Krisenmanagement in Sportfachverbänden

Die Leichtathletik ist auch heute noch die Königsdisziplin bei den Olympischen Spielen. Sie verdeutlicht wie keine andere Sportart die Merkmale von Wetteifern, Leistung und Konkurrenz, sie verkörpert damit die Prinzipien der industriellen Gesellschaft und die dominanten Prinzipien des vergangenen 20. Jahrhunderts. Gleichzeitig ist die Leichtathletik jene Sportart, in der auf symbolhafte Weise die Krise des Hochleistungssports in unserer Gesellschaft zum Ausdruck kommt, die in sämtlichen olympischen Sportfachverbänden schon seit längerer Zeit zu beobachten ist. Wie so viele Verbände ist deshalb die Leichtathletik auf der Suche nach einem erfolgreichen Krisenmanagement, wobei die Lösung der Krise noch immer nicht in Sicht ist.

Warum spreche ich von einer Krise des Hochleistungssports?

Der Hochleistungssport befindet sich meines Erachtens angesichts seiner Logik in einem Prozess der Selbstzerstörung. Die Logik des Systems, sportliche Leistungen zu steigern, und ökonomische Gewinne nach dem Systemcode „Sieg – Niederlage“ zu verteilen, hat dazu geführt, dass enorme Trainingsaufwendungen zum Erreichen sportlicher Erfolge erforderlich sind, die „Kalkulation“ dieser sportlichen Erfolge jedoch immer schwieriger geworden ist. Bei immer größeren Trainingsaufwendungen sind nur noch immer geringere Leistungssteigerungen erreichbar. Da das System jedoch auf Steigerung ausgerichtet ist, Leistungen in Zentimetern, Gramm oder Sekunden zu maximieren sind, besteht zunehmend die Gefahr der unerlaubten Grenzmanipulation. Doping ist somit ein Problem, das im Wesentlichen durch den Systemcode des Systems „Hochleistungssport“ selbst angelegt ist. Ebenso gilt dies für die Verstöße gegen das selbstregulierende Prinzip des Fair Play.
Die Tendenz zur Selbstzerstörung wird aber auch deutlich, wenn wir einige der Paradoxien beobachten die heute den Hochleistungssport kennzeichnen.
Da ist zunächst zu beobachten, dass der Hochleistungssport für die Massenmedien immer attraktiver wird. Die Menschen sind an spektakulären Leistungen im Sport interessiert, sportliche Höchstleistungen haben einen wachsenden Unterhaltungswert. Die „Resource Athlet“, die dazu benötigt wird, wird jedoch – zumindest in konsumorientierten Industriegesellschaften und damit in den Mutterländern des Hochleistungssports – immer knapper. In konsumorientierten Industriegesellschaften wird es immer weniger wahrscheinlich, dass junge Menschen den Weg in den Hochleistungssport finden.
Eine zweite Paradoxie verweist auf die ökonomische Lage des Hochleistungssportsystems. Da wird von immer weniger Athleten immer mehr Geld verdient. Bei spektakulären Ereignissen sind Antrittsgelder, Gewinnprämien und Sponsorenverträge üblich geworden, die sinnvollen   Prinzipien einer Leistungsgesellschaft und den dort geltenden Maßstäben zur Dotierung von menschlichen Leistungen widersprechen. Bei Millionen Einnahmen für wenige kommt es gleichzeitig zu einer riskanten Finanzierung aller übrigen, die erst die Grundlage für die Millioneneinnahmen bilden.
Eine dritte Paradoxie verweist auf den Sachverhalt zwischen Ehren- und Hauptamt. Bei erhöhter ökonomischer Bedeutung des Hochleistungssports ist es naheliegend, dass effizientes Organisieren, effizientes Wirtschaften und effizientes Kommunizieren verlangt wird. Die ökonomischen Erfolge des Hochleistungssports basieren jedoch zu oft auf unökono mischem ehrenamtlichem Handeln, auf ineffizienter Organisation, ineffizienter Kommunikation und auf ineffizienter finanzwirtschaftlicher Arbeit. Sie basieren vor allem auf gemeinnützigem Tun und stehen somit im Widerspruch zur privaten Nutzenmaximierung des wirtschaftlichen Systems, das sich der „Ware Sport“ bedient.

Mängelanalyse

Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Ausgangs- und Problemlage stellt sich das Problem vieler olympischer Sportverbände darüber hinaus auch auf eine spezifische Weise. Viele Sportverbände mit ihren „Sportfunktionären“ befinden sich seit längerer Zeit in einer Imagekrise. Sie weisen verkrustete und ineffiziente Organisationstrukturen auf. Längst ist das Verhältnis zwischen handelndem ehrenamtlichem und hauptamtlichem Personal problematisch geworden. Man orientiert sich an einem überlebten Wertesystem, das dringend einer Renovierung bedarf.
Erstellt man eine allgemeine Mängelanalyse, so ergibt sich dabei in etwa folgendes Bild:

  • Viele deutschen Sportfachverbände können nicht an ihre früheren Erfolge anknüpfen, die vor allem auf Leistungen von Athletinnen und Athleten beruhen, die im ehemaligen DDR -Sportsystem ausgebildet wurden.
  • Fast alle olympischen Fachverbände weisen einen Mitgliederrückgang auf, wobei insbesondere im Kinder-und Jugendbereich erhebliche Einbrüche zu verzeichnen sind.
  • Das Erscheinungsbild der Verbände in der Öffentlichkeit stellt sich zunehmend eher negativ da.
  • Kooperationen mit der Wirtschaft sind entweder gefährdet oder nur noch schwer im Sinne neuer Vereinbarungen zu schaffen.
  • Die Haushaltssituation vieler Verbände ist kritisch.
  • Es gibt Lücken im Beratungsservice und im Dienstleistungsangebot.
  • Eine ständige Präsenz ihrer Wettkämpfe im Fernsehen können nur noch wenige Sportfachverbände erreichen.
  • Das hauptamtliche Personal ist in vielen Verbänden unzureichend qualifiziert.
  • Eine qualifizierte ehrenamtliche Führung der Verbände gelingt nur sehr selten.
  • Hinzu kommen Steuerungsprobleme, die durch ineffiziente Verbandsstrukturen verursacht werden.
  • Die Öffentlichkeitsarbeit der meisten Verbände ist wenig professionell und kann nur selten die durch die sozialen Medien entstandenen Herausforderungen angemessen meistern.

Was bedeutet diese Analyse für ein zukünftiges, angemessenes Führungshandeln betroffener Verbände? Was sollte an Neuem initiiert werden? Wo bedarf es neuer Kontrollen? Wie kommt es zu kreativen Innovationen?

Maßnahmen zur Modernisierung

Zunächst kann zur Beantwortung dieser Fragen empfohlen werden, dass man auf der Grundlage der hier skizzenhaft vorgestellten Mängelanalyse einen Maßnahmenkatalog erarbeitet, der zur Modernisierung der Verbandsarbeit beitragen kann.
Der folgende Katalog kann hierzu möglicherweise eine Hilfe sein:

  • Entwicklung einer Corporate Philosophie
  • Entwicklung eines Corporate Designs
  • Entwicklung und Durchführung einer Corporate Communication
  • Öffentlichkeitsarbeit (Neugestaltung der Pressekonferenzen, des Pressedienstes, der Kommunikation mit den Medien etc.)
  • Event Marketing (Versuch zur Neuinszenierung der Wettkampfereignisse, neue Formen der Partnerbetreuung)
  • Einsatz neuer Werbemittel
  • Entwicklung neuer Promotion-Aktivitäten
  • Entwicklung neuer Organisationsstrukturen
  • Aufgabenspezifische Weiterqualifizierung des Personals, bzw. Wechsel/Austausch des Personals
  • Durchführung von zeitlich begrenzten Projekten
  • Lean Management (in Kooperation mit Partnern aus der Wirtschaft).

Maximen zur Neuorientierung

Die haupt-und ehrenamtliche Arbeit in den Verbänden müsste sich dabei an gewissen Maximen zu Neuorientierung ausrichten. Auch hierzu lassen sich wenigstens fünf Maximen empfehlen:

  1. Zielorientiert denken und handeln (operationalisierbare Ziele, Indikatoren zur Zielkontrolle, Jahresplanung, Planung der Wahlperioden)
  2. Marktorientiert denken und handeln (ständige Verbesserung der eigenen Sportangebote, preis -und kostenbewusst sein)
  3. Leistungsorientiert denken und handeln (Positionierung nach Leistung, Gratifikationen und Sanktionen in Abhängigkeit von Leistung)
  4. Professionell denken und handeln (ständige Erneuerung der Technologien, ständige Weiterqualifikation)
  5. Partnerschaftlich denken und handeln (Offenheit und Klarheit gegenüber Partnern, Empathie zu Gunsten der Partner)

Prinzipien zur Reform

Über die Prinzipien zur Reform der Sportorganisationen könnte somit Klarheit bestehen. Es müsste erreicht werden, dass die bestehenden Gremien kommunikationsfähig werden oder so reformiert werden, dass sie sich durch Kommunikationsfähigkeit auszeichnen. Die fachliche Kompetenz des haupt – und ehrenamtlichen Personals muss gestärkt werden, was zumindest zu einer teilweisen Neurekrutierung des ehrenamtlichen Personals führen muss, aber auch eine Ergänzung der hauptamtlichen Kompetenz ist dringend erforderlich. Ferner muss die Kommunikation zwischen Haupt -und Ehrenamt effizienter gestaltet werden und dies alles muss zu einer Kostensenkung der Arbeit führen. Angesichts der bürokratischen Tendenzen, die in den Sportorganisationen in den letzten Jahren eher noch größer geworden sind als sie ohnehin schon bestanden, ist dies eine besonders dringende Notwendigkeit.

Hierarchische Problembewertung

Der nächste Schritt auf dem Weg zur Modernisierung der Verbandsarbeit wäre dann die Gewichtung der Probleme zueinander, die es für den jeweiligen Verband zu lösen gilt. Sie sollte hierarchisch erfolgen, um zu wissen was zuerst zu tun ist, was wichtig ist, was weniger wichtig ist. Soll dies geleistet werden, so muss sich ein Sportfachverband seiner Grundsatzthemen in seiner Verbandsarbeit bewusst sein. Hierzu gehören vor allem der „Olympismus“, das Thema „Leistung, Wetteifer, Konkurrenz“, die Themen „Gesundheit“, „Freizeit“, „Erziehung und Bildung“, „soziale Integration“, „Unterhaltung“ und nicht zuletzt auch die Entwicklungszusammenarbeit in Europa und in der Welt (beispielsweise mit Entwicklungsländern).

Für den Deutschen Leichtathletikverband ist vor dem Hintergrund dieser Grundsatzthemen meines Erachtens nach wie vor das Dopingproblem dessen Schlüsselproblem. Nicht weniger wichtig ist das Mitgliederproblem. Das Dopingproblem soll im Folgenden beispielhaft zur Darstellung kommen. Ich greife dieses Problem ganz bewusst heraus, weil es in den vergangenen Jahren nicht unwesentlich den Hochleistungssport im Allgemeinen und die Leichtathletik im Speziellen gekennzeichnet hat und weil dieses Problem ursächlich an der gesamten Krisenproblematik des Hochleistungssports beteiligt ist. Fragt man nach den Assoziationen, die mit dem Begriff „Leichtathletik“ verbunden sind, so sind es bei repräsentativen Befragungen oft mehr als 30 %, die das Thema „Doping“ mit der Sportart Leichtathletik in Verbindung bringen.
Die Dopingproblematik kann man meines Erachtens nur dann durch einen Fachverband erfolgreich steuern, wenn sich dieser der systemischen Verquickungen bewusst ist, die für das Dopingproblem kennzeichnend sind. Dabei ist zunächst jede Sportart mit und in  ihrer Umwelt zu beobachten und es sind dabei die Interdependenzen zu bewerten, die sich positiv und negativ auf die Lösung des Dopingproblems auswirken können. Die Rolle von Industrie und Wirtschaft ist dabei ebenso bedeutungsvoll wie die Rolle des Staates. Besonders zu beachten sind aber auch die Meinungsbilder der Massenmedien und die Position der Bevölkerung und der Sportinteressierten.

Schwierige Ausgangssituation zur Bearbeitung der Schlüsselproblems

Die Ausgangssituation der meisten Sportverbände zur Bearbeitung des Dopingproblems war und ist dabei meist sehr „diffus“ und unzureichend. Sie zeichnete und sie zeichnet sich auch heute noch durch eine Überforderung der ehrenamtlichen Gremien, durch unklare Entscheidungen und insbesondere durch Verstrickungen in Widersprüche aus. Problematisch ist dabei vor allem, dass noch viel zu viele darauf hoffen, dass über zeitliche Verzögerungsstrategien sich das Problem des Dopings gleichsam von selbst lösen könnte. Wenn die Presse keine Aufmerksamkeit dem Problem zuwendet, dann – so hofft man – ist das Problem vom Tisch. Kennzeichnend für die mangelhafte Ausgangssituation sind auch die unzureichenden juristischen Strukturen der Verbände, ein konzeptionsloses Tageshandeln, unkoordinierter Aktionismus, defensive Öffentlichkeitsarbeit, Vortäuschen einer alleinigen Vorreiterrolle, Personifizierung des Dopingkampfes, unzureichende moralische Glaubwürdigkeit, ein unzureichendes moralisches Bewusstsein der Athleten, eine unzureichende Dopinganalytik und unzureichende Kontrollen und Sanktionen.

Lösungsinstrumente

Vor diesem kritischen Hintergrund muss es darauf ankommen die richtigen Prioritäten zu setzen, angemessene Instrumente im Dopingkampf zu finden, sie gegeneinander zu gewichten und entsprechend ergriffene Maßnahmen in ihre Erfolgsträchtigkeit zu steuern. Dabei bieten sich verschiedene Lösungsinstrumente an, die möglichst in Ihrer Gesamtheit zur Anwendung kommen sollten. Die Festlegung einer tragfähigen Dopingdefinition ist dabei eine sehr dringende Aufgabe ebenso wie die Entwicklung eines schlagkräftigen Kontrollsystems. Es werden glaubwürdige und unabhängige Überwachungskommissionen benötigt, die extern den Verbänden zur Seite stehen und ihnen auf diese Weise ihre Glaubwürdigkeit zurückgeben.

Die Schaffung tragfähiger juristischer Strukturen ist wohl die wichtigste Aufgabe, um die juristischen Grundlagen für eine konsequente Verfolgung bei vorliegenden strafbaren Fällen zu schaffen. Es sind möglicherweise auch Verpflichtungserklärung aller Beteiligten erforderlich, die Einführung eines Athletenpasses ist zu empfehlen und der Abschluss einer Athletenvereinbarung scheint besonders dringend zu sein. Parallel dazu müssen sich die Verbände moderner Public-Relationsinstrumente bedienen, die in der Kommunikation zwischen Systemen heute üblich geworden sind. Vor allem benötigen die Verbände ein offenes Diskussionsforum für betroffene Experten und Kritiker. Das Prinzip des Fair Play muss zum zentralen Thema der „Corporate Philosophy“ der Sportverbände werden.
Es muss dabei aber auch erkannt werden, dass es vermessen wäre, wenn die Sportverbände von einer Lösung des Dopingproblems sprechen möchten. Beim Handeln in den Verbänden muss man trotz aller präventiven Maßnahmen immer damit rechnen, dass es auch in den eigenen Reihen Verstöße gegen die selbst gesetzten Regeln geben kann. Deshalb ist es wichtig, dass jeder Verband auch ein Interesse an einer neuen kreativen Wettkampfkultur entwickelt, dass seine Wettkampfveranstaltungen überdacht werden, dass eine neue Stadion – und Hallenkultur zu entwickeln ist, die sich auf die Bedürfnisse von Zuschauern beziehen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt haben. Jeder Wettkampf innerhalb einer Sportart ist dahingehend zu prüfen, ob er auch zukünftig noch anschlussfähig ist in Bezug auf die gewandelten Unterhaltungsbedürfnisse unserer Gesellschaft.

Solche Veränderungen sind nicht von heute auf morgen zu schaffen. Es geht darum, kleine Erfolge zu erzielen. Sie weisen den Weg und sie können uns zeigen, dass Systeme nicht nur Prozessen der Selbststeuerung unterliegen, sondern dass auch durch individuelles Führen und Kontrollieren Erfolge bei der Modernisierung der Sportverbände zu erreichen sind.

Letzte Bearbeitung: 2. Februar 2022