So wie demokratische Gesellschaften auf mündige Bürger angewiesen sind, so ist auch ein demokratischer Sport davon abhängig, welchen Grad an Mündigkeit seine Athleten erreicht haben. Die Frage, was man unter einem mündigen Athleten zu verstehen hat, ist allerdings keineswegs so einfach zu beantworten, wie uns dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Konsensfähig müsste es jedoch sein, dass man von einem mündigen Athleten erwarten kann, dass er seine Handlungen in der Welt des Sports absichtsvoll und rücksichtsvoll vollzieht, dass seinen Handlungen in der Welt des Sports Intentionen zu Grunde liegen und dass er bereit sein muss, sein eigenes Handeln gegenüber der Gemeinschaft zu verantworten. Ein mündiger Athlet versteht auch den Sinn, den die Regeln des Sports in den verschiedenen Sportarten haben, er weiß, dass sein eigenes Sporttreiben nur dann Sinn macht, wenn es sich auf der Grundlage der vereinbarten Regeln ereignet. Zur Mündigkeit eines Athleten müsste auch die Fähigkeit zur eigenen Interessensvertretung zählen, er müsste an der Mitbestimmung interessiert sein, wenn es um Belange geht, die ihn selbst betreffen. Er müsste auch Einfluss nehmen auf die Wahl der Funktionäre, die über sein eigenes Handeln befinden und zu wünschen wäre auch, dass er über sein Umfeld entscheidet, das im Wesentlichen seine sportlichen Handlungen begleitet und ermöglicht.
Betrachten wir den modernen Hochleistungssport so wie er sich uns heute zeigt, vor dem Hintergrund dieses Anforderungsprofils, so zeigt sich uns jedoch eine erschreckende Bilanz. Nicht zuletzt im Vergleich zu früheren Zeiten kann von mündigen Hochleistungssportlern nur noch ganz selten gesprochen werden. Selbst in jenen Sportarten, in denen der Hochleistungssport zur Profession geworden ist, ist man von einer Mitbestimmung der Athleten nach wie vor weit entfernt. Eine tragfähige Interessensvertretung der Bundesligafußballspieler scheint weder beabsichtigt noch gewollt zu sein. In vielen Olympischen Sportarten gibt es wohl die Athletensprecher, die teilweise auch mit Sitz und Stimme in den Präsidien der Verbände vertreten sind, doch deren Wahl kann man wohlwollend allenfalls als vordemokratisch bezeichnen. Jene, die gewählt sind, sind oft angepasste Athleten und Athletinnen, die eher auf eine bevorstehende Funktionärskarriere schielen, als dass sie selbst engagiert die Interessen der aktiven Athletinnen und Athleten vertreten. Gegenüber ihrem Präsidenten in den Verbänden sind sie eher devot und überprüft man ihre aktiven Impulse in den zurückliegenden Wahlperioden, dann wird die Irrelevanz ihrer Rolle in den Präsidien der deutschen Sportverbände sichtbar. Dass das Regelbewusstsein der Athletinnen und Athleten nicht besonders ausgeprägt ist, wird allein durch den Sachverhalt sichtbar, dass immer mehr Athleten bereit sind, das Fundament ihrer eigenen sportlichen Tätigkeit zu erschüttern. Das Ausmaß des Dopingbetruges spielt in diesem Zusammenhang eine erschreckende Sprache. Mündige Athleten, die sich engagiert für einen sauberen Sport einsetzen, sind in allen Sportarten rühmliche Ausnahmen. Viele Sportarten haben nicht einmal mehr diese Ausnahmen aufzuweisen. Gewiss gibt es nach wie vor viele saubere Athleten, doch viele von ihnen haben resigniert und nehmen offensichtlich in Kauf, dass der Sport mit dem Dopingbetrug zu leben hat. Wenn Athleten überhaupt an einer Interessensvertretung interessiert sind, so geht es dabei vorrangig um ökonomische Interessen. Dies ist durchaus positiv zu bewerten, denn auch die Durchsetzung ökonomischer Interessen kennzeichnet den mündigen Athleten in einer Welt des Hochleistungssports, die in erster Linie von der Ökonomie geprägt ist. Auffällig ist jedoch, dass auch hier meist nur eigennützige Diskussionen stattfinden, eine solidarische ökonomische Interessensvertretung findet selten statt. Dies gilt für die männliche Interessensvertretung gegenüber den Interessen der weiblichen Athleten, es gilt aber auch für die Interessensvertretung der starken Sportarten gegenüber den Schwachen.
Für den mündigen Athleten könnte man sich auch wünschen, dass er sich gesellschaftspolitisch engagiert, dass immer dann, wenn der Sport in seinen friedenspolitischen Möglichkeiten beeinträchtigt wird, die Stimme der Athleten zu hören ist, dass selbstlose Einsätze zu Gunsten jener Gruppen selbstverständlich sind, die man für die Sache des Sports gewinnen möchte. Doch auch diesbezüglich gibt es allenfalls nur wenige Ausnahmen von der Regel, die große Mehrheit der Athletinnen und Athleten ist sportpolitisch und gesellschaftspolitisch abstinent. Ihr Interesse gilt vorrangig der eigenen Leistung und den damit verbundenen ökonomischen Zielen.
1972 sprach der Finne Heinilä von der „Gefahr der Totalisierung des Hochleistungssports“. Diese Gefahr ist mittlerweile längst Realität geworden. Deshalb kann es kaum überraschen, dass zur Entlastung der Athletinnen und Athleten Argumente vorgetragen werden, die im Wesentlichen die Totalität des Hochleistungssports kennzeichnen. Der Hochleistungssport nimmt in den meisten Sportarten die Athletinnen und Athleten in einer Weise in Anspruch, dass für eine aktive Mitbestimmung und für ein sportpolitisches Engagement keine Zeit bleibt. Wer im Hochleistungssport erfolgreich sein möchte, der muss sich voll und ganz seiner Sache widmen, alle übrigen Interessen sind dem Spitzensport unterzuordnen. Die seit vielen Jahrzehnten erwünschte Doppelkarriere von Athleten ist in vielen Sportarten bereits utopisch geworden. Hochleistungssport oder höhere Bildung – so stellt sich die Frage. Denn beides miteinander zu vereinbaren ist kaum mehr möglich. Manche wenden auch ein, dass von den Athletinnen und Athleten nicht eine Mündigkeit gefordert werden kann, die selbst bei ihren Trainerinnen und Trainern nicht anzutreffen ist und die auch bei den Funktionären meist selten oder gar nicht praktiziert wird. In der Tat, auch Trainer sind weder an einer verlässlichen Mitbestimmung interessiert noch verfügen sie über eine solidarisch getragene Interessensvertretung. Auch Trainer nehmen hin, dass ihr Beruf von großer sozialer Ungleichheit geprägt ist und ohne Zweifel wäre im Kampf gegen Doping ein größerer Erfolg zu verzeichnen, wenn dieser Kampf von Trainern aktiv betrieben werden würde. Doch auch sie zeigen sich dem Problem eher resignativ, nur wenige haben begriffen, dass jede Manipulation der sportlichen Leistung mittels Medikamente eine Infragestellung des Berufs des Trainers bedeutet. Kaum anders stellt sich dies allerdings bei den Funktionären, bei den Sportärzten und in vielen Personengruppen dar, die das personelle Umfeld des Athleten ausmachen. Werden diese Personen mit dem Maßstab der Mündigkeit gemessen, so ist die Bilanz kaum positiver als bei den Athletinnen und bei den Athleten. Trotz all dieser einschränkenden und relativierenden Beobachtungen zur Mündigkeit der Athletinnen und Athleten bin ich jedoch der Meinung, dass gerade angesichts dieser Relativierungen die Lösung der aktuellen Krise des Hochleistungssports in der Mündigkeit von Athletinnen und Athleten zu suchen ist. Nur über mündige Athletinnen und Athleten kann der Sport seine kulturelle Qualität offenbaren, kann er seine Werte gegenüber der Gesellschaft auf positive, nachahmenswerte Weise demonstrieren, nur über den mündigen Athleten kommt die besondere ethische Qualität des Fairplay-Prinzips für unsere Gesellschaft zum Tragen. Damit Athletinnen und Athleten mündig werden können, dass sie sich nicht selbst entmündigen oder durch andere entmündigt werden, dürfen und müssen sich nicht die Athletinnen und Athleten dem bestehenden System des Sports anpassen. Notwendig ist vielmehr, dass der Sport dahingehend verändern wird, dass mündige Athleten zukünftig wieder möglich sind. Wenn es Athleten an Bildung mangelt, so muss dafür gesorgt werden, dass Bildung und Hochleistungssport miteinander zu vereinbaren sind. Wenn Athleten nicht über die notwendige Zeit für die Mitbestimmung verfügen, so ist die Wettkampfstruktur zurückzunehmen, die Häufigkeit der Wettkämpfe zu reduzieren, die Trainingspensen zu normalisieren. Der Sport bedarf ganz offensichtlich neuer Regelvereinbarungen. Die Regeln sind für die sporttreibenden Athletinnen und Athleten gemacht. Nicht die Athleten haben sich den Regeln anzupassen, es ist vielmehr die Aufgabe der Funktionäre, die Regeln den Bedürfnissen der Athletinnen und Athleten anzupassen. In der Wandelbarkeit der Regeln liegt die Humanität des Sports begründet. Regeln werden von Menschen gemacht, sie können von Menschen verändert werden. Soll zukünftig der mündige Athlet und die mündige Athletin im modernen Hochleistungssport eine Zukunft haben, so ist ein Regeländerungsprozess dringend vonnöten.
Verfasst: 11.03.2019