Laufen, Werfen, Springen – unverzichtbare pädagogische Inhalte der Grundschule

Laufen, Werfen und Springen können auf eine lange Tradition verweisen. Sie gehören zur Menschheitsgeschichte, sie hatten und haben in rituellen Ausformungen für viele menschliche Kulturen eine beson­dere Bedeutung. Sie waren in den frühen Hochkulturen, z.B. in der griechischen Kultur und der römischen Kultur die wichtigsten Bewegungsmuster, die auf vielfältige Weise instrumentalisiert wurden. Die gesundheitliche Bedeutung und vor allem die erzieherische Funktion dieser Muster wurden schon immer mit besonderem Nachdruck hervorgehoben. Seit es öffentliche Schulen gibt, seit Bildung und Erziehung von Philosophen und Pädagogen in systematischer Weise reflektiert wurden, wird dem Laufen, Werfen und Springen, insbesondere, wenn von einer ganzheitlichen Bildung die Rede ist, wenn von der besonderen Bedeutung einer leiblichen Erziehung gesprochen wird, eine herausragende pädagogische Wirkung zugewiesen. Es kann nicht überraschen, dass Jean Jaques Rousseau in seinem Erziehungsroman „Emile“ in direkter und indirekter Weise das Laufen, Werfen und Springen thematisiert, dass in den ersten Bildungskonzeptionen, insbesondere bei den Philanthropen diesen Grundmustern eine zentrale Funktion zugemessen wird, dass bei Gutsmuths in seinem ‚Spielalmanach‘ dem Wetteifern beim Laufen, Werfen und Springen ebenfalls eine wichtige Bedeutung zukommt und dass in allen weiteren schrift­lich niedergelegten Bildungskonzeptionen diese Tradition fortgeführt, verfeinert und mit weiteren empirischen Belegen gesichert wurde. Laufen, Werfen und Springen, so könnte also mit gutem Grund behauptet werden, haben das Merkmal des Elementaren. Sie kommen einem menschlichen Grundbedürfnis gleich. Dieses Bedürfnis von Kindern und Jugendlichen bedarf einer angemes­senen Befriedigung. Wird diese Befriedigung nicht gewährt, so kommt es zu Deprivationen, zu Mangelerscheinungen, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen wird retardiert, deren ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung wird beeinträchtigt.

Blickt man auf diese große Tradition des Laufens, Werfens und Springens, so muss es überraschen und größte Verwunderung hervorrufen, wenn man die heutige Situation in den Schulen betrachtet. Es hat wohl keine Periode in der Entwicklung der institutionellen Bildung und Erziehung gegeben, in der das Laufen, Werfen und Springen in einem solchen Ausmaß gefährdet war wie dies in den heutigen Tagen der Fall ist. Die Gefährdung ereignet sich dabei auf eine höchst komplexe Weise, was zur Folge hat, dass man nur noch mit äußerst komplexen Maßnahmen gegen diese Gefährdung angehen kann. Dies wiederum hat zur Folge, dass man sich meist angesichts der großen Herausforde­rung des Problems ohnmächtig der Gefährdung preisgibt. Was sind die beson­deren Merkmale der Gefährdung?

Da ist an erster Stelle unsere Gesellschaft mit ihren gesellschaftlichen Rah­menbedingungen zu nennen, in die Kinder und Jugendliche hineinwachsen. In gewisser Weise ist dabei in der Tat von einem Verschwinden der Kindheit zu sprechen, wenn man beobachtet, wie bedenkenlos die Erwachsenen die Kinder in ihre Lebenswelt integrieren und sie dabei ehemals angestammter kindlicher Erfahrungsräume berauben. Kinder leben im ökologischen Raum der Erwachsenen, allenfalls wird ihnen mit einem fragwürdigen Kinderzimmer eine Rückzugsnische geboten, bei der sie jedoch längst von der durch Erwachsene konstruierten Erfahrungswelt des Smartphones, des Computers und des Fernsehens eingeholt werden. Ansonsten benötigen Kinder Zeitpläne wie Erwachsene, müssen sich selbst disziplinieren, wollen sie erfolgreich sein, müssen sich präsentieren, wollen sie Anerkennung finden, müssen ökonomisch denken, wollen sie mit ihren Ressourcen sinnvoll haushalten und müssen konsumieren, wollen sie ein angemessener Faktor für die Volkswirtschaft sein. Das Leben der Kinder ist längst zu einem Leben mit Kalkül geworden. Kalkulieren die Kinder nicht selbst, so kalkulieren zumindest deren Eltern. Elternabende in Kindergärten und Grundschulen sind beispielhafte Orte, an denen diese Beobachtung gemacht werden kann.

Der ökologische Raum, in dem Kinder und Jugendliche aufwachsen, ist ein verbauter Raum, geprägt von einer Erwachsenenarchitektur, geprägt von einer Architektur der Industrie und des Verkehrs. Die mobile Erwachsenengesell­schaft lebt dabei vor, dass man seine Mobilität durch die Anwendung von Tech­nologien steigert. Schneller muss man fliegen, sportiv und schnell muss das Auto sein, schneller muss der Intercity werden, eine Einschienenbahn ist vonnöten, Schüler benötigen ein Bike mit noch mehr Gängen, ein Mofa, ein Motorrad und längst ist auch das Auto die anerkannte Belohnung für das erreichte Abitur. Für Kinder gibt es kleine Rennwagen, Go-Carts und Motor-Bikes. Es gibt kaum ein Freizeitzentrum, in dem nicht Väter der Überredungskunst ihrer Kinder unter­liegen und ihnen teure Formel-1-Träume ermöglichen.

Das technologische Zukunftsbild suggeriert den Kindern ebenso wie den Erwachsenen eine Welt, in der man seinen Computer nicht mehr zu verlassen hat, in der Computer-Shopping, Computer-Banking, Internet-Sex, Chatten und Bildtele­fonieren ebenso selbstverständlich sind, wie interaktives Fernsehen und Homediscomusic. Es ist eine Welt, in der idealtypisch auf jegliche Eigenmotorik des Menschen verzichtet werden könnte.

Gewiss werden Sie sagen, dies ist in weiter Ferne und die Alltagsmotorik ist noch zur Genüge geprägt durch das Gehen und nicht selten auch durch das Laufen. Doch allein dieser Hinweis macht deutlich, dass zumindest in dieser modernen Welt zwei wesentliche Bewegungsmuster, die eine große Tradition aufweisen, längst im Alltag verloren gegangen sind. Das Werfen und das Springen. Das dritte Muster, das Laufen, wird immer mehr in den Hintergrund gerückt, immer deutlicher als überflüssig ausgewiesen.

Stimmen meine Beobachtungen, so muss in der Tat der Sachverhalt Verwunderung, ja ich meine dringend auch Verärgerung hervorrufen, wenn Laufen, Werfen und Springen als bedeutsame erzieherische Elemente in den öffentlichen Schulen, insbesondere in der Grundschule, in den Klassen 1 bis 4, immer mehr gefährdet sind. Angesichts der technologischen Welt, die heute das Kind und den Jugendlichen prägt, ist es ohnehin höchst fraglich, wenn man mit zwei Stunden Sportunterricht pro Woche Kindern ein Korrektiv unterbreiten möchte, um zumindest unter kompensatorischen Gesichtspunkten einen gewissen Aus­gleich zur allgemeinen Gefährdung zu ermöglichen. Die eigentliche Gefährdung in den Grundschulen selbst ist jedoch darin zu sehen, dass die wenigen Stunden, die für das Laufen, Werfen und Springen zur Verfügung stehen könnten, mit immer mehr Inhalten, überfrachtet werden. Auf diese Weise kommt das Elementare zu kurz, kann seine bedeutsame Wirkung nicht mehr erreichen und wird nicht zuletzt aufgrund dieses Versagens in der Folgedis­kussion immer mehr in Frage gestellt. Betrachtet man die Reformdiskussion der vergangenen dreißig Jahre zur leiblichen Erziehung im Allgemeinen und zum Sportunterricht der Grundschulen im speziellen, so ist zu erkennen, dass insbe­sondere Pädagogen und Didaktiker die Inhaltspalette des Grundschulunter­richts ganz wesentlich erweitert haben, ohne die unbeabsichtigten Folgen einer derartigen Erweiterung auch nur annähernd zu reflektieren. Wie bei jedem Gefäß, das sich durch einen bestimmten Inhalt auszeichnet und der mit zu vie­len verschiedenartigen Flüssigkeiten vermengt wird, ist es auch im Sportun­terricht zu einem Gemisch gekommen, das zum einen die Gefahr in sich birgt, dass das Gefäß für dieses Gemisch zu klein ist und zum anderen eine Wirk­weise entstanden ist, in der sich einzelne Substanzen paralysieren, kontrapro­duktive Effekte möglich sind und sich zumindest einige Effekte gegenseitig neutralisieren. Es sei hier betont, dass die neu hinzugekommenen didaktischen Inhalte durchaus eine besondere didaktische Legitimation besitzen können. Angesichts der beschriebenen Situation, in der Kinder und Jugendliche heute leben, kann auf vielfältige Deprivationen verwiesen werden und so ist es nahe­liegend, dass Pädagogen auf einen Verlust der Sinnlichkeit verweisen, mangelnde Soziabilität beklagen, Kreativitätserziehung als dringend notwendig erachten und spezifische Erziehungsangebote fordern, die kindliche Aggres­sion und Gewalt hemmen bzw. verhindern. All diese Forderungen haben dazu geführt, dass man den Sportunterricht in der Grundschule für nahezu sämtliche kindlichen Deprivationen, denen potentiell Kinder ausgesetzt sein können, in Beschlag nimmt. Der Sportunterricht muss Bewegungsbaustelle sein, er soll sich durch musisch-ästhetische Erziehung auszeichnen, er soll der Ort sein, an dem die Kinder alle Sinne erproben können, die für Kinder aus anthropologischer Sicht möglich erscheinen, er soll den Anforderungen einer gelungenen Sexualerziehung standhalten und einige ewig Gestrige möchten, dass durch diesen Sportunterricht auch Kinder zum Leistungssport hingeführt werden. Manche Pädagogen unterstellen dabei den Fachverbänden, dass diese offen­sichtlich noch immer nicht begriffen haben, dass ihre Interessen in einem öffentlich zu verantwortenden Schulsport keine Berücksichtigung finden kön­nen, dass Sportartensport eine Angelegenheit der Vereine ist, schulische Lei­beserziehung hingegen völlig andere Aufgaben zu erfüllen hat.

Ich habe in meinen Ausführungen bis zum jetzigen Zeitpunkt ganz bewusst nicht vom Weitsprung, nicht vom Diskuswurf, nicht vom 800-m-Lauf oder von irgend sonst einer leichtathletischen Disziplin gesprochen. Vom Laufen, Werfen und Springen war vielmehr die Rede. Diese Gewichtung hat ihren guten Grund. Auch für Sportverbände sollte klar sein, dass leibliche Erziehung an öffentlichen Schulen nicht an Verbandsinter­essen orientiert werden darf. Leibliche Erziehung und Sportunterricht bedürfen vielmehr einer öffentlichen Legitimation, das didaktische Dreieck zwischen Gesellschaft, Schüler und Schule muss gerade in der Grundschule eine beson­dere Berücksichtigung finden. Die Leibeserziehung hat sich pädagogisch zu begründen und die Inhalte des Sportunterrichts an den Grund- und Hauptschulen ist an pädagogischen Zielen zu messen, die den Eltern offengelegt sind, die den Kindern begründet werden und die für die Entwicklung unserer aktuellen und zukünftigen Gesellschaft von humanitärer Bedeutung sind. Auf der Grundlage dieser Grundsatzposition sollten sich Sportverbände als Partner der Schule verstehen, die eingebunden ist in jene Gesellschaft, in der die Schule für deren leibliche Erziehung verantwortlich zeichnet. Das Verhältnis der Sportverbände zur Schule sollte dabei vor allem dadurch geprägt sein, dass sie sich als Partner verstehen, die Angebote unterbreiten aus einer gesellschaftspolitischen Gesamtverantwortung heraus. Sie sollten dabei durchaus zu respektieren wissen, dass Schule selbst autonom über die unterbreiteten Angebote verfügen sollte, was nicht mehr und nicht weniger heißt, dass die Angebote der Verbände abgelehnt, revidiert, überarbeitet, aber auch übernommen werden können. Eben in dieser Weise sollte z.B. das Angebot eines Kinder-Leichtathletik-Lehrplanes für die Grundschule verstanden werden, eben in dieser Weise sollten die vielen Publikationen des Deutschen Leichtathletik-Verbandes zur pädagogischen Konzeptionierung der Leichtathletik verstanden werden und eben in dieser Weise sollten die Lehrer-Fortbildungsmaßnahmen, die für Grund- und Hauptschullehrer offerieren werden, verstanden werden.

Beobachten wir die Kinder in ihrem alltäglichen Leben, in ihrer Freizeit, in ihrer äußerst begrenzt zur Verfügung stehenden Spiel- und Bewegungswelt, beobachten wir sie aber auch in der Leibeserziehung und im Sportunterricht der Schule, so können wir erkennen, dass Kinder, wenn sie laufen, werfen und springen, sich nahezu wie selbstverständlich an bestimmten, selbst gesetzten Gütemaßstäben oder von außen vorgegebenen Gütemaßstäben orientieren. Kinder finden zum Wetteifer auf eine äußerst natürliche Weise. Gewiss wird auch dieser Wetteifer kulturell durch die Erwachsenenwelt geprägt. In gewisser Weise ist es schon immer determiniert, doch wäre es meines Erachtens päd­agogisch fatal, würde man nur aufgrund dieser Begründung das Phänomen des Wetteifers als pädagogisch hilfreiches Medium ablehnen. Im Gegenteil! Gerade die schönsten Erfahrungen beim Werfen, Laufen und Springen eröffnen sich für Kinder und Jugendliche über das Motiv des Wetteifers. Deshalb suchen Kinder Situationen des Wetteifers in ihrer Freizeit, messen sich in kindgemäßer Weise, haben dabei viel Spaß und Freude und fragt man Kinder, was ihnen beim Laufen besonders Spaß macht, so ist es kaum überraschend, dass die Mehrheit der Kinder Staffelwettbewerbe, Wettrennen und Leistungsüberprüfungen als interessant und spaßhaft bewerten. Eben diese Beobachtungen sind es, die uns veranlassen, die leichtathletischen Überformungen des Laufens, Werfens und Springens als pädagogische Inhalte den Schulen zu offerieren, die Kinder sind es also, die uns bestärken, uns für die von uns selbst als wichtig erachtete Sache einzusetzen.

Über die Möglichkeiten der menschlichen Bewegung aus pädagogischer Sicht wurde in vielfältiger Weise nachgedacht. Eine besonders sinnvolle Betrach­tungsweise scheint mir dabei zu sein, wenn wir die Frage nach der Bedeutung der menschlichen Bewegung stellen. Bei einer Beantwortung dieser Frage kann uns ein Blick auf die kindliche Bewegung besonders hilfreich sein.

  • Das Kind kann erstens mittels Bewegung seine Umwelt erkunden, wir können von der explorativen Bedeutung menschlicher Bewegung sprechen.
  • Das Kind kann mittels Bewegung Dinge verformen, kann seine Umwelt gestal­ten. Das Kind kann mittels Bewegung sich ernähren, Bewegung wird dabei zu einem bedeutsamen Instrument. Man könnte von der instrumentellen Bedeu­tung der Bewegung sprechen.
  • Das Kind kann sich selbst mittels seiner Bewegung darstellen gegenüber ande­ren Kindern, gegenüber seinen Eltern, gegenüber einem Publikum. Es ist dies die präsentative personale Bedeutung der Bewegung.
  • Das Kind kann mit der Bewegung Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen, sie ermöglicht ihm eine Mobilität hin zu anderen Menschen. Die soziale Bedeutung der menschlichen Bewegung kommt damit zum Ausdruck.
  • Und schließlich kann das Kind mittels Bewegung den eigenen Körper in seiner Entwicklung beeinflussen, wobei vor allem über Bewegung das Wohlbefinden und die Gesundheit des Körpers beeinflusst werden kann. Man könnte von der gesundheitlichen Bedeutung der menschlichen Bewegung sprechen.

Sprechen wir über die leibliche Erziehung an Grund- und Hauptschulen, über den Sportunterricht an öffentlichen Schulen, so sollten wir über diese Bedeu­tungsmöglichkeiten der menschlichen Bewegung sprechen. Wir sollten die Frage stellen, inwieweit das in den Schulen gestaltete Bewegungsleben dieser Bedeutungsvielfalt entspricht, inwieweit über die in den Schulen angebotenen Inhalte es zur Erfahrung dieser Bedeutungen kommen kann und inwieweit es zu einer Ausprägung und qualitativen Steigerung dieser Bedeutungen in den Schulen derzeit kommt.

Wenn in dieser Weise über die leibliche Erziehung mit den öffentlichen Schulen diskutiert wird, kann z.B. die Leichtathletik wie von selbst ihre Qualitäten unter Beweis stellen. In den vielfältigen Möglichkeiten des Laufens, des Werfens und des Springens werden nämlich eben jene Bedeutungen repräsentiert, die unter pädagogisch-anthropologischen Gesichtspunkten von grundlegender Bedeutung für die kindliche und jugendliche Entwicklung sind. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass auch in der weiteren Entwicklung einer verantwortbaren leiblichen Erziehung das leichtathletische Laufen, Springen und Werfen elementare Grundformen päd­agogischer Bildung sein müssen. Der Begriff des Elementaren verweist darauf, dass es sich um nicht austauschbare Bildungsinhalte handelt. In jedem Unter­richt, der sich als pädagogisch verantwortbar bezeichnen möchte, sollten sie deshalb ihren Platz haben.

letzte Bearbeitung: 31.12.2019