Sollen „neutrale Athletinnen und Athleten mit russischem und belarussischem Pass“ an den Olympischen Spielen 2024 teilnehmen?

Briefwechsel über die Frage der Teilnahme „individueller neutraler Athleten“ an den Olympischen Sommerspielen 2024 in Paris zwischen H. Digel und dem Deutschen Leichtathletikverband (DLV)

1 Brief von H. Digel an den DLV vom 3. Mai 2023 

Sehr geehrte DLV- Präsidiumsmitglieder, sehr geehrter Herr Präsident Kessing, lieber Jürgen, sehr geehrter Herr Vorstandsvorsitzender Gonschinska, lieber Idriss,  

als Ehrenpräsident des DLV erlaube ich mir eine für mich sehr wichtige Frage an Sie zu richten. Gemäß der Satzung des DLV hat sich unser Verband dem „Prinzip der politischen Neutralität“ verpflichtet. Dieses Prinzip legt auch das „Gebot der Autonomie der sportpolitischen Entscheidungen“ nahe, die somit unabhängig von staatlicher Beeinflussung stattfinden müssen. Der DLV hat sich außerdem bei seinem außerordentlichen Verbandstag im November 2020 gegenüber einem Ethik-Code verpflichtet, in dem die Werte und Grundsätze festgelegt wurden, die „das Verhalten und den Umgang miteinander innerhalb des Deutschen Leichtathletik-Verbandes und gegenüber Außenstehenden“ bestimmen müssen.
Dieser Code „ist für alle ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Deutschen Leichtathletik-Verbandes verbindlich“. Im Ethik-Code des DLV werden vor allem die Werte „Toleranz, Respekt Würde“ und „Fairplay“ herausgestellt und es wird in § 1 dieses Codes dezidiert ausgeführt:
„Jede Diskriminierung insbesondere in Bezug auf Rasse, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Religion, Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderung oder politische Haltung sowie Belästigungen jeglicher Art werden nicht toleriert“. 

In § 2 wird ergänzend hinzugefügt: Der DLV „nimmt seine menschenrechtliche Verantwortung auf der Basis der UN- Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte wahr“. 

In § 3 findet sich der Hinweis: „Geltende Gesetze sowie sonstige interne und externe Richtlinien und Regeln sind einzuhalten“. 

Schließlich wird in § 7 zum Ausdruck gebracht, dass „Athletinnen und Athleten im Mittelpunkt“ der DLV- Politik zu stehen haben:“ Die Athletinnen und Athleten jeden Alters, im Freizeit- und Gesundheitssport, im Breiten- und Spitzensport stehen im Mittelpunkt des Engagements in den Leichtathletik- Vereinen und Verbänden. Sie auf der Grundlage dieses Ethik- Codes zu unterstützen, zu fördern und zu schützen ist das Ziel aller Verantwortlichen im Deutschen Leichtathletik-Verband“. 

Vor dem Hintergrund dieser verbindlichen Regelungen und Festlegungen ist es für mich im Zusammenhang mit der Frage, ob „neutrale Athleten“ mit russischer Staatsangehörigkeit, die den terroristischen Angriffskrieg Russlands nicht zu verantworten haben, an den Olympischen Spielen in Paris teilnehmen sollen, nicht nachvollziehbar, warum sich der DLV nicht in aller Entschiedenheit und öffentlich gegen die Einmischungen der staatlichen Politik in die autonomen Belange des Sports wehrt. Es ist für mich unerträglich, wenn eine Bundesministerin des Innern die Auffassung vertritt, dass sie gemeinsam mit weiteren west- europäischen Staaten darüber befinden kann, wer unter welchen Bedingungen an internationalen Sportveranstaltungen teilnehmen kann und darf. Folgt der DLV den diesbezüglich ausgesprochenen staatlichen Vorgaben, so verstößt er nicht nur gegen seine eigene Satzung, sondern vor allem auch gegen seinen eigenen Ethik- Code. Ein Ausschluss sog. „neutraler unschuldiger Athleten mit russischem Pass“, die in Bezug auf deren Neutralität einer Überprüfung durch eine unabhängige internationale Kommission zu unterziehen sind, verstößt vor allem auch gegen die Olympische Charta, gegenüber der sich das DLV- Präsidium bereits nahezu über ein ganzes Jahrhundert verpflichtet fühlte. Besonders eklatant ist dabei, dass der DLV damit auch gegen die Olympische Friedensmission“ verstößt.
Noch wichtiger ist es allerdings, dass der DLV, wenn er den Ausschluss aller russischen Athleten von den Olympischen Spielen 2024 fordert und unterstützt, auch gegen die UN-Menschenrechtskonvention und die Empfehlungen der Vereinten Nationen in dieser Frage verstößt. Hinzu kommt, dass der DLV dabei auch gegen das staatliche „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“(AGG) verstößt. Auch aus einer ethischen Perspektive verbietet sich eine „Kollektivhaftung“ insbesondere bei der Frage eines Startrechts, um die es ja bei dem aktuell zur Diskussion stehenden Fall vorrangig zu gehen hat. 

Mit Blick auf diese sportrechtlichen und allgemeinen rechtlichen Rahmenbedingungen, die bei der Entscheidung über die Frage zu beachten sind, ob neutrale russische Athleten an Olympischen Spielen teilnehmen dürfen, möchte ich Sie bitten, Ihre diesbezüglichen Entscheidungen zu überprüfen und ggf. zurückzunehmen. Ich möchte sie bitten, die aus meiner Sicht dringend notwendigen Beschlüsse zur Änderung der sportpolitischen Position des DLV zugunsten einer Solidaritätsbekundung gegenüber der in diesen Fragen unterstützenswerten und verantwortungsvollen Sportpolitik des IOC und seines deutschen Präsidenten möglichst schnell vorzunehmen. 

Es muss in diesem Zusammenhang auch erwartet werden, dass der DLV sich öffentlich und mit seiner Stimmabgabe beim bevorstehenden World Athletics- Kongress in Budapest gegen die von World Athletics Präsident Coe vertretene Position zugunsten eines Ausschlusses aller russischen Athleten und Athletinnen ausspricht. Dessen Interessen und Befangenheit in Bezug auf die staatliche britische Politik sind zu offensichtlich als dass sie von einem Deutschen Leichtathletik-Verband unterstützt werden dürfen. 

Sollte der DLV mit seiner bisherigen Ausschlussforderung auch den Ausschluss von Athletinnen und Athleten aus Belarus zum Ziel haben, so möchte ich darauf hinweisen, dass auch in diesem Fall meine Ausführungen zu dieser nicht haltbaren Forderung gelten. In diesem Fall sei mir allerdings auch die Frage erlaubt, warum der DLV nicht auch den Ausschluss aller übrigen Nationen fordert, die bislang nicht bereit waren, den gegen das Völkerrecht eklatant verstoßenden Angriffskrieg Russlands zu verurteilen. Es stellt sich aber auch die noch sehr viel weiterführende Frage, wie der DLV sich aktuell und zukünftig in Bezug auf die derzeit in der ganzen Welt viel zu zahlreich stattfindenden kriegerischen Auseinandersetzungen verhalten möchte und welche denkbaren staatlicherseits erhobenen Ausschlussforderungen er diesbezüglich unterstützen will. Dass damit eine große Gefahr für die weitere Zukunft der Olympischen Spiele heraufbeschworen würde sei abschließend hingewiesen. 

Mit freundlichem Gruß 

Helmut Digel 

 

2 Antwortbrief des DLV-Präsidenten vom 17.Mai 2025 

 

Sehr geehrter Herr Professor Dr. Digel, 

im Anhang sende ich Ihnen den Brief von Herrn Kessing. 

Mit freundlichen Grüßen  

Silke Bernardi 

Managerin Vorstandsbüro 

 

Sehr geehrter Herr Professor Dr. Digel 

zunächst möchte ich mich bei Ihnen für Ihr sehr detailliertes Schreiben bedanken, das Startrecht von russischen und belarussischen Athlet*innen bei Wettkämpfen und den Olympischen Spielen 2024 in Paris betreffend. Sie berufen sich in Ihrem Schreiben auf den Ethik-Code des Deutschen Leichtathletik-Verbandes in dem unter anderem steht, dass „der DLV seine menschenrechtliche Verantwortung auf der Basis der UN-Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte wahrnimmt.“ Dazu stehen wir nach wie vor, auch wenn die DLV-Haltung in Sachen Startrecht klar ist und wir zum jetzigen Zeitpunkt keinen Start von russischen und belarussischen Athlet*innen zulassen aufgrund des aktuell stattfindenden Angriffskrieges von Russland gegen die Ukraine.
Es ist richtig, dass das Internationale Olympische Komitee (IOC) trotz des aktuellen Krieges mit Thomas Bach als Präsident eine Zulassung russischer und belarussischer Athlet*innen empfohlen hat und dies mit menschenrechtlichen Fakten begründete. Dr. Joachim Rücker, Geschäftsführer des DOSB-Menschenrechtsbeirates, hält diese Begründung jedoch für falsch, da die Olympische Charta vorsieht, die Welt friedlich zu vereinen.
Wir folgen bei unserer Haltung zum Start von russischen und belarussischen Athlet*innen nicht nur dem Weltverband World Athletics und dem Europäischen Verband EAA sondern auch unserem Dachverband dem Deutschen Olympischen Sport Bund (DOSB).
In einem konstruktiven Konsultationsprozess hat sich der DOSB mit Mitgliedsorganisationen, Athletenvertreter*innen und Wirtschaftspartnern ausgetauscht und sich dabei von 
Expert*innen aus der Politik und der Wissenschaft beraten lassen. In diesem Zuge hat der DOSB bei Prof. Dr. Dr. Patricia Wiater von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, um die menschenrechtliche Dimension der Fragestellung zu prüfen. Rechtsprofessorin Dr. Dr. Patricia Wiater kommt in Ihrem Gutachten zu dem Ergebnis, dass keine Diskriminierung oder Menschenrechtsverletzung bei einem Ausschluss vorliegt.
In seiner Sitzung am Freitag (17. März 2023) in Hannover, an deren Rand es einen Austausch und Einvernehmen mit der Konferenz der Landessportbünde gab, hat das DOSB-Präsidium die Erkenntnisse des bisherigen Konsultationsprozesses reflektiert und stellt Folgendes fest: 

  • Wir plädieren weiterhin für einen Ausschluss russischer und belarussischer Athlet*innen und Funktionär*innen vom internationalen Wettkampfsport.
  • Wir bitten das IOC und die internationalen Sportfachverbände, das Nationale Olympische Komitee der Ukraine weiterhin eng in den laufenden Konsultationsprozess einzubinden und die tatkräftige Unterstützung der ukrainischen Athlet*innen fortzusetzen. Auch der DOSB und seine Mitgliedsorganisationen werden ihre Solidarität mit den ukrainischen Athlet*innen fortführen. 
  • Russland und Belarus dürfen keine Gelegenheit bekommen, die Teilnahme und Erfolge ihrer Athlet*innen bei internationalen Wettkämpfen zu kriegspropagandistischen Zwecken zu missbrauchen.
  • Unabhängig von der Entscheidung des IOC und der internationalen Sportfachverbände hinsichtlich einer Wiederzulassung von russischen und belarussischen Athlet*innen und Funktionär*innen, lehnen wir einen Boykott von internationalen Wettkämpfen, insbesondere der Olympischen und Paralympischen Spiele Paris 2024, aus grundsätzlichen Erwägungen ab. Leidtragende eines solch sportlichen Boykotts sind ausschließlich die Athlet*innen, die ihre möglicherweise einzige Chance zur Realisierung ihres olympischen Traums verpassen würden.

Der Deutsche Leichtathletik-Verband schließt sich insgesamt dieser Argumentation an und verweist in all seinen Statements immer wieder darauf, dass dies zum jetzigen Zeitpunkt gilt. Bei einer Friedenslösung im Konflikt zwischen Ukraine und Russland muss die Zulassung von russischen und belarussischen Athlet*innen neu diskutiert werden. Auch einen möglichen Boykott der Spiele schließt das DLV-Präsidium ebenso aus wie DOSB-Präsident Klaus Weikert es in einer Erklärung bereits getan hat.

Ihr Schreiben, Herr Professor Digel, haben wir natürlich auch unserem Ethikbeauftragten Professor Dr. Michael Böhnke zukommen lassen, der uns folgende Antwort zu Ihrer Fragestellung gegeben hat: „Zwar hat Professor Digel an einer Stelle Entscheidungen thematisiert, jedoch hat er diese nicht weiter konkretisiert. Auch hat er nicht Beschwerde darüber geführt, dass das Präsidium oder der Vorstand mit einer bereits getroffenen Entscheidung gegen eine Bestimmung des Ethik-Codes verstoßen hätten. Von daher sehe ich keine Notwendigkeit der Intervention.“

Die Athleten Deutschland haben bzgl. Ausschluss folgende Erklärung abgegeben: „Wir halten die Wiederzulassung für manche Athlet*innen unter Auflagen für falsch. Dieses Instrument ist aus unserer Sicht nicht geeignet, die Instrumentalisierung des Sports und der Athlet*innen für Putins Kriegspropaganda zu unterbinden. Ein kollektiver Ausschluss wäre – nach mehrfachen Brüchen mit den Werten und Regeln der Olympischen Bewegung – ein geeignetes und legitimes Mittel, auch ohne gegen Diskriminierungsverbote zu verstoßen. In den Empfehlungen des IOC kommt eine differenzierte Abwägung der Rechte und Schutzbedürfnisse von ukrainischen Athlet*innen auf der einen und russischen Athlet*innen auf der anderen Seite zu kurz.“ 

Ausdrücklich möchte ich mich im Namen des DLV-Präsidiums noch einmal bei Ihnen Herr Professor Digel bedanken, dass Sie im Rahmen Ihrer Ehrenpräsidentschaft und als international renommierter Soziologe dem DLV-Präsidium Ihre detaillierte Meinung mitgeteilt haben. Es ist ein schwieriges Thema in schwierigen Zeiten das sehr kontrovers diskutiert wird, wenngleich schon jetzt festzustellen ist, dass viele Athlet*innen einen Ausschluss Russlands und Belarus von den Spielen 2024 befürworten.
Ich hoffe, dass bis zu den Olympischen Spielen 2024 in Paris eine Lösung gefunden wird, die von allen getragen werden kann. 
Voraussetzung dafür ist sicherlich eine vorhergehende friedliche Lösung zwischen Russland und der Ukraine.  
Ich hoffe, Herr Professor Digel, ich konnte Ihnen unsere Position und wie wir zu einer Entscheidungsfindung gekommen sind, in Sachen Zulassung oder Nichtzulassung von russischen und belarussischen Athlet*innen noch einmal verständlich machen. 

Mit besten Grüßen 

Jürgen Kessing 

DLV-Präsident 

 

3 Antwortbrief von H. Digel an den DLV- Präsidenten vom 22. Mai 2023 

Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Herr Kessing, 

die von Ihnen gewählte Anrede in ihrer Antwort auf meinen Brief hat mich etwas überrascht, zumal Sie mir bereits zu Beginn ihrer Amtszeit das „Du“ angeboten haben, das ich damals gerne angenommen habe. Ich habe kein Problem damit, wenn dieses Angebot von Ihnen wieder zurückgenommen wird. Ihr Antwortschreiben hat mich jedoch in vieler Hinsicht inhaltlich mit vielen Fragen zurückgelassen.
Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass ich in meinem Schreiben an Sie nicht von „russischen und belarussischen Athleten und Athletinnen“ gesprochen habe, sondern von „neutralen Athleten“, deren Neutralität vom IOC, bzw. den internationalen Fachverbänden geprüft wird und auch von einer unabhängigen internationalen Kommission überprüft werden soll. 
Sie weisen darauf hin, dass der DLV nach wie vor die UN- Leitlinien für Menschenrechte beachtet. Dies scheint mir jedoch nicht der Fall zu sein, denn sie beachten ein Gutachten einer vom DOSB beauftragten Juristin, deren Beurteilung im Widerspruch zu den Beurteilungen der UN- Menschenrechtsexperten steht. Die UN- Leitprinzipien für Menschenrechte unterscheiden Menschenrechtsverletzungen u. a. auf drei Ebenen:  

  • Menschenrechtsverletzungen, die man selbst verursacht;  
  • Menschenrechtsverletzungen zu denen man beiträgt; und  
  • Menschenrechtsverletzungen durch Dritte, aus denen man einen Nutzen zieht bzw. einen Vorteil hat.  

Der völlige Ausschluss aller russischen und belarussischen Athletinnen und Athleten käme einer Menschenrechtsverletzung auf allen drei Ebenen gleich. 

Für mich ist es ein Ärgernis, wenn der DLV bei seiner sportpolitischen Haltung in Bezug auf die Teilnahme „individueller neutraler Athleten“ sich hinter einem Gutachten des DOSB „versteckt“, dieses Gutachten zur absoluten „Rechtsautorität“ erhebt und dabei jedoch nicht zur Kenntnis nimmt, dass dieses Gutachten unter Juristen äußerst umstritten ist und der DLV die Kritik an diesem Gutachten nicht beachtet.
Sie schreiben in Ihrer Antwort, „dass das IOC mit Thoma Bach als IOC- Präsident eine Zulassung russischer und belarussischer Athleten und Athletinnen empfohlen hat“. Doch genau diese Empfehlung gibt es bis zum heutigen Tage nicht. Es ist in allen IOC- Dokumenten nachlesbar, dass das IOC und Dr. Bach immer nur von „individuellen neutralen Athleten“ gesprochen haben, die bei den Spielen in Paris zugelassen sein sollten. Dies ist ein äußerst wichtiger terminologischer und sportpolitischer Unterschied bei der Behandlung des von mir angesprochenen Problems.
Sie berufen sich ferner auf Dr. Joachim Rücker, Geschäftsführer des DOSB- Menschenrechtsbeirates, der „diese Begründung des IOC für falsch hält, da die olympische Charta vorsieht, die Welt friedlich zu vereinen“. Sie legen dabei jedoch nicht offen, welche Begründung des IOC Herr Rücker meint. Wenn ich Sie richtig verstehe, vertreten Sie die Auffassung, dass dann, wenn neutrale russische und belarussische Athleten und Athletinnen an den Olympischen Spielen in Paris teilnehmen werden, das IOC gegen seine eigene Olympische Charta verstößt, weil damit die Welt nicht friedlich vereint sei. Ich muss gestehen, dass mir eine abenteuerlichere Begründung für einen Verstoß gegen das Friedensgebot der Olympischen Charta bislang noch nicht begegnet ist.
In Bezug auf die Person von Herrn Dr. Rückert sei mir eine wichtige Anmerkung erlaubt. Dank meiner sozialen Herkunft und meiner – bis heute anhaltenden – Wertschätzung von Willy Brandt war vermutlich in meiner Zeit als ehrenamtlicher Sportfunktionär für jeden Außenstehenden meine Nähe zum Politikverständnis der Sozialdemokratie kaum zu übersehen. Dabei habe ich immer angenommen, dass es in der SPD nicht zu einem vergleichbaren „Nepotismus“ und zu einer „Klüngelei“ in der Sportpolitik kommen könnte, wie dies häufig anderen Parteien, insbesondere der CDU/CSU, unterstellt wurde. Dass heute angesichts des zwingenden Gebots der parteipolitischen Neutralität innerhalb der Führungsorgane des deutschen Sports nunmehr eine Situation entstanden ist, bei der unter der Führung einer SPD- Ministerin der DOSB Präsident, der Vorstand des DOSB und mindestens drei weitere Mitglieder des DOSB- Präsidiums der Partei der SPD angehören, der Geschäftsführer des DOSB- Menschenrechtsbeirates SPD- Mitglied ist und weitere wichtige Verbandspräsidenten – so auch Sie und der Präsident des DBS – dieser Partei angehören und dabei den Vorgaben der staatlichen SPD- Sportpolitik folgen, ist für mich mehr als irritierend. Dies ist für mich ein Sündenfall, der möglichst schnell korrigiert werden muss. Man darf zumindest erwarten, dass führende Sportfunktionäre während ihrer Amtszeit in Gremien des deutschen Sports ihre Parteimitgliedschaft ruhen lassen. 

Es freut mich, dass sie aus grundsätzlichen Erwägungen einen Boykott der Olympischen Spiele in Paris ablehnen. Sie begründen ihre Ablehnung mit der Einschätzung, dass Leidtragende eines solchen sportlichen Boykotts ausschließlich die Athletinnen und Athleten wären, die ihre möglicherweise einzige Chance zur Realisierung ihres olympischen Traums verpassen würden. Offensichtlich denken Sie dabei nur an ihre eigenen Athleten. Dass es durch Ihre Entscheidung gegen eine Teilnahme neutraler Athleten auch leittragende neutrale Athletinnen und Athleten gibt, für die Paris ebenfalls ihre einzige Chance zur Realisierung ihres olympischen Traums ist, wird von Ihnen mit keinem Wort erwähnt. 

Ihnen scheint es wichtig zu sein, dass sie darauf hinweisen, dass ihre Argumentation nur zum jetzigen Zeitpunkt gilt und dass bei einer Friedenslösung im Konflikt zwischen Ukraine und Russland die Zulassung von russischen und belarussischen Athletinnen neu diskutiert werden muss. Wer diese Position vertritt, der muss zu Recht gefragt werden dürfen, was er denn selbst dafür tut, dass es zu dieser Friedenslösung kommt. Angesichts der Tatsache, dass angeblich oder tatsächlich beide Kriegsparteien im Moment an Friedensverhandlungen und an einer diplomatischen Lösung des Konflikts nicht interessiert sind, muss diese Frage von den Verantwortlichen der Sportorganisationen dringend gestellt werden. Nicht nur von der deutschen Regierung werden in diesen Tagen der Ukraine noch weitere Waffensysteme und Munition zur Verfügung gestellt, damit die Ukraine einen Sieg erringen kann, dessen Siegeskriterien jedoch nicht verbindlich festgelegt sind. Wie es unter diesen Bedingungen die von Ihnen erwünschte Friedenslösung noch vor Beginn der Olympischen Spiele in Paris im August 2024 kommen soll, ist eine Frage, die all jene beantworten müssen, die gemeinsam mit Ihnen die Teilnahme neutraler Athleten ablehnen. Ich muss sie deshalb auch fragen, warum Sie sich selbst nicht um eine „Friedensinitiative des Sports“ – möglichst gemeinsam mit anderen Sportfachverbänden – bemühen, um die von Ihnen angesprochene Friedenslösung zumindest etwas wahrscheinlicher zu machen. Eine wichtige Voraussetzung für derartige Friedensbemühungen müsste allerdings sein, dass sich die Sportorganisationen von der in diesen Tagen immer wieder zu beobachtenden staatlichen Bevormundung in Bezug auf die Frage, wer an Olympischen Spielen teilnimmt und wer davon auszuschließen ist, öffentlich distanzieren. Eine eindeutige Orientierung am Gebot der parteipolitischen Neutralität und am Gebot der Autonomie der sportpolitischen Entscheidungen wäre dafür ebenfalls zwingend notwendig. 

Unter Berufung auf Herrn Böhnke, der angeblich anmerkt, dass ich mit meinem Schreiben an das Präsidium nicht darüber Beschwerde geführt habe, dass das Präsidium mit einer bereits getroffenen Entscheidung gegen eine Bestimmung des Ethik-Codes verstoßen hätte, muss es erlaubt sein, dass ich bei Ihnen nachfrage, wann und durch welche Gremien des DLV eine Entscheidung über die Position des DLV in Bezug auf die Teilnahme neutraler Athleten und Athletinnen erfolgt ist. Mir liegen Hinweise vor, dass es einen derartigen Tagesordnungspunkt bei einer Präsidiumssitzung in jüngster Zeit nicht gegeben hat und ich habe auch von einem entsprechenden Protokoll über eine derartige Entscheidung keine Kenntnis. Im Übrigen bedarf mein Schreiben, das ich an Sie gerichtet habe, keiner weiteren „Konkretisierung“, wie Herr Böhnke eigenartiger Weise meint. 

Nach dem Erhalt Ihrer Antwort müsste jedoch vermutlich noch ergänzend gefragt werden, was der DLV denn gegen all jene Athletinnen und Athleten, die aus Diktaturen und autokratischen Nationen von ihren diktatorischen Regimen zu den Olympischen Spielen in Paris entsandt werden, zu unternehmen plant. Die große Mehrheit dieser Athletinnen und Athleten, so wie auch die große Mehrheit der deutschen Athletinnen und Athleten, sind Angehörige staatlicher Einrichtungen. Von Athletinnen und Athleten aus Diktaturen und „undemokratischen Sportsystemen“ kann nicht erwartet werden, dass sie sich öffentlich gegen die diktatorischen Verhältnisse in ihrem eigenen Lande stellen, was gleichbedeutend mit dem Ende ihrer sportlichen Karriere wäre. 

Es stellt sich außerdem die Frage, warum der DLV mit Russland und Belarus sich nur gegen einen Aggressor und eine diesen Aggressor unterstützende Nation stellt, die das Völkerrecht verletzen. Es ist ja mehr als offensichtlich, dass der Angriffskrieg Russland nicht nur von einer Nation unterstützt wird. Hinzukommt, dass der DLV bei all den gleichzeitig stattfindenden völkerrechtswidrigen Angriffskriegen, die derzeit zu beklagen sind, der DLV die Athleten und Athletinnen der angreifenden Nationen von vergleichbaren Sanktionen wie sie für die russischen Athleten gefordert werden, verschont. 

In diesem Zusammenhang könnte auch gefragt werden, wie Sie verhindern wollen, dass in der Deutschen Olympiamannschaft in Paris keine Athletinnen und Athleten angetroffen werden können, die insgeheim den terroristischen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine unterstützen. 

In Erwartung ihrer Antworten auf meine Fragen 

grüße ich Sie 

Helmut Digel 

 

4 Antwort des DLV-Präsidenten per E-Mail am 28. Juli 2023 

Lieber Helmut, 

ich möchte Dir heute auf Dein Schreiben antworten bezüglich dem Start von neutralen Athlet:innen bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris. Auf unserer letzten Mitgliederversammlung im Rahmen der Deutschen Meisterschaften in Kassel haben wir dieses Thema ebenso besprochen wie auf unserer Präsidiumssitzung im Vorfeld der Deutschen Meisterschaften. Dabei haben wir uns grundsätzlich was den Start von russischen und belarussischen Athelt:innen bei Olympia 2024 betrifft auf folgenden Beschluss bzw. folgendes Wording geeinigt: 

Wir haben uns intensiv mit der Bewertung der Teilnahme von russischen und belarussischen Athlet:innen befasst und stimmen sowohl mit der Haltung unseres Dachverbandes DOSB als auch mit der Haltung von World Athletics überein. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir uns keinen Start von russischen und belarussischen Athlet:innen bei internationalen Wettkämpfen vorstellen, solange es kriegerische Handlungen von Russland gegen die Ukraine gibt. Gleichzeitig lehnen wir einen Boykott von Seiten des DLV bei internationalen Wettkämpfen, insbesondere den Olympischen und Paralympischen Spielen in Paris 2024, aus  grundsätzlichen Erwägungen ab. Unsere Athlet:innen würden in einem solche Falle möglicherweise um ihre einzige Chance gebracht, ihren olympischen Traum zu leben und wären somit die Leittragenden. Bzgl. der Starterlaubnis bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris befürworte ich auch keine Lösung mit neutralen Athlet:innen, wie vom IOC empfohlen, da aus meiner Sicht eine Überprüfbarkeit von neutralen Athlet:innen sehr schwierig bis unmöglich ist und letztlich die grundsätzliche Problematik dadurch nicht gelöst wird. Sollte sich hier eine neue Situation ergeben, dass wir zusammen mit World Athletics oder auch dem DOSB die Situation neu bewerten, muss darüber neu befunden werden.
Ich hoffe ich konnte nun Deine Fragen zur Zufriedenheit beantworten und stehe jederzeit für ein persönliches Gespräch zu dieser zugegeben schwierigen Thematik zur Verfügung. 

Beste Grüße
Jürgen 

Jürgen Kessing
DLV-Präsident 

 

5. Abschließende Antwort von H. Digel am 1. August 2023                                                                                                     

Lieber Jürgen, 

vielen Dank für Deine Antwort. Ich habe mich gefreut, dass Du wieder zur Anrede in der 2. Person Singular zurückgefunden hast. Eigentlich habe ich nach einer Wartezeit von mehr als zwei Monaten mit einer Antwort nicht mehr gerechnet. Deine Antwort und damit auch die Deines Präsidiums ist allerdings sehr kurz ausgefallen und in ihr wird auch auf die von mir in meinem letzten Schreiben vorgetragenen Argumente und Informationen so gut wie gar nicht eingegangen.  

Viel mehr wiederholst Du noch einmal die Annahme, dass irgend jemand die Teilnahme russischer und belarussischer Athleten an den bevorstehenden Olympischen Spielen 2024 in Paris fordere. Doch diese Forderung gibt es weder vom IOC noch von irgendeiner anderen Organisation des Sports. Mir ist auch nicht bekannt, dass es derzeit diese Forderung von einzelnen verantwortlichen Personen im Bereich des Sports gibt. Sie wird lediglich von den Verantwortlichen des russischen Sports vorgetragen. Dieser Forderung wurde jedoch vom IOC entschieden widersprochen. Folgt man der Auffassung der IOC- Exekutive und deren Präsidenten, so geht es ausschließlich um die Behandlung von „unschuldigen neutralen Athleten“, die für den terroristischen Angriffskrieg Russlands keine Verantwortung haben und deren Unschuld und Nichtbeteiligung von einer unabhängigen Agentur überprüft sein muss, bevor sie eine Zulassung zu den Olympischen Spielen erhalten können. Gewiss ist diese Überprüfung nicht einfach. Doch ähnliche Schwierigkeiten bereitet auch die Überprüfung der von Deinem Verband unterstützten Maßnahme zur Zulassung von „neutralen russischen Athleten“ zu den Leichtathletik- Weltmeisterschaften in der jüngeren Vergangenheit. Nicht nur bei diesen Athleten gab es Fälle, bei denen bezweifelt wurde, dass die Athleten immer und konsequent die Anti- Dopingregeln der WADA eingehalten haben. Diese Art von Zweifel gibt es im Übrigen bei vielen Athletinnen und Athleten aus den unterschiedlichsten Ländern und Mitgliedsverbänden von World Athletics, ohne dass jemals vergleichbare Untersuchungen durchgeführt wurden wie dies in Russland zu Recht der Fall war. Mir ist nicht bekannt, dass der DLV entsprechende Anträge bei den Kongressen von World Athletics gestellt hat, dass vergleichbare Sanktionen gegenüber Mitgliedsverbänden ergriffen werden, in denen seit vielen Jahren überdurchschnittlich viele Dopingfälle zu beklagen waren und noch immer sind. Als drei Beispiele unter mehreren möchte ich lediglich die Mitgliedsverbände aus China, Indien und Kenia erwähnen. 

Die Zulassungen neutraler russischer Athleten gegen die kein Verdacht eines Dopingverstoßes vorlag, war meines Erachtens in jeder Hinsicht eine sinnvolle Maßnahme von World Athletics und sie sollte auch von uns allen unterstützt werden. Im Zentrum dieser Maßnahme steht die Unschuldsvermutung gegenüber den Athletinnen und Athleten und das Bemühen um die Sicherung des Fair Play Prinzips bei sportlichen Wettkämpfen. Auf diese Weise wurde und wird auch das Diskriminierungsverbot der UN- Menschenrechtskonvention beachtet und befolgt. 

Genau darum geht es dem IOC und dessen Präsidenten im hier zu diskutierenden Fall einer Teilnahme neutraler unschuldiger Athleten mit russischem und belarussischem Pass. Damit werden die in der Olympischen Charta vorgeschriebenen Regeln vom IOC und von Dr. Bach konsequent beachtet und es wird darüber hinaus das „Olympic Truce“- Gebot anerkannt, dem sich hoffentlich auch der DLV verpflichtet fühlt.   

In diesem Zusammenhang gestatte ich mir den Hinweis, dass im Mai d.J. die „G-7-Staaten“ ihre Unterstützung der IOC-Position in Form einer Erklärung auf ihrem Gipfel in Hiroshima bekundet haben. Auch die „Bewegung der Blockfreien Staaten“, der 120 der 193 UN-Mitgliedsstaaten angehören, hat dem IOC Anfang Juli ihre Unterstützung zugesagt (siehe: „Special Declaration of the Ministerial Meeting of the Coordinating Bureau of the Non-Aligned Movement on Olympic and Paralympic Games to be held in Paris in 2024“).    

Bei Deiner Argumentation berufst Du Dich dagegen weiterhin auf die „Haltung von World Athletics“ ebenso wie auf die „Haltung unseres Dachverbandes“, der seine „Haltung“- neben der Berücksichtigung der Meinung des Geschäftsführers des DOSB-Menschenrechtsbeirates, Dr. Joachim Rücker, – ausschließlich auf das Gutachten der Juristin Frau Prof. Dr. Dr. Patricia Wiater, ebenfalls Mitglied des „DOSB-Menschenrechtsbeirats“, stützt. Auf ein Gutachten also, das in Juristenkreisen durchaus auch kontrovers diskutiert wird.  

Auch von zwei Sonderberichterstatterinnen des UN-Menschenrechtsrates wird in einem Brief vom 14. September 2022 an den Präsidenten des IOC, Dr. Thomas Bach, das „Thema“ durchaus anders beurteilt, in dem sie darauf hinweisen, dass das universell gültige Menschenrecht auf Nicht- Diskriminierung unteilbar ist.    

Du weist in Deinem Brief darauf hin, dass der DLV einen Boykott der Olympischen Spiele in Paris 2024 ablehnen würde und Du schreibst ferner, dass in einem solchen Falle unsere Athletinnen und Athleten des DLV um ihre einzige Chance gebracht würden, ihren Olympischen Traum zu leben und sie damit die Leidtragenden wären. Auch hierzu möchte ich anmerken, dass es meines Erachtens diese Forderung aus Kreisen des Sports bis heute von niemand gegeben hat und die Ablehnung eines Boykotts von internationalen Sportveranstaltungen für jeden Olympischen Fachverband und dessen Mitgliedern eine Selbstverständlichkeit sein müsste. Die olympische Charta schreibt dies übrigens auch vor. Wenn eine Boykottforderung von Politikern erhoben wurde, so müsste man vom DLV erwarten, dass er diese Forderung in aller Entschiedenheit zurückweist. Dies gilt im Übrigen für alle weiteren skandalösen Formen der Einmischung der staatlichen Politik in Deutschland, insbesondere für die mehrmalige Einmischung der derzeitigen Bundesinnenministerin, gegenüber der im Grundgesetz festgelegten Autonomie des organisierten Sports. 

Zu Deinem Hinweis auf die mögliche Benachteiligung deutscher Athletinnen und Athleten muss außerdem angemerkt werden, dass dies auch für den Ausschluss „unschuldiger neutraler Athleten und Athletinnen mit russischem Pass“ gilt. Das Prinzip des Fair Play und der menschenrechtlich gesicherte Anspruch auf Nicht- Diskriminierung sollte meines Erachtens unteilbar sein. 

Dein Antwortschreiben legt für mich die Annahme nahe, dass damit unsere Korrespondenz über die Teilnahme unschuldiger neutraler Athletinnen und Athleten mit russischem und belarussischem Pass zu beenden ist. Diese Annahme wird von mir geteilt.  

Mit freundlichem Gruß  

Helmut 

 

PS.: In Deinem Schreiben wechselst Du von der 1. Person, Plural im zweiten Teil Deiner Antwort auf die 1. Person, Singular. Gehe ich richtig in der Annahme, dass auch der zweite Teil mit Deinem Präsidium und Deinen Verbandsgremien abgestimmt wurde?
In beiden Briefen verwendest Du zum einen den „Gender- Stern“ und zum anderen den „Gender- Doppelpunkt“. Gemäß dem „Rat für deutsche Rechtschreibung“ gehören der „Gender – Stern“ oder andere „Gender – Zeichen“ weiterhin nicht zum Kernbereich der deutschen Orthographie (Juli/ 2023). Gibt es eine Präsidiumsentscheidung zu „Gender Regeln“ für die offizielle DLV- Korrespondenz?