Sexueller Missbrauch im Hochleistungssport

In jüngster Zeit wurden vermehrt Verbrechen des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen im Bereich des Hochleistungssports aufgedeckt. Der sexuelle Missbrauch im Hochleistungssport ist gewiss kein neues Phänomen. Es gibt ihn schon seit vielen Jahrzehnten so wie auch in unserer Gesellschaft das Phänomen der Pädophilie schon über Jahrhunderte bekannt und ganz offensichtlich nicht auszurotten ist. Was in diesen Tagen jedoch überraschen muss, ist das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen im Hochleistungssport und der unverantwortliche Umgang mit diesem Problem. Dies gilt gleichermaßen für alle Verantwortlichen in Gesellschaft, Politik und nicht zuletzt in den Organisationen des Sports.

Der Filmemacher Pierre- Emmanuel Luneau-Daurignac recherchierte zwei Jahre lang in fünf Ländern und deckte Fälle von Kindesmissbrauch im Spitzensport auf, die nicht als Ausnahmeerscheinungen betrachtet werden können, sondern die Schieflage des gesamten Systems des Hochleistungssports deutlich machen. Sexuelle Übergriffe auf junge Athleten und Athletinnen sind demnach längst keine Einzelfälle mehr. Das Phänomen des Kindesmissbrauchs im Spitzensport kennt keine Ländergrenzen. Lineau-Daurignac hat in seiner Dokumentation bei ARTE, (gesendet am 28.8.2020), Fälle in den USA, in England, Spanien, Deutschland, Brasilien und Südkorea dokumentiert. Der Profisport ist ebenso betroffen wie der Amateur Sport. Einzelsportarten sind ebenso von dieser Schande befleckt wie Teamsportarten. Sexueller Missbrauch im Hochleistungssport ist somit ein umfassendes Phänomen.

  • In mehreren wissenschaftlichen Studien konnte aufgezeigt werden, dass 14%, d.h. dass jeder siebte minderjährige Nachwuchssportler, gleich welchen Geschlechts, Opfer von sexuellen Übergriffen oder Missbrauch geworden ist.
  • 2016 wurden im englischen Fußball in mehr als 350 Vereinen 300 Täter aufgedeckt, die 350 Fußballspieler sexuell missbraucht hatten.
  • Nicht heterosexuelle Athleten gehören zu den bevorzugten Opfern. Bei Athleten die einer ethnischen Minderheit angehören, ist der Prozentsatz ebenfalls höher. Bei den Teilnehmern an internationalen Wettkämpfen erhöht sich der Prozentsatz der Missbrauchten auf 30%, d.h. im Hochleistungssport wird jeder dritte Athlet zum Opfer.
  • USA Swimming deckte über mehr als 20 Jahre einen umfassenden sexuellen Missbrauch innerhalb seines Verbandes. Über 590 Opfer werden dabei dokumentiert. Betroffen waren dabei nahezu sämtliche Nationaltrainer. Zur Vertuschung der Fälle schaffte der Verband eine eigenständige Institution um zu verhindern, dass Athletinnen und Athleten Anzeige bei der Polizei erstatten. Auf diese Weise kam es zu einer aktiven Behinderung der Justiz. Jeder missbrauchte Athlet wurde mit 100.000 $ entschädigt mit der Auflage keine Anzeige bei der Polizei zu erstatten. So wurden sämtliche pädophilen Trainer vom Verband aktiv gedeckt. Durch den Verband wurde eine aktive Aufklärung bewusst verhindert. Pädophile Trainer wurden sogar wissentlich vom Verband zum Trainer des Jahres gewählt. Dem erfolgreichsten Trainer von USA Swimming wurden allein 15 Opfer nachgewiesen ohne dass dies Konsequenzen hatte.

In der ARTE-Dokumentation kommen betroffene Opfer zu Wort. Jede geäußerte Stellungnahme ist dabei selbsterklärend für das dringend zu lösende Problem und fast alle Aussagen verdienen es, dass sie im Wortlaut widergegeben werden:

Fußballstar Paul Stewart: „Der Preis den ich für den Erfolg bezahlt habe war viel zu hoch“. „Manchmal kamen meine Eltern von der Arbeit nach Hause, als er sich gerade an mir vergangen hatte. Ich weinte und hatte die schwache Hoffnung, dass sie etwas vermuten würden. Aber er konnte sich immer herausreden und sagte Sachen wie der Junge weint, weil er meint es nicht zu schaffen. Er ist zu ehrgeizig. Dann verlor ich wieder den Mut.“

Eiskunstläuferin Sarah Arbitol: „Seit ein paar Tagen gelingt es mir es auszusprechen. Mit 14 wurde ich vergewaltigt. Ich wollte es im Verein ansprechen. Bin bis zum Präsidenten und bis zum Ministerium gegangen. Überall verschlossene Türen.“

Turnerin Gloria Viseras: „Dann verlies ich den lokalen Turnverein und wurde ins nationale Trainingszentrum aufgenommen. Da war ich 10 Jahre alt und die Arbeit mit diesem Trainer begann. Er war so nett und ein wirklich guter Turner. Wir waren sehr stolz, dass er uns trainierte. Doch dann passierten plötzlich seltsame Dinge. Das fing ganz langsam und unauffällig an. Er isolierte uns von der Außenwelt. Er verbot uns mit den Jungs in der Turnhalle zu reden. Dann redete er uns ein unsere Eltern seien schlechte Menschen. Er kontrollierte was wir aßen und wann wir schliefen. Er kontrollierte einfach alles. Dann begann er uns zu massieren. Er hat mich im Aufwärmraum vergewaltigt. Es war als sei nicht ich, sondern nur mein Körper präsent … Man sagt nichts, wenn man überzeugt ist, dass keiner einem glauben wird. Wer hätte einem kleinen Mädchen wie mir geglaubt. Ich fühlte mich schuldig für alles was geschah. Ich schämte mich. Ich dachte ich hätte es durch mein Aussehen provoziert. Und das hätte ich meinem Vater nie gesagt. Hätte mich einer gefragt hätte ich es abgestritten“.

Schwimmerin Karen Leach: “Welche Folgen hatte das also. Es hat meine Eltern umgebracht, meine Familie zerstört. Von meinem restlichen Leben ganz zu schweigen, von meinem Kampf zu leben und zu überleben. Mit dem zu leben, was er mir antat“.

Die erschütternden Aussagen von Athletinnen und Athleten können hier nur stellvertretend für den sexuellen Missbrauch im Hochleistungssport stehen, dessen Ausmaß ganz offensichtlich keine Grenzen hat. Die Suche nach Erklärungen hat längst begonnen. In diesem Beitrag können nur beispielhaft einige Erklärungsversuche benannt werden.

  • Das System des Sports ist eine geschlossene Welt. Solange es Geld und Medaillen regnet, kümmert es keinen, wenn in diesem System sexueller Missbrauch stattfindet.
  • Das Kind ist in einer extrem schwachen Position. Wenn es sich wehrt oder nicht mitmacht, so besteht die Gefahr, dass es sehr schnell aus dem System ausgeschlossen wird. Kinder tun alles, was von ihnen erwartet wird um im Team oder in der Trainingsgruppe zu verbleiben.
  • Opfer können über das Erlebte nicht sprechen, weil es nicht nur um ihren Traum, sondern auch um den Traum ihrer Eltern gegangen ist. Die Eltern bringen Opfer, sie opfern ihr Geld, ihren Urlaub, ihre Zeit. Vernachlässigen eventuell auch Geschwister. Denn das besondere Talent hat meist nur ein Kind und dem wird die gesamte Aufmerksamkeit geschenkt. Das Kind ist darin gefangen. Es darf die Eltern nicht enttäuschen. Sonst würde es alle Hoffnungen und Träume zerstören, die die Familie mit dem Kind verbindet.
  • Bei vielen Opfern ist es tatsächlich so, dass sie erst nach dem Tod ihrer Eltern fähig sind, über all das zu sprechen was sie erlebt haben.
  • In der Beziehung zwischen Trainer und kindlichem Athlet entsteht eine Situation der Vertrautheit, in der das Kind nicht mehr erkennen kann, wann die Grenzen überschritten werden. Die ganze Entwicklung, wie der Täter seine Autorität aufbaut, geht sehr langsam und schleichend, dass das Opfer es gar nicht merkt. Das Opfer wird zur Komplizin gemacht. Wenn ein Kind es nicht schafft nach dem ersten Mal zu berichten und sich Hilfe zu holen, dann steigt das Verantwortungsgefühl dafür und die Sorge, dass das Umfeld es nicht verstehen wird warum die Kinder so lange geschwiegen haben und umso schwieriger wird es darüber zu sprechen.
  • Eines ist klar und seit langem bekannt. Kinder sprechen nicht über sexuellen Missbrauch. Sie sind gefangen in dem allgemeinen gesellschaftlichen Schweigen, wenn es um sexuellen Kindesmissbrauch geht.
  • Wir sagen den Kindern nicht von klein auf welches welche Rechte sie haben. Würden wir dies tun, so könnten sie sich möglicherweise besser schützen.
  • Der Körper steht im Zentrum des Hochleistungssports. Er ist wie eine Maschine. Er ist für Sportler ein Werkzeug. Ich benutze ihn um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Wenn man seinen Körper, wie es im Hochleistungssport der Fall ist, zur Erreichung eines bestimmten Ziels instrumentell benützt, so stellt sich die Frage, was man anderen erlaubt mit diesem Körper zu tun, dass sie ihn dehnen und strecken und ihn in völlig unnatürlicher Weise behandeln, um die erhoffte Medaille zu gewinnen. Dazu müssen ich und mein Körper bereit sein. Im Sport lernt der Athlet sich unterzuordnen und seinen Körper benutzen zu lassen.
  • Für die Medien ist es der Athlet, der die Medaille gewinnt. Doch für die Sportverbände ist es der Trainer, der verantwortlich für den sportlichen Erfolg des Athleten und damit indirekt auch für den finanziellen Erfolg des Verbandes ist. Deswegen werden pädophile Trainer wissentlich von Verbänden gedeckt, solange diese Erfolge garantieren.
  • In vielen Verbänden hat man den Eindruck, dass man es mit sehr alten verkrusteten Strukturen zu tun hat. Meist ganz wenige ältere Männer regieren dabei einen Verein oder einen Verband und in diesem Verein oder Verband läuft dann alles wie diese kleine Gruppe von Männern es sich wünscht. Der Sport ist dabei wie die Katholische Kirche eine geschlossene Gesellschaft in der Pädophilie oft über Jahrzehnte wissentlich um des sportlichen Erfolges Willen toleriert wird.
  • Bei der Pädophilie verhält es sich ähnlich wie beim Dopingproblem. Ist man Mitglied der Sportfamilie so ist man nicht geneigt über das Problem öffentlich zu sprechen. Man möchte die eigenen Familienmitglieder schützen. Eine Aufklärung über die Probleme oder gar eine Lösung durch die Verbände zu erwarten ist deshalb nicht sinnvoll. Nur über unabhängige Eingriffe von außen lassen sich die Verbände kontrollieren und das Problem zumindest minimieren.

In jüngster Zeit wurden zahlreiche wissenschaftliche Studien zum sexuellen Missbrauch im Sport vorgestellt. Von den Verantwortlichen in den Sportorganisationen werden diese Studien jedoch nur ganz selten zur Kenntnis genommen. Die mit dem sexuellen Missbrauch verbundenen Probleme sind in den Sportorganisationen hinlänglich bekannt. Doch man kann nur höchst selten erkennen, dass man sich um eine Lösung des Problems bemüht. Dabei haben Experten genügend Vorschläge unterbreitet wie die Verbände des Sports das Problem bekämpfen könnten. Eine beispielhafte Auswahl soll hier erwähnt werden:

  • Jeder Verband hat eine Hotline einzurichten an die sich betroffene Kinder und Jugendliche wenden können, wenn sie von pädophilem Missbrauch betroffen sind. Dies wäre ein dringender erster Schritt.
  • In jedem Verband sollte ein Beauftragter berufen werden, der sich für das Problem zuständig fühlt und dem die Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Experten ermöglicht wird.
  • Es ist ein generelles Massageverbot für Trainer auszusprechen.
  • Jede unnötige Körperlichkeit sollte verboten sein.
  • Bei der Einstellung von Trainern müssen sind deren Führungszeugnisse zu überprüfen.
  • In der Trainerausbildung ist ein verpflichtender Curriculuminhalt zum Thema des sexuellen Missbrauchs zu behandeln.
  • Bei Reisen von Mannschaften mit Kindern und Jugendlichen müssen mindestens zwei Erwachsene die Athletinnen und Athleten begleiten.
  • Beim Duschen ist eine Trennung zwischen den Duschen der Erwachsenen und der Kinder zu beachten.

Grundsätzlich lässt sich das Problem mit zwei verschiedenen Maßnahmen bearbeiten. Zum einen bedarf es in den Sportorganisationen neuer Richtlinien, staatlicherseits einer verbesserten gesetzlichen Grundlage im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Es bedarf vor allem auch einer vermehrten und besseren Kontrolle der Finanzen der Verbände und finanzieller Sanktionen, wenn sich die Verbände nicht an die Vorgaben gegen den sexuellen Missbrauch halten. Zum anderen bedarf es vermehrt einer fundierten Aufklärung, einer Verbesserung der Ausbildung der Trainer, neuer Weiterbildungskonzepte und einer ständigen Schulung des notwendigen Präventionspersonals.

Sollten Verbände den Beschlüssen ihrer Dachorganisationen und deren Erklärungen zur Selbstverpflichtung und den staatlichen Vorgaben nicht folgen, so sind wirkungsvolle Sanktionen notwendig. Der Ausschluss der verantwortlichen Funktionäre und deren Bestrafung ist dabei zwingend erforderlich.

In dieser Hinsicht ist vor allem auch das IOC gefordert. Die von ihm erstellten Aufklärungsvideos, das Handbuch gegen sexuellen Missbrauch, die Fortbildungsmaßnahmen zu Gunsten der Verbände sind gewiss ein notwendiger und erster Schritt. Es stellt sich jedoch die Frage wie das IOC kontrolliert, dass seine Anweisungen befolgt werden und wie die internationalen Verbände und die Nationalen Olympischen Komitees die Maßnahmen bis hinein in ihre nationalen Mitgliedsorganisationen und Vereine nachhaltig verfolgen. Die Zusammenarbeit mit den Verbänden ist dabei notwendige Voraussetzung. Doch ebenso sind hierbei Sanktionen zwingend erforderlich. Wenn sich Nationale Olympische Komitees und die internationalen Sportverbände nicht an die verbindlichen Vorgaben im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch halten, so muss Ihnen jegliche finanzielle Unterstützung entzogen werden. Das IOC hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten sich engagiert für einen glaubwürdigen Kampf gegen Doping eingesetzt. Gleiches muss vom IOC im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch erwartet werden. Auf nationaler Ebene sind die nationalen Sportorganisationen gefordert. Auch sie sollten Sanktionen durchsetzen, wenn Vereine und nationale Verbände sich nicht an die Richtlinien und Gesetze gegen den sexuellen Missbrauch halten.

Verfasst: 05.09.2020