Sie nennen es Sport

Ein Mensch lässt sich von einem Ballon in eine Höhe von 39 Kilometern tragen und springt im freien Fall zurück auf die Erde. Bei seinem Fall durchbricht er die Schallmauer und nicht zuletzt deshalb wird seine Handlung als etwas Einmaliges gedeutet. Nahezu die gesamte Welt ist bei diesem Spektakel dabei. Mit einer Zahl, die sich durch viele Nullen ausweist, könnte die genaue Zahl der Menschen benannt werden, die im Internet in den unterschiedlichsten sozialen Medien, in einem Spezialkanal des Sponsors oder vor nahezu allen sonstigen Bildschirmen dieser Welt das spektakuläre Ereignis verfolgt hat. Es gibt wohl keine Tageszeitung, in der nicht darüber berichtet wurde.

Interessant ist dabei allerdings, dass über dieses Ereignis meist an mehreren Stellen gleichzeitig in den Zeitungen berichtet wurde. Auf der Titelseite hatte das Spektakel Platz, weil es ein Spektakel war. Im Feuilleton setzten sich Philosophen¹, Soziologen und andere Wissenschaftler mit dem Phänomen des risikoreichen Sprunges auseinander. Im Wirtschaftsteil wurde die Marketingbedeutung des Ereignisses herausgestellt und die Marke erläutert, um die es bei diesem Ereignis im Grunde genommen gegangen ist. Schließlich wurde im Sportteil über das Event berichtet. In Tabellen und Grafiken wurde die besondere Leistung herausgestellt und erläutert. Der Verband der Fallschirmspringer gratulierte seinem angeblichen oder tatsächlichen Mitglied, wenngleich darauf hinzuweisen ist, dass der Springer von Beruf Hubschrauberpilot ist. Und nicht zuletzt sollte der neue Held zum UNESCO-Botschafter ernannt werden und somit also ein Vorbild für die Jugend sein. Die als außergewöhnliche sportliche Leistung bezeichnete Handlung wurde dabei in der „Sprache des Sports“ beschrieben. Jahrelanges Training, Überwindung von Rekorden, das Erreichen von neuen Weltrekorden, die körperliche und physische Leistung des Athleten – das alles wurde in einer Bewunderung dargestellt wie sie so typisch ist für die Sprache des Sports. Auffällig dabei war allerdings, dass weder im Feuilleton noch im Sportteil, weder im Hörfunk noch im Fernsehen, die Frage nach dem Sinn dieser Handlung gestellt wurde, wobei doch diese Frage auf vielfältige Weise gestellt werden kann. Sind für den Menschen im Allgemeinen und für den Menschen des sog. christlichen Abendlandes solche Handlungen überhaupt „erlaubt“? Was wird durch solche Handlungen zur Darstellung gebracht? Kann ein derartiger Sprung als Sport gedeutet werden? Hat diese Handlung einen Vorbildcharakter?

Bei dem Sprung aus 39 Kilometern Höhe hat ein Mensch ohne Zweifel sein Leben zur Disposition gestellt. Es bestand ein tödliches Risiko, das von dem Betroffenen freiwillig eingegangen wurde, wobei sich Freiwilligkeit oft auch dadurch auszeichnet, dass man selbst ein Getriebener ist und materielle und ideelle Motive bei solchen Handlungen wohl nur schwer auseinander zu halten sind. Die hier aufgeworfenen Fragen hätten ihre theoretische und spekulative Qualität dann sofort verloren, wenn der Absprung tödlich ausgegangen wäre. Dieselben Autoren, die die Tat des Einzelmenschen in ihrer Berichterstattung verherrlicht haben, hätten mit dem gleichen Impetus dessen Tat in Frage gestellt. Theologische Erörterungen, philosophisch-ethische Diskurse bis hin zu Forderungen an die Politik wären die Folge gewesen. Einhellig wäre der Sprung verurteilt worden, wobei es vielsagend ist, dass sich unter ökonomischen Gesichtspunkten und unter dem Aspekt des Marketings bei einem tödlichen Ausgang so gut wie nichts verändert hätte. Das Live-Ereignis hatte seinen besonderen Sinn immer auch darin gehabt, dass es tödlich ausgehen kann. Die tödliche Gefahr, das Risiko macht den eigentlichen Spannungswert dieses Events aus und so ist für den Unternehmer, der der Welt ein Produkt verkauft, das gewiss nicht lebensnotwendig ist, und das auf diese Weise zu einem Verkaufserfolg gelangt, der seinesgleichen sucht, die Frage des Ausgangs nur sekundär. Da die handelnde Person unmittelbar nach dem Sprung das Ende der Karriere bekannt gab, hätte ein tödlicher Ausgang zum gleichen Werbewert geführt, wie das von uns allen erwünschte Überleben des riskanten Springers.

Damit wird allerdings klar, dass es wohl kaum Sinn macht, bei dieser fragwürdigen Handlung von einer Handlung des Sports in der engeren Bedeutung des Begriffs „Sport“ zu sprechen. Schon gar nicht kann diese Handlung als Wettkampfsport bezeichnet werden und mit dem olympischen Sport hat sie nichts gemein. Für den olympischen Sport ist es nicht nur konstitutiv, dass für die olympischen Sportarten die Regeln schriftlich niedergelegt sind, nach denen die Sportarten zu spielen oder zu betreiben sind. Konstitutiv sind auch verbindliche Werte, wobei die Werte der Unversehrtheit und der Würde des Menschen höchste Priorität haben. Deshalb sind Formel 1 Rennen als Olympische Wettkämpfe nicht erwünscht. Gleiches gilt für viele weitere abenteuerliche großmotorische Aktivitäten bei denen die Akteure ihr Leben aufs Spiel setzen. Dabei müssen wir wohl erkennen und möglicherweise auch akzeptieren, dass der Begriff des Sports immer häufiger in Handlungsbereichen Anwendung findet, die es in früheren Zeiten eher selten oder gar nicht gegeben hat. Man spricht heute in diesem Zusammenhang von „Extremsportarten“. Als „Extremsport“ gelten dabei jene körperlichen Aktivitäten, bei denen den Menschen größte körperliche und geistige Anstrengungen abverlangt werden und bei denen diese Aktivitäten höchste technische und logistische Anforderungen an die Ausrüstung und die verwendeten Sportgeräte stellen. Der „Extremsportler“ sucht dabei bewusst Gefahren in der Natur auf. Er stürzt sich beispielsweise aus großen Höhen in die Tiefe oder er bezwingt die Natur in Form von riesigen Wellen oder starken Wasserstromschnellen. Den meisten „Extremsportlern“ geht es meist darum, ein besonderes emotionales Körpererlebnis zu verspüren. Je höher das Risiko, sich zu verletzten oder gar zu sterben, desto größer ist der Adrenalinschub. Deswegen werden Extremsportler auch häufig als „Adrenalinjunkies“ bezeichnet. Die Ausschüttung von Endorphinen kann Glücksgefühle hervorrufen aber auch zum übersehen von Warnsignalen führen. Allein der Gebrauch des Worts „Junkie“ verrät, dass es beim „Extremsport“ eine erhebliche Suchtgefahr gibt und Endorphine auch im pathologischen Sinne süchtig machen können. Vorreiter der meisten Extremsportarten sind dabei US-amerikanische Abenteurer, was auch zur Folge hat, dass die meisten „Extremsportarten“ englische Namen erhalten haben und von der ganzen Welt übernommen wurden. Dies gilt auch für den Begriff „X Sports“ und die zehn gefährlichsten „Extremsportarten“ können die angelsächsische Sprachdominanz ebenfalls verdeutlichen: Highlining, Wingsuit, Flying, Base – Jumping, Cliff Diving, Big Wave Surfing, Cave Diving, Ice Climbing und Freeclimbing können mit ihren Gefahren, die die Akteure beim Betreiben dieser Extremsportarten einzugehen haben, kaum noch übertroffen werden.

Bungee Jumping, Rafting, Fullcontact Boxing, Jetwing Fliegen, Downhill-Biking und Motorboat- Racing sind weitere motorische Aktivitäten, die die Semantik des traditionellen Sportbegriffs erheblich erweitert haben.

Die olympischen Werte werden bei diesen sog. „Sportabenteuern“ ebenso infrage gestellt wie bei dem hier beschriebenen spektakulären Sprung. Im Sinne eines Spektakels wird mit ihnen gespielt, was sich ethisch und moralisch eigentlich von selbst verbieten sollte. Dem Menschen sind Grenzen gesetzt. Diese zu beachten macht für uns nach wie vor sehr viel Sinn.

Einige Sportsoziologen sehen in den „Extremsportlern“ und deren „Extremsportarten“ ein Zeitphänomen einer Zivilgesellschaft, die in ihrem Sicherheitsdenken erstarrt ist, sich langweilt und in der die meisten Menschen unterfordert sind. Das Bild der „Wagnisszenen“, die im Extremsport anzutreffen sind, stellt sich uns allerdings höchst differenziert dar. Neben bloßer „Thrill – Suche“ auf der einen gibt es auf der anderen Seite durchaus auch anerkennungswerte Formen der „Sinnsuche“. Der persönliche Wertehorizont der einzelnen „Sportler“ und deren Verantwortungsbewusstsein, auch ihrer eigenen Gesundheit gegenüber, scheint dabei bedeutsamer zu sein als die bloßen Gegebenheiten der jeweiligen abenteuerlichen Körperaktivitäten, die ausgeübt werden.

Bei all diesen Beobachtungen müssen wir feststellen, dass die Grenzen, die sich die Menschen selbst gesetzt haben und die möglicherweise von ihren ehemals wirkungsvollen Glaubenssystemen geprägt wurden, sich verändern können und gleichermaßen einem Wandel unterliegen wie dies auch für die Wertestruktur der Menschen der Fall ist. Auch die ethisch moralischen Grenzen sind ganz offensichtlich in den vergangenen Jahrzehnten in der Welt der Freizeit einem Wandel unterworfen. Die Bedeutung, die die „Welt des Sports“ für die Menschen von heute besitzt, muss sich somit nicht notwendigerweise mit jener Sportwelt decken, die es vor Jahrzehnten in unserer Gesellschaft gegeben hat. Traditionalisten und „Sprachpuristen“ werden vermutlich in den nächsten Jahren immer häufiger erkennen müssen, dass ihr eigenes sportliches Weltbild nicht mehr trägt und dass der Sinn dessen, was man mit sportlichen Aktivitäten erreichen und erleben möchte sich ständig erweitert und verändert. Davon wird auch der olympische Sport betroffen sein und die aktuellen Diskussionen über das zukünftige Programm der Olympische Spiele machen dies bereits in aller Schärfe deutlich.

¹Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letzte Bearbeitung: 1.Mai 2022