Die Schweiz zeichnet sich schon seit vielen Jahren durch einen besonderen Qualitätsjournalismus aus, bei dem die Sportberichterstattung einen würdigen Platz einnimmt. In jüngster Zeit wurde dies gleich zweimal bestätigt. In der Basler Zeitung vom 15.09.2015 wird dem Breitensport der Spiegel vorgehalten und am 23.09.2015 fordert Mikeal Krogerus in der Neuen Zürcher Zeitung das Ende der Förderung des Spitzensports. „Minu“ (Hans-Peter Hammel) – der Autor des Basler Pamphlets erinnert an seine Schulzeit, in der er zwei Tage im Schuljahr hasste – den Wandertag und den Sporttag. Seiner Meinung nach macht heute alles ein riesen Theater um den Sport, es wird behauptet, er sei gesund und helfe den Menschen länger zu leben. Aber wollen wir das, fragt er? „Die lustige Oldie-Gruppe mit Fahrrad, Schildmütze (verkehrt herum) und 23 Schrittmachern. Ist es das, was wir uns kurz vor dem Grabstein ausmalen? Ein rankschlankes In-die-Grube-Sinken? Und Tramplätze sportlich für Schüler freihalten, die sich gestresst von all den SMS auf den Sitzen fläzen?“ Minu fehlt in unserer Gesellschaft die Würde des Alterns. „Jeder rennt bis zum letzten Atemzug in seinen Nikes herum. Alles schwitzt sich tropfend das Üble vom Ranzen. Und täglich ist Sportstag. So. In der Schule gabs so etwas wenigstens nur einmal im Jahr.“ Minu’s Erinnerungen an den Sporttag sind besonders negativ. Er hasst das Pferdehüpfen. „Dieses braune Hartlederungetüm auf den vier Stahlbeinen“ – das einzige unüberwindbare Hindernis in seinem jungen Leben. „Ich hockte davor wie der Teufel vor dem Weihwassergeschirr. Einmal, als die ganze Klasse ihre grösste Sportspfeife anfeuerte und unsereins, so getragen vom guten Willen aller, Anlauf nahm, da klatschte ich direkt an den Pferdebauch. Nur ein Mann weiß, was die Floskel „das geht mir zünftig an den Sack“ wirklich bedeuten kann. „Seit jenem Aufprall weiß ich es auch.“ Minu’s schwächste Disziplin und dennoch erfolgreichste war das Ballwerfen. Schüler aller Klassen schauten auf den Einsatzplan, wann er an der Reihe war, dann standen sie hinter ihm und schrien: „Hoooo… hooooo… hopppala!“ „So viel Spott hemmt jeden großen Wurf. Jedenfalls waren es im besten Fall 2,99 Meter. Unsere Klasse stöhnte auf: „Streichresultat“. Denn immerhin hatte es Sumo-Daniel auf 3 Meter 12 gebracht. Wir haben jedenfalls den Pokal nie abgeräumt.“
Ganz anders die Argumentation von Krogerus. In seinen Beobachtungen zum Hochleistungssport wurde er mit der Geschichte der Turnerin Ariella Kaeslin konfrontiert. „Ihr widerfuhr etwas, was man seinem ärgsten Feind nicht wünschen würde, nämlich die drei M: Megatalent, Magglingen, Magersucht.“ Ariella Kaeslin berichtet in einem Buch über ihre „Zeit als Kindersportlerin, von der endlosen Schinderei, den immergleichen Übungen, dem unfassbaren Druck.“ Ariella Kaeslin hat mittlerweile ihren Frieden mit der Sache gemacht. Kaeslin arbeitet nunmehr als Trainerin. „Die Härte, mit der sie ihren Schützling behandelt, erweckt den Eindruck, dass sich hier ein System wiederholt.“ Für Krogerus war die Lektüre des Buches ein besonderer Einschnitt in sein journalistisches Leben. Er verlor die Freude am Sportschauen. Grundlegende Fragen sind es bei ihm nunmehr, die ihn beschäftigen. „Wozu brauchen wir überhaupt Leistungssport? Weshalb diese fanatische Jugendsichtung, warum solch zerstörerische Frühförderung, wieso diese Überidentifikation – alles für ein paar Medaillen?“ Seine letzte Konsequenz ist radikal. Er meint, dass wir uns von der Spitzensportförderung verabschieden sollen. „Ich rede hier nicht von einem Ende der Breitensportförderung. Gott bewahre! Sport ist ein wichtiger sozialer und kultureller Bestandteil unserer Gesellschaft. Ich frage nur: Wäre es nicht ein interessantes Signal, wenn die Schweiz per sofort die Spitzenförderung einstellte? Und wäre es nicht ein wunderbares Ziel, 2020 an sämtlichen Weltmeisterschaften und in allen Sportdisziplinen medaillenfrei zu bleiben?“
Die Beobachtung von Minu und Krogerus haben es verdient, dass sie von allen Verantwortlichen in Sportorganisationen zur Kenntnis genommen werden. Wir müssen erkennen, dass diese Beobachtungen nicht nur für die kleine Schweiz gelten, sondern den gesamten organisierten Sport betreffen: Den Sport in der Schule, den Sport in Vereinen, den Sport der Spitzensportverbände, den olympischen Sport. Einerseits ist der Sport ganz offensichtlich nicht so offen gegenüber den Schwachen, wie er sich selbst in seinen ideologischen Äußerungen präsentiert. Das Gesundheitsideal, das im Sport verfolgt wird, gehört nicht weniger auf den Prüfstand als das Ideal der sportlichen Höchstleistung. Wer von dem erfolgreichen Altern durch Sport redet, der hat in den letzten Lebensjahren die wirklichen Probleme ganz offensichtlich nicht erkannt, mit denen alte Menschen in den modernen Gesellschaften konfrontiert sind. Wer Sport wie eine Gesundheitsdroge offeriert, der sollte sich die vielen gescheiterten Sportkarrieren etwas genauer betrachten. Sport kann ohne Zweifel vielen Suchtkranken eine Hilfe sein, er kann aber auch selbst zur Sucht werden. Sportunterricht kann soziales Lernen ermöglichen, Integration kann ein zentrales Ziel eines gelungenen Sportunterrichts sein. Diskriminierung und Ausgrenzung sind jedoch mindestens genauso häufig anzutreffen, wie das positive Gegenteil. Ob der Hochleistungssport, so wie er sich uns heute präsentiert, gesellschaftlich noch zu legitimieren ist, das ist mehr als eine berechtigte Frage, die durch den Beitrag von Krogerus aufgeworfen wird. Viele Erscheinungsformen des aktuellen Hochleistungssports waren und sind pädagogisch nicht tragfähig und lassen sich auf der Grundlage – welchen Menschenbildes auch immer – nicht legitimieren. Angesichts der Verfehlungen und der Manipulationen im internationalen Hochleistungssport stellt sich durchaus die Frage, ob es verantwortungsvoll ist, junge Menschen in diesen hineinzuführen, wenn am Ende der Karriere der gedopte Athlet steht. Warum sollen Steuermittel für einen Zirkussport aufgewendet werden, der aus sich selbst heraus zu einer Reinigung nicht in der Lage ist? Fragen, wie sie in diesen Tagen zu Recht aufgeworfen werden. Diese Fragen zu stellen ist die Aufgabe all jener, die Verantwortung im Sport übernommen haben.
Verfasst: 15.12.2015
Erstveröffentlichung: Nachdenkliches aus der Schweiz, das auch anderswo im organisierten Sport nachdenkenswert ist? Olympisches Feuer, Heft 01/2016, S. 26-27.