München 1972 – eine Vision wurde Realität – ich war gerade 28 Jahre alt geworden, war Assistent bei Ommo Grupe – einem engen Vertrauten von Willi Daume – und ich durfte am Internationalen Olympischen Wissenschaftskongress aus Anlass der Olympischen Spiele teilnehmen. München war für mich in diesen Tagen die schönste Stadt der Welt. Allein die Ocker- und Blautöne der olympischen Fahnen spiegelten ein weltoffenes neues Deutschland wieder, sie waren überall in der Stadt anzutreffen. Die ganze Stadt war zu einem Botschafter für etwas Neues geworden.
Das Olympiastadion – ein architektonisches Kunstwerk ganz besonderer Art – fand weltweite Bewunderung. Herausragende Künstler aus allen Ländern der Welt begleiteten die Olympischen Spiele. Willi Daumes Traum war wahr geworden. Nach der nationalsozialistischen Katastrophe und nach dem Zweiten Weltkrieg sollte sich Deutschland der Welt mit einer neuen Identität präsentieren. Demokratisch, liberal, weltoffen und gastfreundlich. Der Grund, warum sich München um die Olympischen Spiele beworben hatte, war somit offensichtlich und für jeden Deutschen nachvollziehbar.
Im Dezember 2014 hatte sich der DOSB mit seinem Präsidium dazu entschieden, dass man sich um die Ausrichtung der Olympischen Spiele im Jahr 2024 bewerben möchte. Die Frage, warum Deutschland Olympische Spiele im Jahr 2024 haben möchte, wurde dabei aber weder gestellt noch beantwortet. Dass eine der größten Marktwirtschaften der Welt Olympische Spiele ausrichten kann und dies auch möglicherweise als Auftrag zu verstehen hat, ist nachvollziehbar. Dass Deutschland sich als Organisator großer Sportereignisse bewährt hat, war und ist sicher ein gutes Argument. Ob die besten Athleten Deutschlands einmal auch vom Heimvorteil profitieren sollten, kann erwünscht sein, wenngleich die Athleten selbst Olympische Spiele in einem fernen Land und einer ihnen fremden Kultur als interessanter und wünschenswerter empfinden. Die Frage nach dem Grund für die Ausrichtung Olympischer Spiele, die Frage nach dem „Reason Why“ blieb bei solchen Argumentationen jedoch unbeantwortet. Dabei ist diese Frage für das IOC durchaus zentral. Betrachtet man die jüngsten Entscheidungen bei der Vergabe Olympischer Spiele, so war diese Frage nicht selten sogar ausschlaggebend.
Zur gleichen Zeit als Hamburg sich um eine erfolgreiche Bewerbung bemühte, wunderten sich manche Sportexperten, warum sich Peking, die erfolgreiche Ausrichterstadt der Olympischen Sommerspiele 2008, wenige Jahre danach um die Olympischen Winterspiele bewirbt. Naheliegender wäre gewesen, dass in China, in einem Land in dem der Wintersport eigentlich nicht zu Hause ist, erneut eine Bewerbung für Sommerspiele vorbereitet wird. Und würde Shanghai – eine der attraktivsten Städte der Welt – sich für Olympische Sommerspiele bewerben, so wäre ein Erfolg gewiss garantiert. Nahezu sämtliche Sportstätten existieren bereits in höchster Qualität. Der Bau neuer Sportstätten wäre ökonomisch kaum ein Risiko und infrastrukturell ist die Metropolregion Shanghai bestens erschlossen. China hat sich jedoch für eine Winterbewerbung ausgesprochen und die Gründe hierfür sind durchaus bemerkenswert. China wollte erneut einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Olympischen Bewegung in China und in der Welt leisten, so wie dies auch 2008 der Fall war. Der Wintersport soll mittels der Spiele für China aktiv entwickelt und erschlossen werden und der Nordosten, eine relativ arme Region Chinas mit der Stadt Zhangjiakou, die bislang von vielen Mängeln und großer sozialer Ungleichheit geprägt ist, soll infrastrukturell völlig neue Möglichkeiten erhalten. Olympische Spiele dienen somit einem sinnvollen politischen Zweck, leisten einen relevanten Beitrag zur Regionalentwicklung und ermöglichen einer wenig entwickelten Provinz den Anschluss an die entwickelten Regionen Chinas zu erreichen. Präsident Xi Jinping hat sich zum Ziel gesetzt, die Kluft zwischen arm und reich in China zu reduzieren, den Luxuskonsum der neureichen Eliten in Frage zu stellen, Bescheidenheit zu lehren, plakative Großevents abzubauen und eine Vergeudung auf Staatskosten zu verhindern. Auch der Korruption wurde entschieden der Kampf angesagt. Pekings Bewerbung um Winterspiele macht somit Sinn. Die Frage nach dem „Reason Why“ wird von den Verantwortlichen Chinas sehr eindeutig beantwortet.
In Deutschland wurde hingegen der Traum von Olympischen Sommerspielen, die ja nicht nur für die Bevölkerung ein äußerst interessantes und zukunftsweisendes Projekt darstellen könnten, gleich zu Beginn der Bewerbungsentscheidung von vielen unnötigen Flecken besudelt. Wenn man nicht weiß, warum man sich für Olympische Spiele bewerben möchte, gibt es keine politische Steuerung der Bewerbung zugunsten einer Region oder einer Stadt, mit der man bestimmte Ziele erreichen möchte. Stattdessen überließ man es zunächst zwei Bewerberstädten, sich auf einen Konkurrenzkampf einzulassen, bei dem jeder den anderen zu überbieten versuchte. Am Ende war Hamburg wohl als Sieger hervorgegangen. Dies hatte aber zur Folge, dass Berlin als Verlierer das weitere gemeinsame Anliegen Olympischer Spiele in Deutschland eher mit einer naheliegenden Frustration begleitete. Dabei ist dies eine verständliche Reaktion, wie sie auch bei der aussichtslosen Bewerbung Leipzigs elf Jahre zuvor zu beobachten war. Damals ließ man gleich fünf Städte in einen selbstzerstörerischen Wettkampf eintreten, der die deutsche Bewerbung ab der ersten Stunde so geschwächt hatte, dass man nicht einmal die Endrunde erreichen konnte.
Aus den Fehlern von damals wurde ganz offensichtlich nicht gelernt. Bei Hamburgs durchaus gelungener Bewerbung, die im wahrsten Sinne des Wortes eine politische Angelegenheit war, mangelte es an jeglicher politischer Steuerung. Eine Verantwortung der Bundesregierung war nicht zu erkennen. Dabei hatten zunächst auch einige Fachverbände ihre Prioritätensetzungen ohne gründliche Reflexion unnötigerweise öffentlich gemacht. Die Präsidentin des Schwimm-Verbandes plapperte in aller Öffentlichkeit, dass sie sich für Berlin entscheiden möchte, weil hier bereits erfolgreich sportliche Großveranstaltungen ausgerichtet wurden. In der Leichtathletik wurde ein Präsidiumsbeschluss protokolliert, dass man zum damaligen Zeitpunkt Berlin bevorzugen würde. Die genannten oder nicht genannten Gründe machten eines klar – eine Diskussion über den Sinn zukünftiger Olympischer Spiele in Deutschland findet in den deutschen Sportorganisationen ganz offensichtlich nicht statt. Der Olympismus, so wie er von Pierre de Coubertin erwünscht war, ist längst zur bloßen Etikette verkommen. Für viele Verantwortliche im deutschen Sport sind Olympische Spiele lediglich ein kommerzielles Ereignis. Kosten-Nutzen-Kalkulationen sind ausschlaggebend. Die Frage nach dem warum, nach dem „Reason Why“, scheint überflüssig zu sein. Wenn das IOC über die Vergabe der nächsten Sommerspiele entscheiden wird, könnte sich dies allerdings auch rächen.
Wurde die Bewerbung Hamburgs dank vieler selbstverschuldeter Fehler für manchen Betroffenen zu einem Albtraum, so wird in diesen Tagen im Westen unserer Republik der Traum von deutschen Olympischen Sommerspielen erneut geträumt. Nach der jüngsten Vergabe der Spiele an Paris (2024) und Los Angeles (2028) könnten diese Spiele frühestens im Jahr 2032 in Deutschland stattfinden. Dieser Traum ist wünschenswert und grundsätzlich zu unterstützen. Soll dieser Traum gelebt und umgesetzt werden, so bedarf dies einer außergewöhnlich langfristigen Verantwortung und Verpflichtung. Ein Ereignis, dass erst in 15 bzw. 19 Jahren stattfinden wird (denn möglicherweise muss man sich zweimal bewerben), muss bereits heute politisch verantwortet und professionell geplant und umgesetzt werden. Dass mehrere Städte im größten Bundesland Deutschlands, in Nordrhein-Westfalen (NRW), gemeinsam diese Spiele visionär diskutieren und neue Ideen für nachhaltige und moderne Sommerspiele kreieren, ist mehr als förderungswürdig. Der Ideenaustausch hat gerade erst begonnen und jeder Mann und jede Frau ist eingeladen, sich daran zu beteiligen. Der Bewerbung wäre zu wünschen, dass sie von unserer parlamentarischen Demokratie getragen wird. Dabei wäre eine Volksabstimmung, die meist von Stimmungen, medialen Kampagnen, Verführungen und Gegenverführungen, von Demagogen und von nicht kalkulierbaren Tagesereignissen abhängen kann, der völlig falsche Weg. Auch eine Aufforderung an weitere Regionen und Städte, sich an einem innerdeutschen Bewerberwettbewerb zu beteiligen, wäre deshalb weder sinnvoll, noch zielführend. Wer seine Gründe für eine Bewerbung erst nach einer Einladung zur Bewerbung findet, dessen Bewerbungsrelevanz ist mehr als fraglich. Vielmehr benötigen die Nordrhein-Westfälischen Bewerberstädte, die Mut und bereits einige Gründe für ihre Bewerbungsabsicht vorgelegt haben, eine eindeutige, langfristig stabile politische und finanzielle Unterstützung der Bundesregierung. Die Bewerbung benötigt eine Mehrheit im Deutschen Bundestag und einen einstimmigen Beschluss der Mitgliederversammlung des DOSB und eine Führung durch das Kanzleramt und das Bundesministeriums des Inneren. Sie benötigt gewiss auch ein professionelles Bewerberteam, das bereit ist aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Den Verantwortlichen in NRW muss man aber auch wünschen, dass sie noch weitere überzeugende und tragfähige Gründe finden, die es dem Deutschen Bundestag nahelegen, diesen schönen und visionären Wunsch mehrheitlich zu unterstützen.
Letzte Überarbeitung: 28.09.2017
Erstveröffentlichung: Olympia in Deutschland – Traum oder Albtraum? In: Stuttgarter Nachrichten, 11.12.2014, Kolumne