Die Idee der freiwilligen Vereinigung weist wohl in keinem anderen Bereich unserer Gesellschaft eine vergleichbare Erfolgsgeschichte auf, wie dies im Sport der Fall ist. Nachdem sich im frühen 19. Jahrhundert Gleichgesinnte in so genannten Turngesellschaften zusammengeschlossen hatten, war eine Entwicklung in Gang gebracht worden, die bis heute andauert. Menschen mit gleichen Interessen gründen einen Verein, und in keiner Organisationsform gelingt es besser, gleichartige Interessen auf dem Gebiet des Sports zugunsten von Mitgliedern zu befriedigen, wie dies im Verein der Fall ist. Das historische Modell des Turnvereins hat deshalb viele Nachahmer gefunden. Allein in der Zeit von 1950, als der Deutsche Sportbund gegründet wurde, bis heute konnte die Zahl der in Deutschland existierenden Vereine von ehemals 19.874 auf nahezu 90.000 Vereine anwachsen. Immer mehr Mitglieder sind den Vereinen beigetreten und so ist nicht nur ein Teil der Vereine langsam größer geworden, sondern die Gesamtmitgliederzahl jener Menschen, die sich in einem Verein über eine Mitgliedschaft einbinden lassen, ist im genannten Zeitraum von 6 auf 27 Millionen angewachsen.
Mit diesem Wachstum haben sich auch die Vereine verändert. Mancher Verein ist heute längst nicht mehr das, was er noch vor wenigen Jahrzehnten gewesen ist. Wären die Turn- und Sportvereine in ihrem Handeln nur auf die Interessen ihrer Mitglieder ausgerichtet, so wären die Vereine weder an einem Wachstum ihrer Mitgliederzahlen orientiert, noch müsste in ihnen eine Ausweitung ihrer Angebote notwendig sein. Ein Fußballverein könnte nach wie vor ein Fußballverein sein, in dem nur Gleichgesinnte Mitglieder sind, die gemeinsam Fußball spielen möchten. Doch die große Mehrzahl der Turn- und Sportvereine lässt sich in deren Entwicklung nicht nur von den Interessen der eigenen Mitglieder leiten. Die Vereine sind vielmehr in einen intensiven Austausch mit vielen relevanten Institutionen und Organisationen unserer Gesellschaft eingetreten, und so werden heute Aufgaben an die Vereine herangetragen, die mit der eigentlichen Idee eines Vereins nur wenig oder gar nichts zu tun haben. Aufgaben, die einstmals wie selbstverständlich Pflichtaufgaben des Staates gewesen sind, werden zunehmend delegiert, und die Vereine sind beliebte Adressaten für solche neuen Aufgabenstellungen. Prävention, Integration und Rehabilitation können die neuen Aufgabenstellungen lauten. Immer bedient sich der Staat dabei der freiwilligen Vereinigungen.
Die Strukturen der Vereine verändern sich aber auch mit den Problemlagen der Mitglieder selbst und mit der veränderten Altersstruktur, die die Mitglieder aufweisen. Mit den dabei neu entstehenden Interessen, die ergänzend oder an Stelle der alten Interessen getreten sind, verändert sich auch die Aufgabenstellung der Vereine und damit meistens auch die Angebote an die Mitglieder. So spielen Fußballspieler nach Beendigung ihrer aktiven Karriere Tennis in einer neu gegründeten Tennisabteilung, ehemalige Turnerinnen besuchen als ältere Hausfrauen eine Hausfrauengymnastik, und da auch Vereinsmitglieder Rückenprobleme haben, ist es naheliegend, dass man im Interesse der Mitglieder auch eine Rückensportgruppe eingerichtet hat. Vereine verändern sich somit aus sich selbst heraus über die artikulierten Interessen der Mitglieder, vor allem aber auch aufgrund von immer aggressiver an die Vereine herangetragenen gesellschaftspolitischen Anliegen, was ebenfalls neue Strukturen und neue Mitgliedschaften für die Vereine zur Folge hat. Auf diese Weise kommt es zu Mitgliedergewinnen, die oft sehr langfristig und stabil sein können, aber keineswegs ist dies immer der Fall. Einige der neuen Interessen, die an und in die Vereine heran- bzw. hineingetragen werden, können jedoch auch eine Gefahr bedeuten. Zumindest scheinen die dabei artikulierten Interessen nur bedingt den wirklichen Belangen einer verantwortungsvollen Vereinsarbeit zu entsprechen. Dies ist meist dann der Fall, wenn von außen versucht wird, die Geschicke des Vereins mit Macht oder mit Geld fremd zu bestimmen, wobei oft Macht und Geld auf das Engste miteinander einhergehen. In diesen Tagen lässt sich dies am Beispiel des Fußballs beobachten. Der Profi-Fußball bedient sich zwar nach wie vor der Idee des Vereins, wenngleich sich diese Vereine ganz wesentlich verändert haben. In einem Bundesligaverein hat deren Lizenzspielerabteilung längst den Charakter einer juristisch eigenständigen Institution, und in gewisser Weise haben diese Vereine und deren Bundesligamannschaften nur noch den Namen gemein. Wohl gibt es aus steuerlichen Gründen noch eine Mitgliederversammlung des Vereins, die das Parlament für die Fußballabteilung darstellt, und die Aufsichtsräte und Präsidien der Bundesligamannschaft sind nach wie vor gegenüber dieser Mitgliederversammlung rechenschaftspflichtig. Doch all dies geschieht vorrangig unter steuerlichen Maximen.
Diese formale Vereinsdemokratie ist in der Regel sehr tragfähig. Sie kann aber auch gewisse Gefahren in sich bergen. Will man im Lizenzfußball etwas beeinflussen, will man neue Konstellationen schaffen, so bedarf es der mehrheitlichen Unterstützung der Mitgliederversammlung. Einige Fans des Fußballs haben dies längst begriffen, und so versuchen sie sich bei entsprechenden Konflikten dieser Einrichtung zu bedienen. In einem Bundesligaverein war dies jüngst der Fall, als die Fußballfans den Trainer beschützen wollten, nachdem die Vereinsführung die Beendigung des Arbeitsverhältnisses beschlossen hatte. Dieser Beschluss wurde von den Fans scharf kritisiert, und sie suchten einen Weg, diese Entscheidung rückgängig zu machen. Der Weg führte aus naheliegenden Gründen in die Mitgliederversammlung. Mit der Macht des Volkes ist es in dieser Versammlung möglich, die Entscheidung des Vorstandes rückgängig zu machen. Damit es zu dieser Machtdemonstration des Volkes kommt, bedarf es jedoch einer Mehrheit. Im Beispielfall hätte dies nur dann erreicht werden können, wenn von außen möglichst viele Mitglieder in den Verein eintreten, die mit ihrem Eintritt nur ein Ziel verfolgen: die Mehrheit zugunsten des Trainers zu sichern.
Das Beispiel verweist auf einen kritischen Sachverhalt: Im Fußballsport treten immer häufiger Mitglieder in die Fußballvereine ein, deren Anliegen es weder ist, Fußball zu spielen, noch sich anderweitig sportlich aktiv in diesen Vereinen zu betätigen. Handelt es sich beim beschriebenen Beispiel um ein spezifisches Mitgliederwachstum, ausgelöst durch einen konkreten Fall, so kann in der Fußball-Bundesliga schon seit längerem ein enormes Mitgliederwachstum beobachtet werden, ohne dass sich dabei das Aktivitätspotential in den Vereinen selbst erhöht. Vereine wie der VfB Stuttgart wuchsen von 2004 bis 2005 um 37 %. Die höchste Zuwachsrate von über 60 % erreichte Werder Bremen im gleichen Jahr. Ein Verein wie Bayern München weist heute bereits mehr als 290.000 Mitglieder auf, wobei die große Mehrheit dieser Mitglieder lediglich passive Fans der Fußballszene darstellen und keineswegs nur aus München oder Bayern stammen. Allein die 18 Bundesligavereine haben durchschnittlich ein jährliches Wachstum von 60.000 Mitgliedern, ohne dass sich dadurch in den Vereinen – mit Ausnahme der erhöhten Einnahmen – strukturell etwas verändern würde.
Angesichts dieser Zahlen ist Vorsicht angebracht, wenn vom Wachstum des deutschen Sports die Rede ist. Es stellt sich sogar die Frage, ob sich die Mitgliederentwicklung möglicherweise in Bezug auf die aktiven Mitglieder in den Vereinen bereits rückläufig darstellt. Es könnte sein, dass uns die absoluten Zahlen einen Mitgliederzuwachs vorgaukeln, der sich angesichts der passiven Fußballfans nur als ein Scheinwachstum erweist. Glücklicherweise ist davon zunächst nur der Fußballsport betroffen. Doch es kann nicht ausgeschlossen werden, dass weitere Sportarten mit einer eigenständigen Fankultur eine ähnliche oder gleiche Entwicklung nehmen. Der im Fußball zu beobachtende neue Mitgliedertypus ist dabei keineswegs so harmlos, wie er auf den ersten Blick erscheint. Das erwähnte Beispiel zeigt die Wege auf, die diese neuen Mitglieder gehen können. Und es verweist auf Interessen, die in der üblichen Vereinsarbeit eigentlich eher als vereinsfremd zu bezeichnen sind. Mitgliederversammlungen, in denen dieser neue Typus von Vereinsmitglied die Mehrheit hat, haben diesen längst eine neue Qualität beschert, die für Massenmedien wohl spektakulär sein kann. Das, was eine wünschenswerte Vereinskultur auszeichnen soll, bleibt dabei jedoch oft genug auf der Strecke. Die Vereinsdemokratie hat sich immer öfter mit Problemen auseinanderzusetzen, die es zuvor in den Vereinen so noch nicht gegeben hat.
Die Frage, die sich dabei stellt, ist ob die bewährten demokratischen Prinzipien einer basisdemokratischen Vereinsarbeit über solche neuen Mitgliederstrukturen gefördert werden können oder ob diese Strukturen möglicherweise das Vereinswesen in seiner Substanz gefährden. Dies gilt vor allem für den Schutz der Gemeinnützigkeit. Es stellt sich aber auch die Frage, ob jene neuen Versammlungsstrukturen dem entsprechen, was die Väter des Grundgesetzes gemeint haben, als sie dem Verein als der Einübungsstätte demokratischer Werte einen besonderen Schutz gewährten, als der Verein als Makler und Mittler zwischen Individuum und Gesellschaft von den Gründern unserer Republik auserkoren wurde.
Letzte Überarbeitung: 22.02.2021