlig anders betrachten muss als die traditionelle „Sportsäule“. Hier haben sich eigene Maximen entwickelt, es sind Maximen der Arbeitswelt. Es wird in diesem Feld nach Kriterien gehandelt, die man sogar als „sportfremd“ bezeichnen könnte.

 

LM: Der alte olympische Gedanke des „höher, schneller, weiter“ ist ja auch im Spitzensport immer schwerer zu verwirklichen. Die Grenzen werden deutlicher an die menschliche Leistungskraft stoßen. Dagegen könnte man den Eindruck haben, dass diese olympische Idee ständiger neuer Höchstleistungen im Technikbereich noch lange nicht an ihre Grenzen gestoßen ist. Könnte es sein, dass wir in einen Bereich kommen, wo der Mensch seine führende Herrschaft gegenüber der Technik verloren hat? Sie dient ihm nicht mehr zur Erleichterung des Lebens, sie wird nicht mehr an ihm gemessen, sondern er muss sich an ihr messen.

HD: die Idee des „höher, schneller, weiter“ ist eine typische Idee der Moderne, es ist die zentrale Idee der Industriegesellschaft. Die Diskussion, die wir um die Frage des Sinns von Wachstum im Allgemeinen führen, stellt sich gleichermaßen für den Sport. Im Sport stößt man an genau die gleichen Grenzen, an die man außerhalb des Sports derzeit stößt. Dies gilt für die Fragen der Technik, der Technologie ebenso wie für die Fragen der Gesundheit und Medizin. Man kann durchaus auch im Bereich des Sports von einer Umbruchsituation sprechen, die gerade jetzt als krisenhaft erlebt wird. Heute wird immer deutlicher, dass der Sport Ausdruck einer ganz bestimmten Form von Gesellschaft ist. Wir müssen heute im Sport, und vor allem im Hochleistungssport, zum Teil sehr schmerzhaft erleben, dass eine Maxime, wie sie über die olympische Idee die ganze Sportwelt geprägt hat, keine Maxime ist, die uns auf Dauer weiterbringen kann. Es ist bezeichnend, dass durch das IOC aus Anlass der Olympischen Spiele in Tokio 2020 das olympische Motto mit der Maxime des „Miteinander“ ergänzt wurde. Der Solidaritätsappell des deutschen IOC-Präsidenten kann durchaus auch als ein Hilferuf in einer krisenhaften Zeit gedeutet werden.

 

LM: Aber waren der Sport und die sportliche Betätigung nicht einmal gedacht als eine Gegenwelt zur Arbeitswelt?

HD: Ich bin mir sicher, dass sie das für viele Menschen auch heute noch sind. Nicht als Gegenwelt, sondern als Ausgleich; als Feld, in dem man sich regenerieren kann, in dem man wieder Kraft sammeln kann, damit man in der Arbeit seinen Mann steht. Allerdings muss man sagen, dass diese Gegenposition ja nur für ganz bestimmte Gruppen zutrifft, andere sind nach wie vor weitgehend aus der Welt des Sports als aktiv Sporttreibende ausgeschlossen. Angehörige unterer Sozialschichten nehmen bis heute nur sehr selten am aktiven Sport teil. Alle statistischen Daten, die die Mitgliedschaft und das aktive Engagement im Sport beleuchten, deuten darauf hin, dass die Welt des Sports ein typisches Mittelschichtphänomen darstellt, ausgerichtet an Werten, die die Mittelschicht auszeichnet. Dies ist übrigens nicht überraschend, denn gerade die Maxime „höher, schneller, weiter“ ist eine Maxime einer Leistungsgesellschaft, d.h. der Sport ist ein Feld, in dem man Leistungshandeln symbolisch erleben kann, ohne dass es gleich Folgen hat. Und die Leistungsthematik, das wissen wir unter anderem auch aus dem Erziehungsbereich, ist mit den ihn kennzeichnenden Aspekten des planerischen, langfristigen Denkens in unteren sozialen Schichten eher fremd als üblich. Nimmt man noch die pflichtethische Komponente aus dem Protestantismus hinzu, so ist durchaus eine Beziehung zwischen einer Sportkultur zum industriellen kapitalistischen Produzieren zu erkennen. Seit den Thesen von Max Weber wird dieser Zusammenhang in der Sportsoziologie immer wieder zu beschreiben versucht. Dabei zeigt sich, dass sportliche Höchstleistungen erbringen, Bedürfnisse aufschieben, langfristig planen etc., Merkmale des Handelns sind, die nur bei ganz bestimmten Personen und Gruppen anzutreffen sind. Deswegen war es auch nicht ganz überraschend, dass bei den frühen modernen Olympischen Spielen unter den Olympiasiegern ein weit höherer Anteil an Protestanten als Katholiken zu beobachten war. Hier sieht man, dass ganz offensichtlich die Frage, ob jemand zum Sport Zugang findet und aktiv Sport treibt, von vielfältigen Bedingungen abhängig ist. Nicht zuletzt von der familiären Sozialisation. Man sollte nicht glauben, dass die Religionszugehörigkeit ein entscheidender Indikator ist, aber er ist unter anderem auch eine Variable, die mit zu berücksichtigen ist. Denken wir doch in diesem Zusammenhang nur an die Rolle des Islam, wo z.B. die Frage nach der Beteiligung von Frauen im Sport in den unterschiedlichen Ausrichtungen des Islams höchst unterschiedlich beantwortet wird.

 

LM: Was sie jetzt gesagt haben, betrifft das aktive Ausüben von Sport als Mittelschichtphänomen. Demgegenüber scheint der passive Konsum von Sportereignissen über die Medien eine sich explosionsartig auszuweitende Zeiterscheinung zu sein, zumindest wenn man den Anteil ansieht, den die Massenmedien diesem Phänomen widmen.

HD: Ich glaube, dass man diesbezüglich oft einer Täuschung unterliegt. Ich habe diese Annahme immer auch für selbstverständlich gehalten. Die Untersuchungen, die in den letzten Jahren durchgeführt wurden und sich auf das Volumen und die Reichweite der Sportberichterstattung beziehen, deuten darauf hin, dass die Sendeanteile, die der Sport im Fernsehen einnimmt, über all die Jahre nahezu konstant geblieben sind. Sie liegen zwischen 8% und 12 % des Gesamtprogramms. Es ist allerdings dennoch so, dass der Sport eine Form von Volksunterhaltung im Fernsehen darstellt, denn anders kann man nicht erklären, dass mit Sportübertragungen die höchsten Einschaltquoten erreicht werden können. Dies bedeutet, dass bei herausragenden Sportereignissen, z. B. bei einem wichtigen Fußballweltmeisterschaftsspiel mit deutscher Beteiligung oft mehr als 40 Mio. aller Deutschen an diesen Sendungen teilnehmen. Der Sport kann nahezu alle mit seiner Botschaft erreichen. Dies sollte durchaus auch kritisch betrachtet werden und es stellt sich u.a. die Frage, ob es sinnvoll und wünschenswert ist, dass in diesem Ausmaß, mit diesen Inhalten und in dieser Form Sportunterhaltung unserer Gesellschaft angeboten wird.

 

LM: Hängt diese Entwicklung nicht auch mit der fortschreitenden Kommerzialisierung zusammen? Die Firmenembleme sind für den Zuschauer eines Fußballspiels, wenn er selbst im Stadion ist, kaum erkennbar. Das gleiche gilt für Ski -Abfahrtsrennen. Vor der Kamera aber kommen alle Werbebotschaften groß heraus. Besteht hier nicht auch ein Zusammenhang bzw. ein Einfluss der Medien?

HD: Grundsätzlich glaube ich, dass der Sport ohne die Medien nicht zu dem Massenphänomen hätte werden können, das er heute ist. Dies gilt vor allem für die großen Sportfachverbände, deren Finanzstärke und Unabhängigkeit hat sich in erster Linie über die Medien ergeben. Die Medien haben viele Sportarten erst populär gemacht. Die Medien haben auch nicht zuletzt dazu beigetragen, dass viele Menschen in den unterschiedlichsten Sportarten Sport ausüben. Allerdings könnte man auch die gegenteilige These vertreten, dass gerade die „Traumwelt des Sports“, die die Medien über ihre Berichterstattung vorführen, viele Menschen von dem aktiven Sporttreiben eher fernhalten. Aber es ist richtig, dass Sport ohne Fernsehen als Werbeträger nur bedingt attraktiv wäre. Die Bandenwerbung und die Werbung am Mann wäre eine Randerscheinung, wenn nicht gleichzeitig Fernsehberichterstattung stattfinden würde. Diese neue kommerzielle Situation des Sports konnte erst dann eintreten, seitdem die im Sport mittlerweile übliche Form der „Schleichwerbung“ juristisch akzeptiert wurde. Diese Art von Werbung stimmt jedoch mit fairen Wettbewerbsprinzipien, die unsere kapitalistische Wirtschaftsordnung kennzeichnen sollten, nicht überein. Teile des Sports kommen auf diese Weise zu Geld, das sie früher hätten niemals anstreben können.

 

LM: Nun ist das Phänomen Schleichwerbung sicher nur ein fragwürdiger Aspekt unter mehreren. Auf der anderen Seite passiert die Werbung ja außerordentlich direkt, wenn sie z.B. an die Vermarktung von Boris Becker durch die Deutsche Bank oder von Ulrike Meyfarth durch die Strumpf-Industrie denken. Hier ergaben sich doch bereits Verbindungen, die deutlich machen, dass Idole des Sports „produziert“ und „benutzt“ werden.

HD: Das war und ist ohne Zweifel der Fall. Wir haben neben den eben genannten Beispielen aus früherer Zeit heute eine Vielzahl von weiteren Beispielen und ich glaube, dass dies auch die nächsten Jahre weiter kennzeichnend sein wird. Dieser Trend wird weiter zunehmen. Der Sport ist im Moment – so glauben es zumindest viele Wirtschaftsunternehmen – ein positiver Werbeträger für ihre Produkte. Dabei wird angenommen, dass Sportler als Idole eine Verkaufssteigerung bewirken. Ob dies so ist, erscheint mir jedoch sehr zweifelhaft zu sein.

 

LM: Was heißt das aber für den Sport?

HD: Für den Athleten ist dies relativ unproblematisch, wenn er sich mit der kapitalistischen Wirtschaftsform identifizieren kann und wenn er kein Problem mit dem Produkt hat, für das er wirbt. Es könnte jedoch auch problematisch sein. Sollte er z.B. Mannschaftspieler sein und möchte Hochleistungssport betreiben, so kann er dies heute nur noch, wenn er sich mit einem Trikot voller Werbung bekleidet, das ihm ein anderer gleichsam „auferlegt“, d.h. er muss zwangsläufig Werbeträger werden, damit er überhaupt noch in der internationalen Spitze mitmachen kann. Dies muss er auch dann tun, wenn sich das Produkt oder die Institution, für die er auf seinem Trikot wirbt, im Widerspruch zu seinen eigenen ideellen Überzeugungen befindet. Ist dies der Fall, so wird die Würde des Athleten verletzt. Es wird zumindest gegen ein Prinzip der Freiheit verstoßen, das bislang im Sport gegolten hatte.

 

LM: Die Zeit, in der ein Mensch zu Höchstleistungen im Sport fähig ist, ist relativ begrenzt, gemessen an seiner Lebenserwartung. In dieser Zeit ist es offenbar nötig für den Einzelnen, sich in ein System einzuordnen, das ihm ganz bestimmte Zwänge von außen vorgibt, ihn gewissermaßen benutzt, um sich selbst am Leben zu erhalten. Wo beginnt eigentlich die Grenze, jenseits der das System Hochleistungssport die Menschenwürde verletzt?

HD: Insgesamt habe ich den Eindruck, dass wir die Grenze immer weiter verschieben, ohne dass wir uns dessen klar sind. Ich möchte ein Beispiel nennen. Es wird heute nahezu als selbstverständlich empfunden, dass ein Fußballnationalspieler mit einer schmerzhaften Verletzung beim nächsten wichtigen Spiel antritt, dass ein Experte anwesend ist, der sich selbst Arzt nennt, diesen Spieler vor dem Spiel so „spritzt“, dass er 2 Stunden Fußball durchstehen kann. Hier ist die Grenze überschritten, und dies gilt in gleicher Weise für den gesamten Anabolika- und sonstigen Doping-Missbrauch. Es gilt auch möglicherweise für die zeitliche Belastung, die den Athletinnen und Athleten im Training abverlangt wird, denn es werden dort regelmäßig Zeiten überschritten, die wir im Arbeitsleben als Grenzzeiten anerkennen. Im Arbeitsleben sagen wir aus arbeitsethischen Gründen „so lange darf ein Mensch nicht arbeiten“; im Hochleistungssport hingegen überschreiten wir diese Zeiten ohne Kritik. Man könnte einwenden, dass Sportler dies alles freiwillig tun. Wenn man jedoch die gesamten Zwänge betrachtet, die von außen mittlerweile dem System „Hochleistungssport“ auferlegt werden, so ist jedoch dieses Argument der Freiwilligkeit nicht mehr haltbar. Es ist wohl durchaus noch so, dass die willentliche Entscheidung des Athleten erforderlich ist, will dieser im Spitzensport teilhaben. Aber sie wissen auch, wie willentliche Entscheidungen entstehen können, welche Rolle dabei die Eltern spielen, welche Rolle der Trainer dabei spielt, welche Rolle die Gesellschaft und der Staat spielen kann. Denken wir nur an die Beeinflussung der willentlichen Entscheidungen von Sportlern in totalitären Staaten.

 

LM: Wir brauchen da gar nicht so weit zu gehen. Wie würden Sie zum Beispiel ein Phänomen „Boris Becker“ charakterisieren in diesem Zusammenhang? Minderjährig in einen Vertrag hineingebracht, der ihn total an dieses System Sport, an verschiedene Manager dieses Sports gebunden hat mit Auswirkungen für sein gesamtes Leben, die er selbst vermutlich bis heute noch nicht ausreichend übersehen kann.

HD: Zunächst würde ich das nicht für problematischer halten als jeden Lehrlings- oder Arbeitsvertrag, den jeder Arbeitnehmer heute gegenüber seiner Arbeitsstelle zu erfüllen hat.

 

LM: Abgesehen davon, dass die „Ausbildungsbeihilfen“ in diesem Fall etwas höher sind.

HD: Ja, und dass dabei für ihn Annehmlichkeiten entstehen, von denen der normale Jugendliche und junge Arbeitnehmer eigentlich nur träumen kann. Aber er muss natürlich auch die entsprechenden Arbeitspensen erbringen, und damit kommen wir genau zum Problem. Schon während der großen Tenniskarrieren von Becker und Graf mussten wir beobachten, dass z.B. eine Weltklasse- Tennisspielerin wie Frau Graf mindestens einmal antreten musste, obwohl sie krank war. Ob die Frage „spielen oder nicht spielen“ in dieser Situation noch der willentlichen Entscheidung des Athleten überlassen ist, scheint mir zweifelhaft zu sein. Wenn Druck von außen über den Manager, der praktisch den gesamten Handlungsraum des Athleten steuert, und über die Verträge zu groß wird, dann scheinen in der Welt des Profisports Wertemuster zu entstehen, die äußerst fraglich sind. Der Profisport verstößt dann möglicherweise gegen Prinzipien aus der Arbeitswelt, von denen wir eigentlich gemeint hatten, dass wir sie als Errungenschaften aus dem 19. und 20. Jahrhundert erreicht hätten.

 

LM: Grenzüberschreitungen, Verstöße gegen Errungenschaften der Arbeitswelt: ist eigentlich auch jemand da, der „Halt“ ruft?

HD: Ich glaube, wir brauchen so etwas wie selbst auferlegte Taburegeln, freiwillig übernommene Tabuverbote. Vermutlich werden auch einige Stoppregeln benötigt. Es hat sich gezeigt, dass die institutionellen Vorgaben im Moment nur sehr unzureichend sind und oft auch nicht eingehalten werden. Dies liegt daran, dass die Steuerungsmöglichkeiten in dem immer komplexer werdenden System des Hochleistungssports mittlerweile sehr gering geworden sind.

 

LM: Das müssen Sie näher erklären.

HD: Für den Deutschen Olympischen Sportbund als Dachorganisation, aber auch für die nationalen Sportfachverbände stellt sich nahezu das gleiche Problem wie wir es zum Beispiel bei der Diskussion über die Kernkraft erlebt haben. Man sagt: wir können allein nichts tun, wenn nicht alle anderen mitmachen. Weil die anderen nicht mitmachen, machen wir weiter. Dies ist zum Beispiel auch das Problem, das wir in Bezug auf die Doping-Problematik beobachten können. Man könnte ja sagen, wir nehmen ab sofort an internationalen Kugelstoßwettbewerben nicht mehr teil, denn die Leistungen im Kugelstoßen über 22 m bei den Männern und über 21 m bei den Frauen sind- so die Meinung von vielen Experten- nur mit Unterstützung einer medikamentösen Manipulation erreichbar. Man könnte eigene Wettkämpfe veranstalten und akzeptieren, dass in diesem eigenen Wettkampfsystem der „Rekord“ dann eben nur bei 18 m bzw. bei 20m liegt. Derartige selbstauferlegte Beschränkungen scheinen mir im Moment dringend notwendig zu sein. Die Schweiz hatte beispielsweise mit ihrer Fair Play Kampagne, die sie national über das Fernsehen in die Gesellschaft hineintrug, eine Diskussion geführt, deren Ergebnis lautete: Wenn der Prozess der zunehmenden Gewalt im internationalen Sport nicht reduziert werden kann, muss man sich überlegen, ob man einfach nur noch national Sport treibt und aus dem internationalen Sportbetrieb aussteigt. Es waren also Überlegungen im Gange, die in die richtige Richtung wiesen. Aber das entscheidende war dabei, dass der einzelne Funktionär und Athlet selbst an diesem Erziehungs- und Veränderungsprozess, der für die Lösung des Problems notwendig ist, beteiligt wird. Ohne die Einsicht des Individuums werden wir keine Veränderungen schaffen. Die institutionellen Vorgaben, von oben bis hin zum Athleten, haben in der Vergangenheit keine Veränderungen gebracht. Dies gilt auch für die Schweiz, und selbst auferlegte Beschränkungen sind im internationalen System des Hochleistungssports nirgendwo in Sicht.

 

LM: Nun stimmen die internationalen Erfahrungen mit selbst auferlegten Beschränkungen, etwa im Rüstungsbereich, nicht eben optimistisch, als ob sich da etwas bewegen ließe. Könnten Sie sich vorstellen, dass ein Zeitpunkt gekommen sein könnte wo über den Gedanken einer Askese im Hochleistungssport neue nachgedacht werden müsste. Und noch einmal die Frage: Wer könnte diesen Gedanken einbringen?

HD: Die Frage der Askese stellt sich nicht zu sehr in Bezug auf die Frage, ob im Sport leistungsthematisch gehandelt werden soll. Es geht vielmehr darum, dass das klassische, faire Leistungshandeln im Sport wieder zum Tragen kommt und dabei Prinzipien Geltung erlangen, die die Menschenwürde nicht verletzen. Leistung und Menschenwürde sind für mich keine Gegensätze. Wenn man Askese fordert, müsste man sie eigentlich nicht bezogen auf die Leistung fordern, eher gegenüber hedonistischen Erscheinungsformen im Sport, die gleichzeitig auch im Umfeld des Leistungssports selbst zu beobachten sind. Es ist ja nicht so, dass die Leistung eine Gefahr für das Wachstum des Sportsystems darstellt. Etwas anderes könnte ebenfalls problematisch sein, nämlich dass man parallel dazu eine Negierung des Leistungshandelns beobachten kann, dass viele Gruppierungen innerhalb der Sportbewegung, vor allem auch im Bereich der nicht organisierten Sportler, den Sport heute völlig neu definieren, wobei Leistung, Konkurrenz und Wetteifer gar nicht mehr auftauchen.

 

LM: Ist Sport dann noch denkbar?

HD: Ja, aber vielleicht mit einem völlig neuen Verständnis dessen was Sport ist. Wir müssen lernen, dass der traditionelle Sportbegriff nicht mehr alle Phänomene erfasst, die wir heute unter dem Dach „Sport“ einzuordnen haben. Wir kennen heute mehr als 80 verschiedene Sportarten, im Sportstättenbau wird von Architekten über mehr als 200 unterschiedliche Sportaktivitäten gesprochen, die bei der Planung und beim Bau von zukünftigen Sportstätten berücksichtigt werden sollen. D.h., wir müssen heute Zugeständnisse an Formen von körperlicher Aktivität machen, die wir früher niemals als Sport akzeptiert hätten. Ich denke an Yoga, an Aikido, an Tai Chi, an Bodybuilding und viele weitere, oftmals äußerst spektakuläre Sportaktivitäten. Hier sind Veränderungen im Gange, die darauf hindeuten, dass das klassische Konzept eines rigide definierten Sportartenkanons, geordnet über verbindlich festgelegte Sportregeln, offensichtlich nicht mehr so durchschlägt, wie es sich in der Vergangenheit erfolgreich hat durchsetzen können. Wir können Sport nicht mehr gleichsetzen mit Leistung, Wettkampf, Konkurrenz. Es gibt Menschen, z.B. Frauen, junge Ehepaare, aber auch viele junge Menschen unterschiedlichen Geschlechts, die sich Formen des Sports vorstellen und auch praktizieren, in dem nicht gezählt, nicht gemessen und keine Konkurrenz ausgeübt wird. Atemtechniken werden erprobt, Selbstfindungsprozesse über körperliche Aktivitäten werden angestrebt, also ganz neue Bedürfnisse werden an Körpertechniken herangetragen. Dies ist vermutlich auch eine Konsequenz der Infragestellung des Hochleistungssports, die durch dessen Auswüchse entstanden ist. Je mehr der Hochleistungssport das Sinnbild des Leistungshandelns verfälscht, desto mehr werden Menschen sich vom Hochleistungssport distanzieren.

 

LM: Können Sie sich vorstellen, dass diese neuen Tendenzen im Sinne einer, ja auch in der Gegenwart neu entdeckten, Einheit zwischen Leib und Seele den Gedanken des Hochleistungs –, oder sagen wir nur des Leistungssports, beeinflussen könnten in dem Sinne, dass da wirklich etwas Neues entsteht?

HD: Ich bin bei dieser Frage eher pessimistisch. Ich habe den Eindruck, dass die Trennung des Hochleistungssports von den anderen Formen unserer Körperkultur, die wir zunehmend beobachten können, sich zukünftig sehr viel schärfer noch vollziehen wird als wir es heute bereits beobachten können. Ich vermute, dass der Hochleistungssport sich zu einer sowohl organisatorisch als auch von seiner Sinnrichtung her separaten Welt entwickeln wird, in der Prinzipien gelten, die in den anderen Teilen der Körperkultur nicht mehr gelten, die dort sogar bewusst abgelehnt werden. Das wird ganz gewiss organisatorische Konsequenzen haben. Denn es wird die Frage sein, aus welchen Bereichen man jene Personen rekrutiert, die später Hochleistungssportler werden sollen. Bislang lief dies gleichsam über eine Art „Generationenvertrag“ zwischen Verein und Olympia. Der Verein war die Stätte, in der der junge Athlet gebildet, auch erzogen und geprägt wurde. Wenn er dann erfolgreich war, wurde er dem Spitzensport „zugeliefert“, wenn er sehr erfolgreich war konnte es aufgrund seiner willentlichen Entscheidung passieren, dass er Berufssportler wurde. Das einzige Problem, das sich dabei stellt, ist der Sachverhalt, dass dabei zum Aufbau einer sportlichen Karriere gemeinnützige Leistungen erbracht werden, die dann, wenn die Karriere erfolgreich ist, ausschließlich privatwirtschaftlich genutzt wird.

 

LM: Am Ende dieser Entwicklung, die sie gerade skizziert haben, stünde dann die Sportindustrie mit menschlichen Hochleistungsmaschinen, die man nach Möglichkeit schon von der genetischen Anlage her fest im Griff hat?

HD: Diese Angst habe ich nicht so sehr, weil ich glaube, dass der Spitzensport so nur so lange zu vermarkten ist, solange er in der Entstehungsphase so billig ist. Wenn die Industrie, die sich der erfolgreichen Spitzensportler bedient, alles zu bezahlen hätte, was an Vorleistungen für die Erfolge dieser Sportler zu erbringen ist, würde sie den Spitzensport kaum mehr so umfassend als ein Verkaufsinstrument einsetzen können. Denn er ist ja nicht im eigentlichen Sinne ein notwendiges Produkt, das die Menschheit dringend benötigt. Er ist in diesem Zusammenhang lediglich ein Produkt der Unterhaltungsindustrie, das jederzeit durch ein anderes Produkt ersetzt werden kann. Er ist für die Wirtschaft als Produkt aber nur dann billig, solange sie nicht selbst alle Kosten für ihn aufbringen muß. Wenn die Industrie für alle Kosten aufkommen müsste, dann würden wir sehr schnell den Rückzug von einigen Unternehmen erleben, die heute noch sehr billig mit Sport Geld verdienen können.

 

LM: Wir haben in diesem Gespräch immer wieder die Grenze theologischer Kategorien gestreift, zumindest bei Begriffen wie Menschenwürde, Askese, Leistungsethos. Welche Möglichkeiten sehen Sie eigentlich, dass der Sport zu einer positiven Entwicklung, wie Sie sie skizziert haben, auch Hilfen von der Kirche erwarten kann?

HD: Aus historischer Erfahrung muss man sagen, dass Systeme sehr selten von innen heraus die Kraft aufbringen, sich zu verändern. Wenn es um eine normative Neuausrichtung geht, so müssen deshalb Anstöße meist von der Umwelt kommen. Ich glaube, dass gerade die Kirche, oder noch umfassender gesprochen verschiedene Religionen, ein sehr gutes Umfeld sein können, wenn wir über ergänzende Steuerungsfunktionen für den Sport sprechen. Dies war in der Vergangenheit seit Gründung des Deutschen Sportbundes im Jahr 1950 im Übrigen bereits der Fall. Es gab und gibt schon lange Kontakte institutioneller Art zwischen Kirche und Sport, die sich meines Erachtens durchaus bewährt haben. Allerdings muss aus der Sicht von heute jedoch angemerkt werden, dass diese Kontakte in jüngster Zeit kaum mehr folgenreich gewesen sind. Doping, Fan-Ausschreitungen, Korruption, Finanzskandale, sexueller Missbrauch, aber auch die vielen Verstöße gegen das Gebot der Sonntagsheiligung sind Krisensymptome, die schon seit längerer Zeit im Sport zu beobachten sind, bei denen man jedoch eindeutige und klare Stellungnahmen und Forderungen von Seiten der Kirche immer öfter vermissen muss.
Es gab und es gibt daneben auch Möglichkeiten, dass Kirche ohne institutionelle Kontakte wieder Einfluss auf die Lebenswelten des Sports nimmt. Dies setzt allerdings voraus, dass die Kirche aus einer unabhängigen Position heraus seine Partnerschaft mit dem Sport wählt und dabei auch als kritische Instanz gegenüber dem Sport den Mut hat, die Grenzen sehr genau zu beschreiben, wo aus kirchlicher und religiöser Sicht Grenzen bestehen. Ich denke zum Beispiel an die Menschenwürde, ich denke an die verschiedenen medizinischen und gesundheitlichen Aspekte des Sports oder auch an die Frage des Umgangs mit Kindern, wo die Kirche ja äußerst klare Positionen aufweist. Nur vermisse ich bislang eindeutige Aussagen, wenn es beim Sport in diesen Bereichen zu Verstößen kommt. Das von mir erwähnte Beispiel des Fußballnationalspielers muss nicht ein Fall sein, bei dem sich nur einige kritische Journalisten empören. Es ist eigentlich eine Sache, zu der auch aus theologischer Sicht etwas gesagt werden sollte.

¹ Die Rechtschreibung hat der Verfasser in der damals gültigen Form übernommen.

² Auch hier wird die Ursprungsfassung des Textes beibehalten. Mit dem damals überwiegend gewählten „generischen Maskulinum“ sind selbstverständlich – heute wie damals – alle Geschlechter gemeint.

Letzte Bearbeitung: 12. April 2022