Im deutschen Hochleistungssport hatten in den letzten Jahren bereits mehrfach die Alarmglocken geläutet. Mit einer Agenturmeldung über eine Befragung deutscher Hochleistungssportler wurde beispielsweise eine Diskussion ausgelöst, die sich in ihrer Aufgeregtheit aber auch ihrer gleichzeitigen Hilflosigkeit kaum überbieten lässt. Kölner Sportsoziologen hatten mehr als 1.000 Kaderathleten über ihre soziale Lage befragt, in der sie sich derzeit befinden. Es handelte sich dabei um eine Befragung, wie sie überall in der Welt schon mehrfach durchgeführt wurde. Dabei wurden Fragen an Athleten gerichtet, die diese mehr oder weniger aufrichtig beantworten konnten, wobei die Verweigerung von Antworten immer üblicher geworden ist. Was dabei herauskam, waren Antworten auf konstruierte Fragen, die man wohlwollend als eine Annäherung an die Wirklichkeit bezeichnen kann. Die tatsächliche Situation, in der die Athleten leben und handeln, lässt sich auf diese Weise wohl kaum abbilden.
Die Rezeption der Ergebnisse hingegen spricht eine andere Sprache. Demnach müssen die Athleten mit wenig Geld ihren Lebensunterhalt bestreiten und haben dabei außergewöhnlich hohe Trainings- und Wettkampfbelastungen zu bestehen. Ihr Gesundheitsrisiko ist sehr hoch. Sechs Prozent gestehen, angeblich schon einmal gedopt zu haben und da viele die Antwort auf diese Frage verweigern, wird von einigen Experten auf eine Dopingquote unter deutschen Athleten von zirka 50 Prozent geschlossen. Das psychische Risiko der Athleten scheint im derzeitigen Hochleistungssport sehr hoch zu sein. Burn-Out-Symptome werden ebenso häufig benannt wie Zukunftsängste. An der Diskussion beteiligten sich Athleten, Trainer, Wissenschaftler und Funktionäre. Mehrheitlich wird versprochen, dass man nunmehr alles zu tun hat, um diesen Problemen entgegenzutreten.
Betrachtet man die Diskussion über die angeblich so alarmierenden Befunde der neuen Studie aus einer distanzierten Perspektive, so ist deren Oberflächlichkeit besonders auffällig. Vorschnelle Verallgemeinerungen sind die Folge und eine kritische Diskussion der Methode und eine Überprüfung der Reichweite der Untersuchung finden nicht statt. Vor allem tritt man nicht in eine vergleichende Betrachtung ein, um die Frage aufzuwerfen, ob sich die Entwicklung im Hochleistungssport im Sinne eines gefährlichen Totalisierungsprozesses verschärft hat oder ob es sich lediglich um eine Wiederholung alter Befunde handelt.
Bei aller berechtigten Kritik an dieser Diskussion darf allerdings nicht übersehen werden, dass diese deutsche Studie in die richtige Richtung weist. Es muss anerkannt werden, dass bei dieser Studie immerhin mehr als 1.000 Spitzensportler über ihre eigenen Probleme sprechen und dass sich uns dabei über einen indirekten Zugang ein Szenario unterschiedlicher Risiken zeigt, das als dramatisch zu bezeichnen ist. Dessen wiederholte Beschreibung kann durchaus notwendig und hilfreich sein.
Die Risiken, die heute im Hochleistungssport zu beobachten sind, sind vor allem jene Risiken, wie sie bereits vor Jahrzehnten in vielen Analysen und Studien zum Hochleistungssport beschrieben wurden.
Da ist zunächst das Gesundheitsrisiko, das für nahezu sämtliche olympische Sportarten konstitutiv ist, was dazu geführt hat, dass das Gesundheitsmotiv zur Legitimation des Hochleistungssports nur noch in ideologischen Proklamationen verwendet werden kann. Deshalb ist es auch äußerst fraglich, wenn die Verantwortlichen des internationalen Sports den Anti-Doping-Kampf mit dem Schutz der Gesundheit der Athleten begründen. Die Gefahr, dass das Training im Hochleistungssport, die vielen Wettkämpfe und die ständig wachsende Belastung der Athleten die Gesundheit gefährden, hat sich in den vergangenen Jahren erheblich vergrößert. Die Verletzungsrisiken sind in fast allen olympischen Sportarten offensichtlich. Der Umgang mit den Verletzungen ist äußerst nachlässig, von einem verantwortlichen Gesundheitsmanagement kann nur in wenigen Fällen des Hochleistungssports gesprochen werden. Die Gefahr, dass Athletinnen und Athleten nach ihrer sportlichen Karriere langfristige Folgeschäden aufweisen, ist nach wie vor gegeben. Diesbezügliche Befunde sind mehr als alarmierend. Lösungen für das Problem sind nicht in Sicht.
Neben der Gesundheit muss der Athlet sehr viel Geld und Zeit investieren, hat er eine erfolgreiche Leistungssportkarriere zum Ziel. Sein finanzielles Investitionsrisiko ist dabei außergewöhnlich hoch. Wer Leistungssport betreibt, der muss in vielen Sportarten sehr viel Eigenkapital einbringen, ohne dass absehbar ist, jemals eine Rendite dafür zu erhalten. Bereits im Kindesalter müssen Eltern in die Karriere des zukünftigen Athleten investieren. Für die meisten Athleten reichen die Einnahmen aus Antritts- und Erfolgsprämien gerade aus, um das nahezu tägliche Training, die Wettkämpfe und die damit verbundenen Reisen zu finanzieren. Kommen überraschende Verletzungen hinzu, die möglicherweise ein Karriereende auslösen, so können hohe Schulden die Folge sein. Eine finanzielle Absicherung für die Zeit nach der Karriere gelingt nur wenigen Hochleistungssportlern. Hochleistungssport ist in fast allen Sportarten ein berufliches Handeln auf Zeit, das auf das Hier und Jetzt ausgerichtet ist, und bei dem die Zeit danach so gut wie nicht im Blick ist. Die Organisatoren des Sports selbst fühlen sich für die Zeit danach nicht verantwortlich, deshalb kann es auch kaum überraschen, dass Athleten nach ihrem Karriereende nur im Ausnahmefall für die jeweiligen Sportverbände noch über eine relevante Bedeutung verfügen. Für die meisten Athleten folgt nach ihrer Verabschiedung aus einer Nationalmannschaft das allgemeine Vergessen. Sie sind mit ihren Nöten auf sich alleine gestellt. Von einer sozialen Absicherung kann nicht die Rede sein.
Der zweite Risikokomplex ist eng verbunden mit einem Dritten, der auf die Probleme verweist, die dadurch entstehen, dass Athleten heute in ihrer Leistungssportkarriere Anforderungen gerecht werden müssen, durch die ihre gesamte Persönlichkeit gefordert ist. Hochleistungssport betreiben heißt, sich einer Sache voll und ganz verpflichtet fühlen, sehr viel Zeit für dieses Handeln aufzubringen, sich in einem engen begrenzten Handlungsfeld zu bewegen und sich mit einem Tunnelblick auf die höchsten Ziele auszurichten. Die soziale Integration der Athletinnen und Athleten in verschiedene Lebenswelten ist deshalb in der Regel sehr begrenzt. Hochleistungssport findet in der Lebenswelt des Hochleistungssports statt und die soziale Bindung bezieht sich auf die Menschen, die sich in diesem Handlungsfeld bewegen. Fällt der Athlet aus diesem Feld heraus, so ist er mit Bindungslosigkeit konfrontiert. Er ist auf sich alleine gestellt, die Handlungskompetenz reicht nicht aus, um Anschluss in anderen Handlungsfeldern zu finden.
Das Risiko der unzureichenden sozialen Bindung hängt mit den Ansprüchen zusammen, die das System des Hochleistungssports heute an die Athleten richtet. Der finnische Soziologe Heinilä hat in diesem Zusammenhang von einem Totalisierungsprozess des Hochleistungssports gesprochen, in dem sich dieser befindet, was so viel bedeutet, dass der Mensch in diesem System jeweils total in Anspruch genommen wird. Das heißt, andere Welten sind für ihn nicht mehr erschließbar. In diesem Zusammenhang muss deshalb durchaus von einem Bildungsrisiko gesprochen werden, das mittlerweile im Hochleistungssport entstanden ist. Wenn Trainer, Funktionäre und die übrige Umwelt des Athleten diesem nahe legen, sich voll und ganz auf den Hochleistungssport zu konzentrieren, nichts anderes zu tun als das anspruchsvolle Ziel des olympischen Sieges zu verfolgen, so darf man sich nicht wundern, dass die Bildungs- und Erziehungskarrieren der Athletinnen und Athleten immer kürzer werden, dass ihre Bildung einseitig ist, von einer umfassenden Allgemeinbildung schon gar nicht mehr gesprochen werden kann und anderweitige kulturelle Interessen bei Hochleistungssportlern eher zur Ausnahme geworden sind, als das sie regelmäßig angetroffen werden können. Wer täglich zu trainieren hat und dies mehrere Stunden am Tag, wer sich nur noch unter seinesgleichen bewegt, wessen Freundeskreis zwangsläufig begrenzt sein muss, wer seine Freizeitinteressen einzugrenzen hat und dessen Freizeit allenfalls zur Kompensation der Belastungen beitragen kann, dessen Persönlichkeitsentwicklung ist notwendigerweise problematisch und begrenzt, wenn ihm nicht außergewöhnliche Hilfen bereitgestellt werden.
Die Beschreibung von Risiken im Hochleistungssport könnte fortgeführt werden. Was diesen Risiken gemeinsam ist, ist der Sachverhalt, dass die Athleten heute mit diesen Risiken konfrontiert sind, ohne dabei eine angemessene Hilfe zur Bewältigung und zur Minderung dieser Risiken zu erhalten. Auf diese Weise ist der gesamte Hochleistungssport für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zum Risiko geworden. Es darf nicht überraschen, dass sich immer mehr Menschen gegen den Hochleistungssport aussprechen, immer mehr junge Athleten ihre Karrieren beenden und immer mehr Eltern bemüht sind, ihre Kinder von einer derartig gefährlichen Karriere fernzuhalten. Die Risiken, die Kinder und Jugendliche im Hochleistungssport antreffen, gefährden die zukünftige Entwicklung des Hochleistungssports in grundsätzlicher Weise. Werden sich die Verantwortlichen dieser Risiken nicht annehmen, wird es zukünftig keine soziale Absicherung für die Athleten geben, wird der Wettkampfkalender durch die Funktionäre nicht bereinigt, werden die Trainingsbelastungen nicht zurückgenommen, wird eine wirkliche Doppelkarriere für die Athleten durch entsprechende Betreuungsmaßnahmen nicht ermöglicht, werden die finanziellen Hilfen zugunsten aller Athleten, und zwar nicht nur zugunsten der erfolgreichen Athleten, nicht ausgebaut und wird dem Athleten nicht geholfen, dass er sich umfassend bilden kann, so hat der Hochleistungssport keine verantwortbare Zukunft aufzuweisen. Seine kulturelle Bedeutung ist heute vielmehr in hohem Maße gefährdet.
letzte Überarbeitung: 27.03.2018
Erstveröffentlichung: Digel, H. (2014). Gefährdeter Sport. Schorndorf: Hofmann.