Sport, Identifikation und nationale Repräsentation – Spitzensport im Dienste der Politik

Einleitende Bemerkungen 

Als Walter Jens aus Anlass des 75-jährigen Jubiläums des Deutschen Fußballbundes 1975 in seiner Festrede die Sportfunktionäre¹ davor warnte, noch einmal „die Stirn zu haben“ und zu sagen, „dass der Sport kein Politikum sei“ und seine Festgemeinde darauf hinwies, dass der Sport auch dann zur Politik gehört, und gerade dann ein Element der Politik ist, wenn der Sport von der Politik ablenken soll. Jens war es dabei vermutlich klar, dass er längst Bekanntes, von Kritikern längst Diskutiertes für ein sportaffines Publikum rhetorisch aufbereitet hatte, das die Realität je nach dessen Interesse immer nur selektiv wahrgenommen hatte und dem dadurch ein wichtiger Alltagswissensbestand verstellt geblieben war: Sport ist und war nie nur eine angenehme Form der Unterhaltung oder  eine nur lustvolle zweckfreie Betätigung mit Gesundheitswirkung. Das war und ist Sport wohl immer gewesen, doch ebenso ist der Sport auch ein Politikum, dessen Bedeutung und Wirkung weit über den Sport hinausgehen. Dabei ist zunächst noch gar nicht an große internationale Wettkämpfe und Turniere zu denken, sondern an alltägliche sportliche Erscheinungsformen wie das sportliche Handeln auf dem Trimmpfad, an das Fußballspiel einer Feierabendgruppe in einer Parkanlage und an den Seniorensportnachmittag in der städtischen Sporthalle, die sowohl für die Akteure in diesen Situationen wie auch für die Initiatoren dieser Ereignisse politische Geschehen auch dann darstellen, wenn sich die betreffenden Personen dieses Sachverhalts nicht bewusst sind. Den Sport sollte man vielmehr als ein politisches Phänomen charakterisieren, so wie es im Alltagssprachgebrauch geschieht: ob z.B. in einer Parkanlage Fußball gespielt werden darf oder nicht ist eine kommunalpolitische Frage, ob ein Seniorensportnachmittag finanziert werden kann, ob alte Leute isoliert leben, ob die arbeitende Bevölkerung sich durch Sport gesund erhält und so eine sinnerfüllte Freizeit verbringt etc. sind finanziell–, sozial– und gesellschaftspolitische Fragen. 

Wenn im Folgenden versucht werden soll, den Sport in seiner außenpolitischen Bedeutung als Medium nationaler Repräsentation und sozialer Identifikation zu interpretieren, so sollen diese einleitenden Bemerkungen darauf hinweisen, dass damit nur ein kleiner Ausschnitt des politischen Sports beschrieben ist und nationale Repräsentation als Problem und Gefahr vor diesem allgemeinen politischen Hintergrund verstanden werden muss. 

Repräsentieren ist alltägliches Handeln  

Betrachtet man sportliches Handeln als symbolisches Handeln, das bedeutungsvoll ist und verschiedene Funktionen erfüllen kann, so liegt es nahe, sportliche Wettkämpfe und deren Resultate, Erfolge oder Niederlagen als Symbole zu verstehen. Als Symbole stehen sie für „etwas anderes“ und gewinnen Repräsentationsfunktion.
Das „etwas“ wird dabei im Sport sehr verschiedenartig ausgefüllt und je nach Situation und Relevanz repräsentiert ein sportliches Resultat „gute Trainingsarbeit“, „sportliche Kameradschaft“, „gutes Vereinsmanagement“, „wirtschaftliche Leistungskraft“, „besseres Gesellschaftssystem“ etc. Dass dem Sport diese Symbolkraft zugemessen wird, mag intellektuelle Kritiker erstaunen, und es mag paradox erscheinen, dass der sportliche Wettbewerb einer kleinen Zahl von Leuten, die ihre Kräfte aus Spiel- und Leistungsfreude und/oder aus Profitinteressen messen, die Gesellschaft so erregt, dass ganze Nationen dadurch in ihrer Selbstachtung zittern, dass Regierung und Parteien sich zu vielerlei Versprechungen und Maßnahmen gezwungen sehen, um die Chancen der Athleten des eigenen Lagers zu erhöhen.
Doch betrachtet man unvoreingenommen die verschiedensten menschlichen Darstellungsformen in verschiedenen Gesellschaften und Kulturen, so löst sich die angebliche Paradoxie in Normalität, in Alltäglichkeit auf. Wenn Personen oder Gruppen von Personen sich selbst oder anderen etwas darbieten, wie zum Beispiel der Schauspieler im Theater, eine Volkstanzgruppe bei einem Bürgerfest, ein Zauberer auf dem Jahrmarkt, ein Konfirmand im Gottesdienst, so identifizieren sich immer auch andere mit den Handlungen dieser Akteure: der Theaterregisseur mit denen seines Schauspielers, das Dorf mit denen seiner Volkstanzgruppe, die Ehefrau mit denen ihres Gatten als Zauberer, die Angehörigen mit den Sprechhandlungen des Konfirmanden. Das heißt andererseits, dass die Akteure umgekehrt auch diese sie bedingende Umwelt repräsentieren: der Schauspieler spielt für sein Theater, der Zauberer zaubert für seine Frau, die Volkstanzgruppe tritt für ihr Dorf auf und der Konfirmand fühlt sich seinen Angehörigen verpflichtet.
Versteht man wie in den angeführten Beispielen menschliches Handeln prinzipiell als soziales Handeln und stimmt man zu, dass sich menschliches Leben immer in Abhängigkeit zu dem Leben der Mitmenschen ereignet, so müssen Repräsentation und Identifikation als sich gegenseitig bedingende Elemente menschlichen Handelns, als alltägliche Merkmale menschlicher Interaktion aufgefasst werden. Beide sind deshalb an sich weder als gefährlich noch als unsozial zu verstehen, und es wäre anormal würde sportliches Handeln diese Formen nicht aufweisen. 

Repräsentationsformen im Sport 

Betrachtet man den Sport auf diese Weise, so stellt sich heraus, dass Sportler und der Sport sehr verschiedenartige Repräsentanten und Identifikationsobjekte darstellen. Mit der Leistung oder dem Erfolg eines Sportlers oder einer Mannschaft können sich sowohl einzelne, dem Sport nahestehende Personen identifizieren als auch Gruppen, die von der Gruppe der mittrainierenden Sportkameraden, über die Sportabteilung, den Verein, die Gemeinde, den Kreis und das Land bis zur „Großgruppe“ der Nation reichen. Auf regionaler Ebene wird dabei vor allem die Identifikation durch die Tatsache der Ortsverbundenheit erleichtert, der Sport wird als Repräsentanz der Heimat der Zuschauer gesehen; dies übrigens auch dann, wenn der Sportler erst vor kurzem „eingekauft“ wurde oder Ausländer ist. Die Sportler sind Stuttgarter oder Schwaben und gehören zu „uns“ und gewinnen mit „uns“. Auf jeder Ebene unterscheiden sich dabei die Formen der Identifikation und Repräsentation. So kann z.B. eine Niederlage die Mitglieder einer Sportabteilung eines Vereins vermutlich viel intensiver und länger deprimieren als die Bürger eines Bundeslandes, aus dem der unterlegene Repräsentant stammt. Im überregionalen Bereich wirkt die Identifikation weniger beständig und als Repräsentanten werden die Sportler nur im Erfolg angesehen; Pfiffe, Buhrufe und Gelächter bedeuten die „Entlassung“ aus den „Repräsentationsverträgen“ durch die Zuschauer. 

Auf jeder Ebene steht Repräsentanz in Wechselbeziehung mit Identifikationsvorgängen. Die Sportler verfolgen je nach Könnensniveau und Verwertungszusammenhang der sportlichen Leistung mit ihrem sportlichen Handeln sehr unterschiedliche Ziele: sie kämpfen als Profi um die Sicherung ihrer Existenz, um die Erhaltung ihres Arbeitsvertrages, um finanzielle Zuschüsse für ihr Training durch die Deutsche Sporthilfe, um Werbeverträge oder auch nur um die Erhaltung ihres guten Rufes und zugkräftigen Namens. Da aber jedes Versagen, jede Niederlage die Erreichung dieser Ziele infrage stellt, da die Gefahr des Umschlagens der Publikumsgunst von Bewunderung in Missfallen oder Verspottung eine Gefährdung dieser Ziele bedeutet, tritt der Sportler bewusst oder unbewusst auch an, um den Zuschauern die gewünschte Identifikation zu ermöglichen, wobei er gleichzeitig durch seine sportliche Handlung die Zuschauer und somit die jeweilige Bezugsgruppe „Verein“, „Ort“ oder „Nation“ repräsentiert. Die Zuschauer werden so zu einer Wir-Gemeinschaft integriert, was ihnen eine Identifikation mit den erkämpften Sporterfolgen ermöglicht und die Erfolge des Sportlers auf das politische System übertragbar werden lässt. Über den Prozess der Integration und Identifikation werden so sportliche Erfolge zum Wertmesser für die Leistungsfähigkeit politischer Systeme gemacht. 

Erklärungsversuche 

Nahezu sämtliche Nationalstaaten sehen im Sport heute eine Möglichkeit nationaler Repräsentation und verhalten sich deshalb auch so, als ob sie über ihre Nationalmannschaften selbst in Konkurrenz mit anderen Nationen stünden. Dies hat dazu geführt, dass der internationale Wettkampfsport in diesen Nationen nachhaltige innenpolitische Rückwirkungen nach sich zieht. Dabei ist es nicht dem Zufall oder der individuellen Entscheidung überlassen, mit wem sich die Bevölkerung eines Staates identifiziert oder nicht bzw. durch wen sich eine Nation repräsentieren lässt. Der Prozess der nationalen Identifikation wird durch Funktionäre des Sports und durch die am Sport interessierten Politiker durch deren Reglements und Entscheidungen verstärkt und die nationalen Symbole wie Flaggen, Hymnen, Maskottchen der Nation etc. verstärken als vereinigende Identifikationsmedien zwischen Sportlern und den sich identifizierenden Fans die Wirkung dieses Prozesses.
Besonders deutlich wird die politische Inanspruchnahme des Sports in totalitären politischen Systemen, die jeden Wettkampf zur Selbstdarstellung nutzen. Doch dank des weltweit zu beobachtenden Massenkonsums des Sports und dessen weltweiter Publizität durch die Massenmedien, die dem Sport Anerkennung verschaffen und dadurch die Bedeutung des Sports für die Sportler, die Zuschauer und für die Regierungen vervielfacht haben, lässt sich das Phänomen der politischen Inanspruchnahme des Sports heute nahezu überall in der Welt beobachten. Hinzu kommt, dass der Sieg als oberstes Ziel immer höher bewertet wird. Der finnische Soziologe Heinilä merkte hierzu an: „Auf struktureller und organisatorischer Ebene bedeutet dieser Wandel des Sports den Durchbruch zur industriellen Produktion der Höchstleistung im Sport: früher wurden Meister geboren, heute werden sie hergestellt“. Der Wettkampf ist heute zum Anlegen von gemeinsamen Bemühungen nationaler Sportorganisationen geworden, nationale Hilfsquellen werden mobilisiert, Talentsuche findet bereits im frühen Kindesalter statt, wissenschaftliche Methoden für das Training werden entwickelt. Diese Entwicklung bewirkte, dass die erbrachten Leistungen in den Stadien in immer größere Abhängigkeit von solchen Vorleistungen geraten sind, d.h. dass die tatsächliche Leistung der Athleten zunehmend in Abhängigkeit zur Gesamtleistungsfähigkeit des Sportsystems eines Landes zu sehen ist, immer weniger als individuell bezeichnet werden kann und somit im internationalen Wettkämpfen nur noch scheinbar die relative Überlegenheit von Sportlern ermittelt wird, sondern in Wirklichkeit die Güte des Trainings, der Trainingsaufwand, die wissenschaftlichen Vorleistungen, die besten technologischen Errungenschaften etc. gemessen werden.
In immer mehr Nationen wurde der Sport dadurch zu einem Symbol der Leistungskraft politischer Systeme, und für Nationen ist es bei solch hohen Investitionen naheliegend, sich durch auf diese Weise vorbereitete sportliche Erfolge auch national repräsentieren zu lassen, hat doch ein Großteil der Bevölkerung aktiv dazu beigetragen: Ärzte, Ingenieure, Trainer, Mäzene, Sponsoren und letztlich jeder Steuerzahler. Hinzu kommt, dass nationale Identifikation für viele eine Folge ihrer privaten aktiven und passiven Teilhabe am aktuellen Sportgeschehen ist. Man hat in der Schule am Sportunterricht teilgenommen, geht mit seinen Kindern zum Schwimmen oder zum Jogging, spielt in einer Betriebsmannschaft, hat für die Glücksspirale bezahlt und Olympiabriefmarken erworben, verfolgt wöchentlich die aktuellen Sportereignisse im Fernsehen und man kennt zumindest teilweise die Regeln und die Sprache des Sports. Für die Bürger ist es deshalb selbstverständlich und legitim, sich mit den Leistungen „ihrer“ Spitzensportler zu identifizieren, können Sie doch einen „eigenen“ Anteil an den Erfolgen aufweisen.  

Die bisherigen Interpretationen des Phänomens der nationalen Repräsentation haben sich auf kein bestimmtes Gesellschaftssystem bezogen und können ihre Gültigkeit für alle Gesellschaftssysteme beanspruchen. Einige Interpreten des Phänomens sehen jedoch in den Vorgängen der nationalen Repräsentation und Identifikation vorrangig ein kapitalistisches Problem. Vinnai interpretierte zum Beispiel den Vorgang der Identifikation als „regressiven Anschluss an das Kollektiv“, der der Aufputschung des Nationalismus mithilfe internationaler Sportbewegungen dient und es den „Herrschenden“ erleichtert, ihre Völker in „Gefolgschaften“ zu verwandeln. Beim Zuschauer werden zielgehemmte libidinöse Strebungen über den „infantilen Mechanismus der Identifikation mit Führerfiguren“ befriedigt, „welche von erfolgreichen Athleten verkörpert werden“. 
Identifikation des Menschen im Sport ist nach marxistischer Sicht als Kompensationsmittel zur Arbeitswelt zu verstehen, als Ersatzbefriedigung für das, „was dem Subjekt in den entscheidenden Lebensbereichen außerhalb des Sports grundsätzlich versagt bleibt… Damit rückt der Sport in eine reine Mittelfunktion“. Identifikation und nationale Repräsentation werden zu stabilisierenden Elementen des Systems. 

Nationale Repräsentation durch Sport hat eine lange Tradition 

Betrachtet man das Phänomen der nationalen Repräsentanz aus einer historischen Perspektive, so sind die Ereignisse nationaler Repräsentanz an allgemeine nationalistische Entwicklungen gekoppelt, für die es verschiedene Erklärungsmöglichkeiten gibt: der sozial – ökonomische Aufstieg des Bürgertums, die Sprengung der ständischen Schranken durch die zunehmende Bedeutung des Leistungsprinzips, die fortschreitende Rationalisierung aller Lebensbereiche und Bedürfnisse, zu denen auch die Identifikation mit einem Kollektiv gehören. Vereinzelung und Isolation machten eine neue „Transzendenz“ erforderlich. Der Nationalismus ist demnach ein Instrument der politischen Egalisierung, Solidarisierung und Aktivierung. Der Bezug zum Sport wird durch die Tatsache unterstützt, dass im Sport selbst das Leistungsprinzip zum vorrangigen Prinzip erklärt wurde, und leistungsorientierter Sport mit leistungsorientierter Produktion in der Arbeitswelt weitreichende Parallelen aufweist. 

Sport als Medium nationaler Repräsentanz ist weder eine moderne Erscheinung noch ist dies nur ein Problem bestimmter Gesellschaftssysteme. So wie schon in den Ursprüngen des Turnens bei Jahn nationale Motivationen erkennbar waren, man vom „vaterländischen Turnen“ sprach und im Widerstand der Turner sich der Widerstand gegen die französische Besetzung symbolisierte, so war es auch in den Gründertagen der modernen Olympischen Spiele klar, ja es wurde sogar erwünscht, dass dem Sport patriotische Motive zu Grunde liegen und internationale Sportwettkämpfe und die dabei erzielten Erfolge national verwertet werden. Die „unheilvolle Politisierung des Sports“ wie sie von dem Politologen Winkler benannt wurde, ist also nicht nur durch den Eintritt der Sowjetunion in die olympische Gemeinschaft 1952 in Helsinki entstanden, wie es in der antikommunistischen Ideologie oft behauptet wurde. Zahlreiche Beispiele aus der Geschichte beweisen das Gegenteil: in der Tschechoslowakei, in Irland, Dänemark aber auch im jüdischen Nationalismus wurde der Sport mit politisch nationalen Bewegungen verquickt. Im viktorianischen England wurde er als nationaler Besitz ergriffen, “durch den sich das moderne auserwählte Volk von den übrigen Völkern abgehoben fühlte wie vormals der in Olympia repräsentierte Grieche von den Barbaren“, und über den Sport wurden allen Engländern auch in anderen Lebensbereichen „Fair Play“ als nationales Erkennungsmerkmal zugeschrieben. So die Auffassung des Soziologen und Sporthistorikers Eichberg. 

Sportliche Siege als Erfolge der Nationen zu betrachten wurde auch durch den Olympischen Eid nahegelegt, nach dem „in ritterlichem Geist zum Ruhme des Sports und zur Ehre unseres Landes“ zu kämpfen war. Sport wurde so zum „heiligen Dienst am Vaterland“. Dies galt in besonderem Maße für das Dritte Reich und für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Hitler gestaltete die Olympischen Spiele in Berlin zu einer Repräsentationsveranstaltung, um seiner Politik Weltgeltung zu verschaffen. Die Olympischen Spiele und die Erfolge der deutschen Sportler wurden auf diese Weise zur groß angelegten Täuschung der Bevölkerung durch den Hitlerfaschismus, was jedoch nur möglich war, weil der Sport und seine Repräsentanten Hitlers Bestrebungen weitgehend entgegenkamen. Berlin 1936 stellte die naheliegende Konsequenz einer auf nationale Repräsentation ausgerichteten olympischen Konzeption dar, die teilweise auf die politisch nationalen Interessen von Coubertin, dem Begründer der modernen Olympischen Spiele, zurückzuführen sind. Zum anderen Teil werden sie durch die seit 1896 erfolgten IOC Beschlüsse bedingt, wo an Nationalhymnen, Flaggen, Nationenwertung und Medaillenspiegel bis heute festgehalten wurde. So wurden auch nach 1936 Olympische Spiele national repräsentativ von jedem neuen Ausrichterland genutzt. Sind es nicht mehr die sportlichen Erfolge, die, weil sie ausbleiben, die nationale Repräsentationsleistung erbringen, so müssen Organisation, Sportstätten, Gastfreundschaft, Kunst etc. als Repräsentanten an deren Stelle treten, wofür neben Tokio und Mexico City nicht zuletzt München 1972 kaum zu übertreffende Beispiele darstellen. Dienten die Ausmaße des deutschen Olympiastadions in Berlin den machtpolitischen Interessen der NSDAP, so dienten die Olympiaanlagen in München 1972 der wirtschaftspolitischen Repräsentation der Bundesrepublik Deutschland und der regierenden Parteien in einem neuen, sich als weltoffen darstellendem Deutschland.  

Eine Chance für die Dritte Welt?  

In Bezug auf nationale Repräsentation und Identifikation mittels sportlicher Großveranstaltungen ist jedoch in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eine bedeutsame Veränderung zu beobachten. Wurde die Inanspruchnahme des Sports zur nationalen Repräsentation in hochentwickelten Industrienationen immer häufiger infrage gestellt und wurde ihre Eignung für eine politische Repräsentanz immer häufiger bezweifelt, so setzten immer mehr unterentwickelte Nationen auf den Sport und internationale Sport Erfolge, um nach außen hin ihre junge und schwer erkämpfte Nation zu repräsentieren. Dabei muss die nationale Repräsentation durch Sport für die jungen Nationen als Gefahr und Chance zugleich bezeichnet werden. Kaum zufällig erweist sich der Sport für das Selbstbewusstsein der jungen Nationen der Dritten Welt, die zum Teil erst wenige Jahrzehnte unabhängig sind, als besonders wichtig und kaum zufällig sind gerade sie es, die auf dem hergebrachten Zeremoniell mit Fahnen und Hymnen beharren. Der Einmarsch der Nationen bedeutet für diese Staaten die nationale Gleichstellung der ehemals ausgebeuteten Nationen, bedeutet die symbolische Herstellung von Gleichheit und der Ausgrenzung der sie täglich bedrückenden Ungleichheiten. 

Ungleichheit stellt sich aber auch im sportlichen Wettkampf dar. Ähnlich der zunehmenden Abhängigkeit in wirtschaftlicher Hinsicht und des daraus resultierenden zunehmenden Abstandes zu den Industrienationen, ist es auch im Sport, trotz der zum Teil spektakulären Erfolge einiger Spitzensportler aus Entwicklungsländern, nicht zu übersehen, dass der Abstand zu den Industrienationen im Sport bis heute sich nur unwesentlich verkleinert hat und die Möglichkeiten der Länder der Dritten Welt insbesondere in technologisch orientierten Sportarten immer sehr begrenzt geblieben sind. Der Sport kann zur Entwicklung der Gemeinden wie auch der Nationen z.B. in afrikanischen Staaten einen wesentlichen Beitrag leisten, doch ob dazu Spitzensportler und moderne Stadien als Symbole der Modernisierung erforderlich sind, scheint fragwürdig zu sein. Meist wird übersehen, dass der Sport, wie er sich derzeit in Asien, Lateinamerika und Afrika in der großen Mehrheit deren Länder darstellt, eine kolonialistische Zutat der imperialistischen Mächte ist bzw. eine Folge der „sportlichen Eroberung der Dritten Welt“ darstellt, dass aber nirgendwo erfolgreich der Versuch unternommen wurde, den Sport in die gegebenen ethnischen Bedingungen zu integrieren. Bei der sog. „Sportentwicklungshilfe“ wird vorrangig europäischer Sport exportiert. Doch damit exportiert man auch dessen Probleme, Widersprüche und sportliche Wucherungen ( Doping, Korruption, Kommerz). Dass der finanzielle Aufwand und eine damit erforderliche Prioritätensetzung im Verhältnis zu den sozialen Problemen der Entwicklungsländer häufig unangemessen hoch ist, erscheint angesichts der angedeuteten Gefahren nur als eine weitere Argumentationshilfe gegen den europäischen Sportexport. 

Rolle und Selbstverständnis der Athletinnen und Athleten  

Es gibt es in fast allen Nationen dieser Welt Hochleistungssportler, die bereit sind, ihr Land, ihre Nation oder auch ihre Ethnie bei internationalen Wettkämpfen zu vertreten, die somit auch bereit sind, Identifikationsobjekte für ihre Mitbürger zu sein. Zu Fragen bleibt jedoch, ob sich die Sportler ihrer nationalen Repräsentationsaufgabe bewusst sind, ob freiwillige Bereitschaft vorliegt oder ob sie ungefragt von Politikern und Funktionären „benützt“ werden. Befragt man die Sportler nach ihrer Rolle im sportlichen Repräsentationsprozess, so fallen die Antworten, je nach Herkunftsland und in Abhängigkeit zum politischen System, aus dem der Athlet kommt, sehr verschieden aus. Identifikationsrituale zur eigenen Nation und zum politischen System, aus dem der Athlet kommt, lassen sich vor allem bei Athletinnen und Athleten aus totalitären Gesellschaftssystemen beobachten. Der größte Teil der Sportler, insbesondere jene aus westlichen Demokratien, sehen sich hingegen sehr häufig überhaupt nicht als Repräsentationsobjekt. Ihre sportlichen Handlungen sehen Sie in erster Linie in einem persönlichen, durch ein hohes Leistungsmotiv bedingten Zusammenhang. Solche subjektiven Beurteilungen ändern jedoch nichts an der objektiven Tatsache, dass auch solche Athleten als erfolgreiche Sportler für die politische Führung des Systems, dessen nationales Symbol (z.B. der Deutsche Reichsadler) sie auf ihrer Sportkleidung tragen, und für die Millionen Bürger an den Fernsehgeräten als Repräsentanten dieses Systems gelten und dass ihre Leistungen vom entsendenden Staat politisch verwertet werden.
Eine derart unbewusste politische Repräsentation durch Athleten, die sich ihrer Repräsentationsaufgabe nicht bewusst sind, bedarf einer kritischen Würdigung. D.h. jedoch nicht, dass nationale Repräsentation durch Sport demokratische Ordnungen prinzipiell gefährden bzw. dass es generell zu verurteilen ist, wenn sich Nationen mit ihren Sportlern darstellen.
Ohne den psychologischen Interpretationen zuzustimmen, die im Sport ein geeignetes Ventil für individuelle und soziale und somit auch nationale Aggressionen sehen, oder es als ein Glück bezeichnen, dass es Olympische Spiele und zahlreiche internationale Sportwettbewerbe gibt, die es auf ungefährliche Weise ermöglichen, angestaute Aggressionen bei Zuschauern und Sportlern abzuleiten, muss daran erinnert werden, dass tatsächliche kriegerische Handlungen lange Zeit das Medium nationaler Repräsentation gewesen sind und die Helden der Nation, mit denen man sich identifizierte, Generäle, Kampfflieger oder besonders waghalsige Grenadiere waren. Angesichts solch einer Vorgeschichte, (die sich leider in diesen Tagen noch einmal wiederholt), müsste es als ein willkommener Wandel erscheinen, wenn sich heute eine Nation mit einer Nationalmannschaft, mit Fußballnationalspielern oder mit einem Olympiasieger identifiziert. 

Ob es besser ist, wenn eine Nation sich über Literatur, Mondfahrt, Atomphysik oder über Sport präsentiert sei dahingestellt. Zumindest ist es nicht dem Sport vorzuwerfen, wenn eine Nation bereit ist, sich durch Athleten erlösen oder niederdrücken, repräsentieren oder blamieren zu lassen. Im Gegenteil: Der Sport macht in diesem Zusammenhang auf Identitätsprobleme der Gesellschaft bzw. des Sportpublikums aufmerksam, deren Ursachen in erster Linie außerhalb des Sports zu suchen sind. Gefährliche politische Folgen sind dabei eher die Ausnahme als die Regel. Doch die Gefahr, die durch diese Ausnahmen für Nationen und Sportler hervorgerufen wird, ist groß genug, als dass sie übersehen werden dürfte. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Fußball-WM-Siegesfeiern in Argentinien, Chile und Brasilien und die Ausnutzung von Fußballstars wie Pele zu weltweiter Propaganda, um von Folterungen und Ausbeutung durch diktatorische Systeme abzulenken, an das viel zitierte Beispiel des Fußballkrieges zwischen Honduras und El Salvador und an die Ereignisse in Prag anlässlich des Sieges der CSSR über die UdSSR bei der Eishockey WM 1969. Gefährlich sind aber auch die Einflüsse von Funktionären und Journalisten, die in Interviews und Reportagen einen fragwürdigen Nationalismus mehr oder weniger bewusst vorantreiben, so z.B., wenn sie beim Rudern vom „Achter als dem Flaggschiff der Nation“ sprechen oder eine Fußballniederlage als „Schande für Deutschland“ bezeichnen.  

Für Sportler ergeben sich Gefahren vor allem dadurch, wenn sich eine Nation durch deren Erfolge repräsentieren möchte uns sich die Förderung der Karriere der Athleten eine Verpflichtung der Athleten gegenüber den Förderern impliziert. Fühlt der Sportler sich der Nation, den Sponsoren, der Sporthilfe, den Mäzenen etc. nicht verpflichtet, betrachtet er den Sport als eine „private Angelegenheit“, so ist er der Stigmatisierung und der Verachtung seiner Gönner sicher. Von besonderer Problematik ist daneben auch die Tatsache, dass nationale Identifikation immer eine Zuwendung der Sympathie von vielen an wenige zuungunsten einer Verteilung der Sympathie an viele nach unterschiedlichen Kriterien bedeutet, im Gegensatz zum einen einzigen Kriterium der Nationenzugehörigkeit. Die dadurch bedingte hohe Gewichtung des Hochleistungssports verhindert eine Sensibilisierung der Bevölkerung für andere und möglicherweise wichtigere Formen des Sports. Es darf deshalb durchaus gefragt werden, ob der Sport angesichts seiner vielfältigen Aufgaben im Bereich des Schul- und Breitensports überhaupt Instrument nationaler Repräsentanz sein soll. 

Ein Verzicht ist unwahrscheinlich 

Solche Bedenken sind vor allem deshalb angebracht, wenn von Wissenschaftlern immer eindeutiger darauf hingewiesen wird, dass die intendierte politische Wirkung sportlicher Großereignisse und sportlicher Erfolge keineswegs so groß ist, wie sie Kritiker unterstellen bzw. Politiker erhoffen. So selten wie der Sport zur langfristigen internationalen Verständigung beiträgt so wenig ist umgekehrt eine langfristige politische Repräsentationswirkung durch Ereignisse des Hochleistungssports festzustellen. Aktuelle Entwicklungen, wie z. B.  die noch nicht beendete COVID-19 Pandemie, weisen eher darauf hin, dass die nationale Repräsentation über sportliche Erfolge eher unbedeutend ist. Zum einen ist dies sicher eine Folge der massenmedialen Reizüberflutung unserer Gesellschaft, die ein längerfristiges Verweilen bei einer „Information“ oder einem Ereignis nicht zulässt, zum anderen ist es aber auch eine Folge der zunehmenden Bildung der Bevölkerung, welche die Zahl derer vergrößert, die Sporterfolge als unbedeutend für ein politisches System ansehen. Berücksichtigt man abgesehen von dieser Tendenz einige Gefahren der nationalen Repräsentation im Sport, so könnte die Forderung durchaus angebracht sein, dass die verantwortlichen Politiker und Sportfunktionäre versuchen sollten, alle sich wechselseitig ausschließenden Loyalitäten im Sport zu reduzieren und die Identifikationsmöglichkeiten mit den Sportlern als Repräsentanten der Nation abzubauen. Um dem nachzukommen, müssten sowohl nationale Wertungen und Medaillenspiegel als auch Sportwettkämpfe als Vergleichskämpfe von Nationen abgeschafft werden. 
Obgleich berechtigt, scheint diese Forderung derzeit wenig realistisch. Es ist momentan im Gegenteil sogar eher notwendig, politische Gemeinschaften wie die der Bundesrepublik darauf hinzuweisen, dass, wenn sie sich durch sportliche Leistungen repräsentiert sehen wollen, sie auch den vollen Preis zu bezahlen und neben dem Training und den Wettkämpfen auch für die soziale Sicherheit der Sportler Sorge zu tragen haben. 

Letzte Bearbeitung: 26.Mai 2022 

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich, weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.