Ist der moderne Olympismus noch zeitgemäß?

Der moderne Olympismus, eine Lebensphilosophie, wie sie von Pierre de Coubertin gedacht und beschrieben wurde, steht heute mehr denn je auf dem Prüfstand. Hat sich diese Philosophie überlebt? Ist sie angesichts vom Dopingbetrug der Athleten und der Korruption der Funktionäre selbst außer Kraft gesetzt? Folgt man der Mehrheitsmeinung der Sportjournalisten, so scheint diese Frage beantwortet zu sein. Der Olympismus ist allenfalls eine Ideologie, er ist ein Feigenblatt und dient als Alibi. Er ist Teil einer olympischen Rhetorik, bei der die Verantwortlichen im IOC bemüht sind, die totale Kommerzialisierung der Olympischen Spiele zu verbrämen. Die Kritik am aktuellen Zustand der Olympischen Spiele scheint dabei immer gleichzeitig auch eine Kritik am modernen Olympismus und Coubertin’s Lebensphilosophie zu sein. Dabei wird verkannt, dass die Berechtigung und die Tragfähigkeit der Ideen von Coubertin nur in einem indirekten Zusammenhang mit der aktuellen Durchführung Olympischer Spiele zu sehen ist und dass die berechtigte Kritik an den aktuellen Auswüchsen und Verfehlungen bei Olympischen Spielen vor allem als Kritik deshalb tragfähig ist, weil für ihre Begründung der Olympismus eine tragfähige Grundlage bildet. Meist muss man bei dieser Gleichsetzung von Olympismus und Olympischen Spielen auch vermuten, dass das Wissen um die kennzeichnenden Merkmale des modernen Olympismus immer weniger in unserer Gesellschaft vorhanden ist und es sich deshalb lohnen könnte, sich noch einmal auf die wichtigsten Prinzipien des modernen Olympismus zu besinnen. Die Lektüre der Werke von Pierre de Coubertin lohnt sich dabei heute ebenso wie die Auseinandersetzung mit Interpretationen zum modernen Olympismus, wie sie von Wissenschaftlern und Philosophen im vergangenen Jahrhundert vorgelegt wurden.

Will man die Ideen des modernen Olympismus in der heutigen Zeit verstehen, so lohnt es sich auch, sich mit Reden und Publikationen auseinanderzusetzen, wie sie der leider zu früh verstorbene Willi Daume als langjähriger Präsident des Deutschen Sportbundes, des Nationalen Olympischen Komitees und als Mitglied des IOC und Präsident des Organisationskomitees für die Olympischen Spiele 1972 in München vorgetragen hat. Nur wenige können vergleichbar mit Willi Daume als große Olympier bezeichnet werden. Für Willi Daume war das „Olympische“ sein Lebensthema. Dieses Thema hat ihn als Athlet ebenso fasziniert wie als Unternehmer und Funktionär. Es war sein Anliegen, die Idee des Olympismus zu klären, weiterzuvermitteln und umzusetzen, vor dem Hintergrund einer dunklen und unfriedlichen Welt. Folgt man Willi Daume, so ist der Olympismus nicht ein für alle Mal in Stein gemeißelt. Er bedarf der Kritik und einer ständigen Diskussion. Jeder Diskutant sollte sich einbringen mit seinen Ideen, wie das Olympische derzeit ist und wie es sein müsste.

Die Idee des Olympismus ist ohne Zweifel zunächst und vor allem eine europäische Idee. Coubertin stand in der Tradition europäischen Denkens. Europäische Kunst, Literatur und Musik, das griechische und christliche Gedankengut aber auch die Aufklärung des 19. Jahrhunderts sind die entscheidenden Grundlagen des modernen Olympismus. Daume wie Coubertin wollten dieses Gedankengut mit dem Sport verbinden. Eine Verbindung, die uns bis heute immer wieder als unversöhnlich zeigt, doch als ein anspruchsvolles Ziel sich als unverzichtbar erwiesen hat. Die Verantwortlichen des Sports haben deshalb den Dialog mit allen gesellschaftlichen Kräften, vor allem mit den Kirchen, der Kunst, der Literatur und nicht zuletzt mit den Wissenschaften zu suchen. Findet dieser Dialog statt, so stellt sich der Sport als offen dar.

Will man das Olympische als Menschheitsidee näher kennzeichnen, so sind es vor allem vier Merkmale, die besonders hervorzuheben sind. Das Olympische steht zunächst und erstens für die Idee der Leistung. Dabei ist aber sehr viel mehr darunter zu verstehen, als die bloße messbare und bewertbare Leistung. Leistung steht vielmehr für die neuhumanistische Idee der Selbstvollkommnung. Nicht der Erfolg ist das wichtigste. Es ist vor allem der Prozess zu beachten, der zu der menschauszeichnenden Leistung führt.

Zweitens ist es die Idee der ganzheitlichen Bildung, wie sie schon bei Pierre de Coubertin das Olympische im Wesentlichen prägte. Es geht um die Bildung von Körper, Kopf und Herz. Das Olympische steht für die Klarheit der Gedanken und für die Fairness im Handeln. Sportlich olympische Hochleistung ist dabei die schönste Ausdrucksform, aber auch das Prinzip dem sie folgt. Dies gilt für alle Leistungsstufen. Niemand ist dabei zu alt für sie.

Die Idee der Fairness ist das dritte herausragende Merkmal des olympischen Gedankens. Will man den Sport auf eine höhere Stufe stellen, so gehört hierzu vor allem die Einhaltung sportlicher Regeln – geschriebener und ungeschriebener – der Verzicht auf unberechtigte Vorteile und die Anerkennung des Gegners. Es liegt dabei in der Logik der Regeln, dass gegen sie verstoßen werden kann, dass es Betrüger unter den Athleten gibt und dass mit Regelverstößen unerlaubte Vorteile erreicht werden können. Die Idee des Fair Play kann dadurch jedoch nicht in Frage gestellt werden. Im Gegenteil: der Schutz der sauberen Athleten ist die wichtigste Aufgabe für all jene, die sich dem modernen Olympismus verpflichtet fühlen.

Schließlich ist viertens die Idee des Friedens und der Verständigung ein weiteres grundlegendes Merkmal der Philosophie des Olympismus. Diese Idee setzt die Akzeptanz des kulturellen Andersseins und die Toleranz für Unterschiede voraus. Wer sich der Idee des Olympischen verpflichtet fühlt, der muss kulturelle Vielfalt als eine Bereicherung der Menschheit bewerten. Ohne kulturelle Vielfalt wäre der moderne Olympismus und damit auch die modernen Olympischen Spiele eintönig und nicht interessant. Die Idee des Friedens und der Verständigung kennzeichnen den modernen Olympismus ganz wesentlich auch als eine politische Philosophie. Unpolitisch kann und darf der Sport nicht sein. Er hat sich jedoch selbst zu gestalten. Er muss sich gegen politische Inanspruchnahme entschieden wehren. Politische Boykotte zukünftiger Olympischer Spiele sind deshalb in aller Entschiedenheit abzuwehren.

Heute wird unsere Welt durch viele Gegensätze geprägt. Arm und reich, privilegiert und unterprivilegiert, hungrig und satt, farbig und weiß – stehen sich als Gegensätze gegenüber. Hoffnung wird durch Resignation infrage gestellt und dem Frieden stehen die vielen kriegerischen Auseinandersetzungen entgegen. Doch gerade angesichts dieser zerbrechlichen Strukturen dieser Welt, kommt es darauf an, dass auch von den Verantwortlichen in der Welt des Sports die richtigen Antworten gefunden werden. Der Olympismus bietet hierzu ein geeignetes Leitbild. Nur durch das Anstreben sozialer Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Verständigung, Abbau von Spannungen, Toleranz und Fairness, durch den Geist kompromissloser Solidarität mit den zu kurz gekommenen und Hilfsbedürftigen nur unter diesen Voraussetzungen – so Daume – kann die Idee des Olympismus die notwendige Veränderung erfahren, die es ihr erlaubt, sowohl humanpolitische Funktion zu übernehmen, als auch Realutopie zu sein. So Daume in einer seiner wichtigsten Ausführungen und er fährt fort und weist darauf hin, dass in einer noch immer von Gewalt, Terror und Revolte bestimmten Welt, Demonstrationen gegen die Gewalt und für das friedliche Zusammenleben der Völker ein wichtiger Ausdruck der Verständigung und der Möglichkeit des friedlichen Fortschritts sein kann. Der Olympismus ist dabei nicht Heilverkündungsersatz oder Weltreligion, er ist vielmehr von höchster praktischer Relevanz. Folgt man dem Vermächtnis von Daume, so darf die Olympische Bewegung nicht in sich selbst ruhen, sie muss die Auseinandersetzung mit der Gegenwart immer wieder suchen. Für Daume gipfelte die Idee des Olympischen in der Idee der Ganzheitlichkeit und bei seinen Spielen, bei den Olympischen Spielen 1972 in München hat er uns gezeigt, wie man diese Idee zu verstehen hat.  Sportliche und olympische Athletik hat sich dabei in Verbindung mit Kunst, Literatur, Musik und Wissenschaft darzustellen. In München hat er auf einmalige und wohl unwiederholbare Weise zusammengefügt und verbunden, was im modernen Olympismus zusammengehört. Eine glanzvolle Architektur, eine urbane Landschaft, ein städtisches Leben und die hautnahe Kommunikation zwischen Bürgern, Besuchern und Athleten. Daume wollte ein einmaliges Weltereignis zeigen, bei dem der tiefe Menschheitswunsch nach Friedlichkeit und dem Freisein von Lebensangt zur Darstellung gebracht wird. Der tödliche Schatten, der die Spiele von München verdunkelte, konnte dieses anspruchsvolle Ziel nicht infrage stellen. Gerade vor dem Hintergrund der Vergewaltigung der Spiele 1972 hat der moderne Olympismus, wie er von Pierre de Coubertin begründet wurde und wie er von Willi Daume äußerst klug interpretiert wurde, seinen Anspruch auf Aktualität bewahrt. Über das Olympische die Möglichkeit der großen Idee des Friedens zur Darstellung zu bringen ist heute dringender denn je und eine tragfähige Idee für unsere Zukunft.

Verfasst: 10.07.2018