Sport als gesellschaftliches Phänomen

Der Sport ist in den vergangenen hundert Jahren zum bedeutsamsten Inhalt unserer Alltagskultur geworden. Längst hat er höhere Literatur, Kunst und klassische Musik hinter sich gelassen. Allenfalls können sich Popmusik, Kriminalfilm und Belletristik mit ihm messen lassen. Im Fernsehprogramm führt er mit seiner außergewöhnlichen Reichweite seit mehreren Jahrzehnten bereits die Ranglisten der wichtigsten Sendungen an und was die Vervielfältigung seiner Inhalte anbelangt, zeichnet er sich ebenfalls durch Einmaligkeit aus. Waren es vor einhundert Jahren wenige Sportarten die Menschen faszinieren konnten, werden heute in einem Land wie Deutschland mehr als 80 Sportarten, die sich in Vereinen organisiert haben, unterschieden und vom Staat mit bestimmten Privilegien anerkannt. Neben diesen Sportarten werden mehr als 200 weitere Sportaktivitäten unterschieden, die von Architekten berücksichtigt werden wenn sie heute bedürfnisgerechte Sportanlagen planen und bauen. Das besondere an der Entwicklung des Sports ist darin zu sehen, dass er eine passive und aktive Form aufweist. In den vergangenen einhundert Jahren hat der Prozess der Ausdifferenzierung und imperialen Ausweitung des Sports in beiden Formen stattgefunden. In der aktiven Form hat er nahezu alle Menschen unserer Gesellschaft erreicht. Waren es zunächst nur Kinder, Jugendliche und junge Männer, treiben heute Männer und Frauen, Kinder, Jugendliche, alte Menschen, Behinderte, Menschen aller Schichten und Menschen mit unterschiedlichster Bildung Sport in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen. In seiner passiven Form ist er in allen Tageszeitungen, im Fernsehen, im Internet und dessen sozialen Medien, in Magazinen, im Alltagsgespräch und bei vielen gesellschaftlichen Ereignissen präsent. Der Sport hat sich dabei nicht isoliert entwickelt, er befindet sich vielmehr in einem ständigen Austauschverhältnis mit unserer Gesellschaft, in der er selbst ein wichtiger Teil geworden ist. Mit der Wirtschaft, der Politik, den Massenmedien, der Bildung, dem Militär, den Religionen, steht der Sport in einem meist sehr intensiven Austauschverhältnis. Selbst zur Kunst, zur Musik, zur Literatur weist er vielfältige Beziehungen auf.

Dabei ist der Sport ein eigenartiges Phänomen. Man könnte jederzeit auf ihn verzichten und es würde dabei gewiss kein Unglück entstehen. Jahrtausende konnten die Menschen ohne dieses Phänomen auskommen und auch heute gibt es noch Gesellschaften, für die dieses Phänomen eher eine Luxuserscheinung ist. Der Sport ist nutzlos, erscheint doch aber vielen Menschen als äußerst nützlich. Vor allem der wirtschaftliche Nutzen scheint für viele nahezu unersättlich zu sein.

In modernen Gesellschaften soll der Sport viele Funktionen erfüllen, insbesondere die Politik schiebt ihm immer mehr Funktionen zu, die eigentlich in anderen Bereichen und mit anderen Mitteln erfüllt werden müssten, die sich jedoch im Bereich des Sports als besonders attraktiv erweisen.

Die Inanspruchnahme des Sports reicht von dessen politischer, ökonomischer, militärischer, pädagogischer und gesundheitspolitischer Funktion bis hin zur Kompensations-, Repräsentations-, Resozialisierungs- und Unterhaltungsfunktion.

Das Phänomen des Sports zeichnet sich nicht zuletzt wegen dieser Multifunktionalität durch ein besonderes „sowohl als auch“ aus. Sport ist eine Schule des Fair Play, doch gleichzeitig ist er auch eine Schule des Foulspiels. Sport macht gesund, er kann aber durch seine vielen Risiken, Verletzungen und Krankheiten hervorrufen. Sport fördert das soziale Zusammenleben, er ist aber auch eine Schule des Egoismus. Sport macht dumm – dieser Aussage steht die Behauptung gegenüber, dass Sport die Intelligenz junger Menschen fördert.

Auch unter einem interkulturellen Gesichtspunkt stellt sich der Sport als eigenartiges Phänomen dar. Wird in diesen Tagen in Deutschland Biathlon, Skispringen und Handball neben dem Fußball von den Zuschauern als besonders interessant wahrgenommen, werden diese Sportarten in den Vereinigten Staaten als eher unverständlich, zumindest als völlig uninteressant bewertet. Basketball, American Football, Baseball und Eishockey sind hingegen deren Zuschauermagnete. Fußball und Sumo-Ringen fasziniert Senegalesen. Badminton, Boxen, Fußball ist für Indonesier wichtigster Freizeitinhalt. Cricket kann die Engländer und Inder faszinieren und uns nur langweilen und Rugby ermöglicht Australien, Südafrika, Neuseeland und Samoa intensivste Identifikationsprozesse.

Der Sport ist somit in jeder Hinsicht ein äußerst schillerndes Phänomen. Er ist wie kein anderes Kulturgut global, lokal weist er jedoch viele spezifische Merkmale und Eigenheiten auf. Er fasziniert im Augenblick und erreicht höchste Aufmerksamkeit und dennoch ist bereits morgen nahezu jedes Sportereignis eine schnell zu vergessende Geschichte. Im Sport wiederholt sich nahezu ständig alles und dennoch bringt er immer wieder Neues hervor. Die Gegenwart ist dabei immer so wichtig, wie es die bereits bevorstehende Zukunft zulässt. Vergesslichkeit ist hier ein nützliches Ventil, um den aktuellen Herausforderungen zu genügen. Verantwortung wird dabei vor allem gegenseitig erwünscht, doch gleichzeitig ist niemand bereit, sie auf Dauer zu tragen.

Letzte Überarbeitung: 31.07.2017