Über das, was Leichtathletik ist, was sie bedeutet, welche Möglichkeiten in ihr liegen, sind in ihrer mehr als 100jährigen Geschichte unendlich viele Bücher in allen Sprachen der Welt geschrieben worden. Ich selbst habe mich an der Kennzeichnung dieser Sportart beteiligt und habe die Bedeutung der Leichtathletik aus pädagogischer, soziologischer und gesellschaftspolitischer Sicht gekennzeichnet und habe dabei auch auf die Versäumnisse des Schulsports hingewiesen, die nicht erst seit heute aus der Sicht der Leichtathletik, zu beklagen sind. Laufen, Werfen und Springen in ihren spezifischen Ausformungen in der Sportart Leichtathletik sind bedeutsame Kulturmuster einer Sport- und Bewegungskultur, sie sind grundlegend für viele Sportarten und diese spezifisch ausgeprägten Muster ermöglichen vielen Menschen interessante Erfahrungen und hinterlassen nicht nur unter präventiv-gesundheitlichen Gesichtspunkten äußerst positive Wirkungen. So könnte die Bedeutung der Leichtathletik auf einen Nenner bringen. Setzt man diese positive Bedeutung der Leichtathletik voraus, so muss die aktuelle Situation dieser Sportart in der Schule überraschen. Die Schulsportart Leichtathletik befindet sich ohne Zweifel schon seit langem unter Legitimationsdruck, sie findet teilweise auf eine sehr fragwürdige Art in Sportunterrichtsstunden statt und betrachtet man den aktuell stattfindenden Sportunterricht so kann zumindest anhand einiger Beispiele verständnisvoll nachvollzogen werden, warum immer mehr Schüler mit dieser Art von Leichtathletik-Unterricht nur wenig positive Erfahrungen verknüpfen. Die Schulsportart Leichtathletik befindet sich schon seit längerer Zeit in einer Krise. Es ist keine spezifische Krise, vielmehr ist es die Krise des Schulsports und diese Krise wird bedingt durch eine Vielfalt von Faktoren. Wer heute mit Betroffenen über die Schulsportart Leichtathletik redet, wer sich für die Meinung der Sportlehrer interessiert, die Meinung der Schüler und Eltern erfragt, wer darüber hinaus auch das Urteil der Kollegen über ihre Sportlehrer-Kollegen und deren Sport mit beachtet, für den entsteht ein schillerndes Bild des Schulsports im allgemeinen und der Leichtathletik im speziellen. Da wird im Lehrer-Kollegium eines Gymnasiums mit einem Sport Profilfach den Sportlehrern die Kompetenz abgesprochen, in ihrem Sportunterricht propädeutisch wirksam zu sein. Der Sport – so wird behauptet – würde keinen Beitrag zur Studierfähigkeit erbringen. Der Leistungskurs wird nahezu übereinstimmend als viel zu einfach im Vergleich zu anderen Fächern beschrieben. Das wissenschaftspropädeutische Niveau in diesen Kursen beschränkt sich nur auf die technologische Fassette des Wettkampfsports, auf das Trainieren und Optimieren von Bewegungsabläufen und den Sportlehrern wird unterstellt, sie würden eine Sportwissenschaft auf dem Niveau des vergangenen Jahrhunderts vermitteln. Sportlehrer selbst weisen darauf hin, dass ihr zweites Fach ihnen sehr viel mehr bedeutet als das Unterrichtsfach Sport, dass ihre Vorbereitungszeiten für dieses zweite Fach weit umfangreicher sind, die Fortbildungsbereitschaft mancher Sportlehrer sei nur“ begrenzt vorhanden und das Selbststudium mit Fachliteratur würde bezogen auf die Anforderungen im Sportunterricht so gut wie nicht stattfinden. Sportlehrer weisen aber auch auf das schlechte Niveau der Schüler hin. Sie beklagen, dass ein systematisches Lehren und Lernen nicht stattfinden könne, weil längst der Sportunterricht zu einem Zeitgeistphänomen verkommen ist, bei dem Disziplin nachgeordnet ist, schneller Spaß im Vordergrund zu stehen habe, hingegen anstrengendes Üben und Trainieren nicht erwünscht sei. Andere Sportlehrer weisen darauf hin, dass angesichts der Erscheinungsformen des modernen Sports in unserer Massengesellschaft der Sportunterricht sich zwangsläufig in der Gefahr befindet, zur Karikatur seiner selbst zu werden. Ein Sportunterricht, der auf diesen gesellschaftlichen Sport vorbereiten soll, sei kaum legitimierbar und angesichts der Entartungen des Hochleistungssports müsse deshalb das Schulfach Sport vom modernen Sport abgetrennt werden, möglicherweise damit auch eine neue Bezeichnung, zumindest aber neue Inhalte und neue Vermittlungsformen erhalten. Für Eltern ist der Sportunterricht und damit auch die Leichtathletik in der Mehrheit etwas völlig Nachgeordnetes. Sie interessieren sich weder für die Ziele dieses Unterrichts noch für die Qualität und Durchführung. Wenn Sportunterricht ausfällt, so ist das etwas normales, löst selten oder gar nicht Proteste aus, Sportunterricht ist weder Thema beim Elternabend, noch bei den Lehrersprechstunden über Sport muss nicht gesprochen werden. Sportnoten sind allenfalls für jene Eltern bedeutsam, die selbst Sport betreiben. Aber auch hier ist eindeutig, dass ihnen die anderen Noten wichtiger sind. Ich kann mich selbst hier als Beispiel mit einbeziehen. Als mein Sohn mit seiner Eins im Sportzeugnis nachhause kam, gleichzeitig jedoch eine sehr schlechte Note in einem wichtigen Kernfach aufwies, sagte ich in meiner Betroffenheit: „Diese Eins nützt dir gar nichts, diese schlechte Note „in den Sprachen“ gefährdet jedoch deine Versetzung“. Einzelaussagen sollten nicht generalisiert werden, dennoch glaube ich, dass sie Zeigefunktion für das Problem haben, über das zu sprechen ist. Das Sprechen über den Sportunterricht und die Leichtathletik ist dabei von der Gefahr geprägt, dass wir äußerst pauschal über diese Phänomene sprechen und damit jenen Unrecht tun, die sich nach wie vor um die Qualität der Leichtathletik und des Schulsports bemühen und die auch entsprechende Erfolge aufzuweisen haben.
Die Leichtathletik wird ähnlich kritisch beurteilt. Schüler beklagen sich, dass schon zum zweiten Mal die Bundesjugendspiele in der Leichtathletik ausgefallen seien, sie vermuten, dass die Lehrer dazu keine Lust mehr hätten. Die Lehrer beklagen die schlechten motorischen Voraussetzungen ihrer Schüler, was es nahezu unmöglich machen würde, technische Disziplinen wie Speerwerfen, Diskus oder Hürdenlauf in der Schule überhaupt noch zu behandeln. Angesichts der Vielfalt der Ausbildungsinhalte im Lehrplan Sport für die Schulen kommt Leichtathletik nur noch zerstückelt vor, was ein systematisches Üben und ein Spezialisieren für die einzelnen Disziplinen nahezu unmöglich macht. Ist ein Schüler gut in der Leichtathletik so ist er deshalb gut, weil er außerhalb der Schule Leichtathletik betreibt, ist er schlecht in der Leichtathletik, so kann ihm in der Schule nicht geholfen werden. Schüler selbst empfinden das Üben in der Leichtathletik als öde, gelangweilt stehen sie in der Reihe, bis sie zum nächsten Versuch zugelassen ist, mehr als sechs Versuche finden in einer Sportunterrichtsstunde selten statt. Danach gehen die Schüler genauso gelangweilt von der Leichtathletik-Anlage, wie sie diese betreten haben. Betrachtet man die Ausführungen der Schüler, so z.B. beim Üben auf eine Abiturprüfung im Grundkurs Leichtathletik, so kommen die Ausführungen der Übungen akrobatischen Verrenkungen gleich, ihre Diskus-, Schleuder-, und Speerwürfe oder Hürdenläufe haben fast nichts gemein mit jenen Disziplinen, die den Unterrichtsinhalten den Namen gegeben haben. Beim Ausdauerlauf, bei den Mittel- und Langstrecken sind Schüler zu beobachten, die sich mit ihrem Übergewicht über eine Strecke quälen und gar nicht anders können, als dass Sie nach wenigen hundert Metern sich im Kampf gegen ihren eigenen Willen besiegen lassen.
Pauschale Urteile – so sagte ich – sind wenig hilfreich. Sie verhindern Einsicht und damit den Weg zur Lösung der Probleme. Die Probleme sind meist komplexer Natur und bedürfen deshalb auch nicht einfacher, sondern eher komplexer Lösungen. Rezepte für die Probleme des Schulsports gibt es nicht, schon gar nicht können es einfache Rezepte sein.
Werden Schüler und Lehrer über ihre Meinung zur Zufriedenheit mit der Leichtathletik als Schulsportart befragt, so ist aus der Sicht der Schüler die Leichtathletik keineswegs so problematisch, wie dies allgemein von außen, insbesondere von Offiziellen der Verbände, aber auch von Sportwissenschaflern gesehen wird. Dabei ist zu beachten, dass die Leichtathletik von Lehrern etwas anders gesehen wird, als von den Schülern. Ferner ist zu beachten, dass wir in der Einschätzung der Sportart Leichtathletik ein äußerst differenziertes Bild in der Schule beobachten können. Mädchen haben eine andere Einstellung zu dieser Sportart und ältere Schüler wiederum unterscheiden sich in Ihrer Meinung von jüngeren Schülern. Ebenso unterscheidet sich die Leichtathletik in der Realschule von der Leichtathletik im Gymnasium. Diese Befunde gelten nicht nur für die Leichtathletik, sie gelten im gleichen Maße für den Schulsport selbst. Was ist angesichts solcher Befunde zu wünschen. Eine Schlussfolgerung ist zunächst naheliegend. Ein Verzicht auf die Schulsport Leichtathletik kann angesichts der Schüler- und Lehrerinteressen kaum akzeptabel sein. Dass dies unter verbandspolitischen und gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten nicht akzeptabel wäre, brauche ich hier nicht zu erwähnen. Eine Reform der Sportart in der Schule ist jedoch ebenso unverzichtbar. Dies gilt für den Sportunterricht selbst und die dort behandelte Leichtathletik ebenso, wie für das schulische Wettkampfwesen mit seinen Leichtathletik-Veranstaltungen. Im Zentrum des Unterrichts muss eine spielbetonte Leichtathletik in ihren Grundformen des Werfens, Laufens und Springens stehen. Das Werfen, Laufen und Springen muss in seiner vorbereitenden Wirkung auf andere Sportarten, aber vor allem auch in Bezug auf die präventive Funktion systematisch gelehrt werden, wozu längere Lehrepochen erforderlich sind. Das Laufen, Werfen und Springen ist dabei auf das engste mit funktionellen gymnastischen Formen zu verknüpfen, ebenso sind rhythmische und musikalische Begleitungsformen zu beachten und sollten nicht nur bei besonderen Anlässen zur Anwendung kommen, sondern sich durch eine ständige unterstützende Begleitfunktion auszeichnen. Die eigentlichen Disziplinen der Leichtathletik haben in diesem Unterricht nur bedingt ihren Platz. In sie wird lediglich eingeführt, um jenen Schülern eine Vorstellung zu vermitteln, die bislang diese Disziplinen allein aus der Beobachtung haben kennenlernen können. In freiwilligen Arbeitsgemeinschaften sollten hingegen die leichtathletischen Disziplinen gemäß den Möglichkeiten der Schüler gelehrt und gelernt werden. Im Mittelpunkt dieser Arbeitsgemeinschaften hätte das systematische Üben, Korrigieren, Lehren, Lernen und Leisten zu stehen, dass dabei eine gewisse spielerische Komponente unter motorischen Gesichtspunkten zu beachten ist, sollte für einen Sportlehrer selbstverständlich sein. Eine entscheidende Veränderung sollte die Wettkampf-Leichtathletik erfahren. Die Bundesjugendspiele in ihrer jetzigen Form sind deshalb nicht tragfähig, weil sie nicht eingebunden sind in eine aktive, positiv bewertete schulische Lebenswelt. Finden Bundesjugendspiele in regulären Unterrichtsstunden statt unter Ausschluss der Öffentlichkeit, ohne Vorbereitung, so sind sie ein aufgesetztes schulisches Lernereignis, das wohl von jüngeren Schülern noch akzeptiert wird, aber auf Dauer wichtige Funktionen nicht erfüllen kann, die einem schulischen Wettkampfwesen zukommen müssen. Die Leichtathletik muss eingebunden sein in eine positive Schulkultur. Wenn Konzertaufführungen, Ausstellungen in der Schule oder ähnliches zum Renommee einer Schule beitragen können, so müssen es auch die schulischen Sportveranstaltungen können. In dieser Frage sind vor allem Schulleiter gefordert. An ihnen liegt es, ob der Schulsport und die Leichtathletik im speziellen vom Kollegium einer Schule akzeptiert werden. Es ist nicht einzusehen, warum nicht Bundesjugendspiele an einem freien Tag von allen Lehrern und Schülern gemeinsam veranstaltet werden und warum nicht auch dabei zumindest eine begrenzte Öffentlichkeit durch die Anwesenheit der Eltern entstehen kann. Die Inszenierung eines solchen Tages bedarf der Kreativität der Beteiligten. Dass dabei auch der leichtathletische Wettkampf verändert werden darf, sollte unbestritten sein. Eines ist dabei wichtig. Schülern gefällt es, sich mit anderen zu messen, es gefällt Ihnen, sich in Staffelläufen zu bewähren, Schülern gefällt es, auch einmal im Rampenlicht zu stehen. Der leistungsstarke Schüler im Sportunterricht sollte ebenso stolz auf seine Leistungen sein können, wie der leistungsstarke Schüler in Mathematik oder im Fremdsprachen-Unterricht. Wir sollten jedoch auch für Leistungs- und Erfolgserlebnisse für all jene Schüler sorgen, die sich nicht an objektivierbaren Maßstäben des Leistungssports orientieren können. Auch zugunsten der Anerkennung ihrer Leistungen bedarf es kreativer Präsentation und vor allem neuer Varianten des Wetteiferns. Mehrere Sportpädagogen haben auf diesem Gebiet unzählige gute Beispiele präsentiert. Sie laden zur Nachahmung ein, sollen aber auch Aufforderung sein, selbst, gemeinsam mit Schülern kreative Beispiele zu finden. All diese wünschenswerten Veränderungen werden jedoch kaum wahrscheinlich sein, wenn nicht die Sportlehrer selbst sich sehr viel mündiger in der weiteren Zukunft erweisen, als dies bislang der Fall war. Zur Mündigkeit des Sportlehrers gehört es, dass er seinen Beruf als einen akademischen Beruf versteht, in dem man sich der wissenschaftlichen Begleitung seines Faches versichert und in dem es auch darum geht, sein Fach unter gesellschaftspolitischen und pädagogischen Gesichtspunkten gegenüber den anderen Fächern zu legitimieren. Hierzu sind Auseinandersetzungen bei Lehrerversammlungen notwendig und erwünscht, hierzu ist eine Überzeugungsarbeit gegenüber Eltern erforderlich, vor allem ist aber auch notwendig, dass der Sportlehrer seinen Unterricht als 45Minuten-Unterricht in vergleichbarer Weise verantwortet wie jeden anderen Unterricht. Unterrichtsvorbereitung gehört dabei ebenso dazu wie eine systematische Auswertung des Unterrichts. Nicht weniger ist es erforderlich, dass das Fach in gewisser Weise einen ernsten Charakter bekommt. Schüler müssen begreifen, dass ihre Leistungen im Sportunterricht schulische Leistungen sind, die bewertet werden und der gute Schüler muss dabei ebenso belohnt werden, wie der schlechte Schüler durch eine schlechte Note das Signal erhält, dass er sich zu verbessern hat. Die Notenskala ist somit auszuschöpfen und die Rückmeldung gegenüber den Lernerfolgen der Schüler ist zu präzisieren. Ein Verband wie der Deutsche Leichtathletik-Verband sollte gegenüber der Schule nicht nur Forderungen stellen. Gewiss ist der Deutsche Leichtathletik-Verband auf den Schulsport angewiesen. Der Schulsport ist nach wie vor jener Bereich, in dem jedes Kind, jeder Jugendliche mit den Ideen des Sports, mit seinen Erscheinungsformen und Ausprägungen, vor allem aber mit seinen Sportarten konfrontiert wird, wo Schüler einen Einblick in die Welt des Sports erhalten. Positive Erfahrungen mit der Leichtathletik in der Schule machen es wahrscheinlicher und eher möglich, dass Kinder auch außerhalb der Schule Leichtathletik betreiben. Deswegen ist das Nachwuchsproblem eines Sportverbandes auf das engste mit der Qualität des Schulsportes zu verknüpfen und es kann davon ausgegangen werden, dass die problematische Entwicklung der Mitgliederzahlen bei Kindern und Jugendlichen nur dadurch positiv verändert werden kann, wenn sich in der weiteren Zukunft die Kooperation zwischen Schule und Leichtathletik-Vereinen bewährt. Dennoch, schulische Leichtathletik hat pädagogische Leichtathletik zu sein. Sie sollte nicht von den Leichtathletik-Verbänden diktiert werden und sollte auch nicht auf Ziele ausgerichtet sein, die pädagogisch nicht verantwortbar sein können. Schulische Leichtathletik kann keine Kaderschmiede für Verbands-Leichtathletik sein.
Besonders talentierte Kinder und Jugendliche bedürfen auch der gesonderten Betreuung und Unterstützung der Schulen, damit sie den langen Weg zum Hochleistungssport erfolgreich gehen können. Sportlehrer selbst sollten jedoch nicht an den sportlichen Erfolgen ihrer Schüler gemessen werden, sie haben einen pädagogischen Auftrag, der ganz gewiss nicht über Zentimeter, Sekunden oder Gramm kontrolliert werden darf. Eine pädagogisch fundierte Schulsportart Leichtathletik kann sich jedoch auch niemals ohne Bindung an die Leichtathletik außerhalb der Schule ereignen. Es kommt auf einen soliden Brückenbau an. Die Träger der Brücke sind dabei die Formen der Kommunikation, die zwischen Leichtathletik in der Schule und Leichtathletik außerhalb der Schule gefunden werden. Dialog, ständiger Erfahrungsaustausch, offene Kritik, gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen, gemeinsame Erfolge sind dabei die Begriffe für gelungene Kommunikation.
Letzte Überarbeitung: 13.07.2020