Internationale Leichtathletik – eine fragwürdige organisatorische Herausforderung

Im Juli 2016 fand in Bydgoszcz in Polen die IAAF Junioren-Weltmeisterschaft (U20) statt. Sechs Tage lang maßen sich von morgens bis abends die besten Junioren aus 150 Ländern der Welt. Sie präsentierten Weltklasseleistungen. In manchen Disziplinen wurden neue Juniorenweltrekorde erreicht. In sportlicher Hinsicht war dieses Ereignis ohne Zweifel herausragend. Das Organisationskomitee Polens hat in kürzester Zeit die sportlichen Voraussetzungen geschaffen, die für die Durchführung einer derartigen Weltmeisterschaft notwendig sind. Das Stadion präsentierte sich in renoviertem Glanz, die Athleten wohnten in guten Hotels, die Unterbringung für die Journalisten, Presse und Fernsehen waren garantiert. Die Funktionäre und die sogenannte „IAAF Family“ konnten sich über die polnische Gastfreundschaft nicht beklagen. Im Stadion stand den Gästen ein Hospitality-Raum auf der Tribüne zur Verfügung, daneben gab es ein Pressezentrum, in dem die Presse ihre Arbeit erledigen konnte und verköstigt wurde. Ein großer VIP-Raum stand außerhalb des Stadions für alle akkreditierten Personen bereit. Für die IAAF sind dies alles selbstverständliche Pflichten, die das Organisationskomitee einer Weltmeisterschaft zu erfüllen hat. Zu diesen Selbstverständlichkeiten gehört ein internationales Fernsehsignal, ein Event-Presentation-Programm, mehrere hundert Kampfrichter sind für den gesamten Zeitraum des Wettbewerbs abzustellen. Internationale technische Delegierte haben den Wettkampf zu steuern und zu überwachen. Zwei große Videobildschirme müssen die Daten- und Bildübermittlung über den Wettkampf ermöglichen. Auch weitreichende und teure Promotionspflichten sind zu erfüllen. Meist mehr als tausend Freiwillige sind fortzubilden und zu verkosten. Ein Dopingkontrollsystem muss im Stadion eingerichtet werden. Den Journalisten sind elektronische Arbeitsplätze mit Computerinformationssystemen bereit zu stellen. Und wie es in der Leichtathletik nun seit einigen Jahren üblich ist, muss die Zeitmessung und Datenübermittlung auf technisch höchstem Niveau erfolgen. Ein Leichtathletikstadion ist eine verkabelte Welt, wie sie sonst bei keiner anderen Sportart anzutreffen ist. SEIKO als IAAF-Technologiepartner ist mit seinem technischen Personal in einer Größenordnung von 40 Personen anwesend, gleiches gilt für das italienische Unternehmen deltatre und Canon, die ebenfalls Mess- und Videotechnik beisteuern. Ein Event-Presentation-Team von sechs Personen ist für die Vorstellung der Athleten vor ihren Wettkämpfen verantwortlich. Täglich müssen die Startlisten aktualisiert werden. Die Entry-Standards werden von Meisterschaft zu Meisterschaft neu definiert und führen zu ständig sich ändernden Startlisten in den insgesamt 47 Einzeldisziplinen der Leichtathletik. Die Größe der Mannschaften ist in der Regel nicht absehbar, es gibt wohl Meldetermine, die aber oft nicht eingehalten werden. Für die Organisation ist deshalb nur wenige Tage vor dem Beginn der Weltmeisterschaften klar, wie viele Länder bei der Weltmeisterschaft anwesend sein werden und wie viele Teilnehmer voraussichtlich an den Start gehen. Kommen dann noch Verletzungen hinzu, so kann man sich das ganze Ausmaß an kurzfristigem Organisationsbedarf vorstellen.

Die Komplexität einer Leichtathletik-Weltmeisterschaft ist damit nur skizzenhaft beschrieben. In keiner anderen Sportart werden zur Durchführung eines Ereignisses so viel Personal und so viele verschiedene Technologien vorausgesetzt. Ihr Ausmaß hat längst jedes Maß an Vernünftigkeit überschritten. Dies gilt vor allem deshalb, weil sich sehr schnell die Frage stellt, inwiefern sich diese Leistungen als lohnend erweisen. In Bydgoszcz liegt die Antwort auf der Hand. Die Weltklassewettbewerbe der Athletinnen und Athleten fanden vor leerer Kulisse statt. Zahlende Zuschauer hat es so gut wie keine gegeben. Das Stadion mit einer Kapazität von 20.000 Zuschauern glich einem potemkinschen Dorf. Wenn nicht die vielen Teilnehmer und Familienangehörigen eine angenehme Geräuschkulisse erzeugt hätten, so wäre es eine Veranstaltung unter Ausschluss der Öffentlichkeit gewesen. Die IAAF mit ihrem Führungspersonal war nur sehr kurzfristig anwesend. Der Präsident zeigte sich bei zwei Siegerehrungen, der Organisationsdelegierte war nur an einem Viertel der Wettkampftage anwesend, obgleich er für die gesamte Veranstaltung verantwortlich zeichnete. Die Jury of Appeal, der in der Regel IAAF Council-Mitglieder angehören, reduzierte sich während des Wettkampfes auf eine einzige Person, was von den Regeln kaum abgedeckt war. Die TV-Produktion kostete allein 400.000 Euro. Doch eine Live-Übertragung hat es nur im Gastgeberland gegeben. Die Reichweite der Veranstaltung konnte nach den üblichen Maßen des Fernsehens nicht gemessen werden. Außerhalb Polens in Europa fand diese Weltmeisterschaft nicht statt.

Drei Wochen später fanden die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro statt. Leichtathletik, die Begründerin dieser Spiele, sieht sich selbst als die Königin aller olympischen Sportarten und hat dies bei früheren Olympischen Spielen mit Nachdruck auch beweisen können. Neun Tage bei Olympischen Spielen, das bedeutete ganz anders als bei den eigenen Weltmeisterschaften meist ausverkaufte Stadien, eine faszinierende Atmosphäre und höchste Einschaltquoten. Bei der Verteilung der Fernseheinnahmen des IOC konnte deshalb die Leichtathletik in der Vergangenheit als einzige Sportart eine Sonderstellung einnehmen. In Rio war dies alles ganz anders. Das Stadion, in dem die Leichtathletik stattfand, nannte sich wohl Olympiastadion, doch war es als solches nicht zu erkennen und im Vergleich zu früheren Olympiastadien eher klein. Das Stadion war alt, die Eröffnungsfeier fand deshalb im berühmten Maracana-Fußballstadion statt, das olympische Feuer fehlte im Stadion der Leichtathletik, die Dekoration des Stadions war alles andere als olympisch. Die Zufahrtswege zum Stadion waren unergründlich. Die Sicherheit war wohl gewährleistet, doch die Hässlichkeit der Sicherheitsmaßnahmen war offensichtlich. Bei den Wettkämpfen konnte lediglich Usain Bolt die Zuschauer an sich binden, ansonsten waren viele leere Ränge zu beklagen. Die Vormittagsveranstaltungen wurden von zahlenden Zuschauern so gut wie gar nicht besucht und die Verkaufszahlen an den Abendveranstaltungen waren unbefriedigend. Wie in Bydgoszcz waren die Leistungen der Athleten durchaus herausragend. Manche Wettkämpfe waren äußerst spannend, obgleich bei diesen Olympischen Spielen zwischen den Wettkämpfen oft Langeweile zu verspüren war und mancher Wettkampf sich zu langatmig darstellte. Auch die Präsentation der einzelnen Finalleistungen war meist unzureichend, insbesondere technische Wettbewerbe wurden nur nebenbei kommentiert. Im Mittelpunkt standen einmal mehr nur die Läufe. Der Besuch großer Prominenz bei der Leichtathletik blieb nahezu gänzlich aus. Von einem besonderen Spektakel der Leichtathletik konnte in Rio ganz gewiss nicht die Rede sein. Viele hat das Bild, das die Leichtathletik bei diesen Olympischen Spielen auszeichnete, überrascht und erschreckt. Dies gilt für Gäste und Experten gleichermaßen. Dabei wird jedoch verkannt, dass Leichtathletik schon seit langer Zeit notwendige Modernisierungen verschlafen hat. In Rio konnte nur das Ausmaß erkannt werden, das Folge einer Stagnation ist, die ganz wesentlich von dem 2015 zurückgetretenen Präsidenten Diack zu verantworten ist.

Die Leichtathletik stellt sich als eine äußerst teure, zeit- und personalaufwendige Sportart dar, der es nur bedingt gelingt, im globalen Sportmarkt konkurrenzfähig zu sein. Dies gilt für ihre Vermarktung und den Verkauf ihrer Fernsehrechte gleichermaßen. Es gilt für das Interesse der Zuschauer und es gilt vor allem für die jungen Generationen, die sich vermehrt von der Leichtathletik abgewandt haben. Leichtathletik sonnt sich nostalgisch in ihren Erfolgen aus der Vergangenheit, ohne zu erkennen, dass ihre Sportart nicht mehr zeitgemäß ist. Die Leistungen der einzelnen Athleten sind nach wie vor spektakulär, ein 100m-Finale ist noch immer der Höhepunkt der Olympischen Spiele, eine 4x100m-Staffel fasziniert jeden Stadionbesucher und ein spannendes Hammerfinale kann noch immer mehr als 40% Marktanteil bei vielen Fernsehsendern erreichen. Wenn jedoch eine Leichtathletik-Veranstaltung morgens von 9.30 Uhr bis 13.00 Uhr dauert und dabei nur Vorkämpfe angeboten werden und abends der Wettbewerb von 20.00 Uhr bis 23.00 Uhr dauert, so kann dies heute den Zuschauerbedürfnissen nicht mehr entsprechen. Wenn man das Vormittagsprogramm mit Finalentscheidungen anreichert und damit das Abendprogramm entwertet und nur noch maximal drei Finals an einem Abend angeboten werden, dann hat man den Zuschauern im Stadion gewiss keinen Gefallen getan, allenfalls wurde Fernsehinteressen entsprochen.

Fragt man, wie die Leichtathletik mit ihren vielen Weltmeisterschaften, Europameisterschaften, Kontinentalmeisterschaften, nationalen Meisterschaften und Landesmeisterschaften finanziert wird, so muss man sehr schnell erkennen, dass Gewinne mit dem Unterhaltungsprogramm Leichtathletik nur ganz selten erzielt werden können. Werden Gewinne gemacht, so werden diese auf dem Rücken der Steuerzahler erzielt. Leichtathletikstadien sind in ihrer Anschaffung zu teuer und sie können kaum nachhaltig bewirtschaftet werden. In großen Stadien finden viel zu selten Leichtathletik-Veranstaltungen statt. Der Erhalt der Wettkampfanlagen für die Leichtathletik ist mit hohen Kosten verbunden. Die Meisterschaften selbst sind ohne staatliche Zuschüsse nicht möglich, gleiches gilt für die Heranbildung der jeweiligen neuen Athletengenerationen. Talentsuche und Talentförderung ist ebenso staatlich subventioniert wie die Vorbereitung aller Nationalmannschaften für die großen Weltereignisse der Leichtathletik. Gewiss können einige herausragende Stars mit der Leichtathletik Millionen verdienen. Gewiss gibt es Manager, die sich an der Leichtathletik erfolgreich bereichern. Einige Verbände können auch die ihnen zur Verfügung stehenden Rechte erfolgreich vermarkten. Fernsehverträge in Millionenhöhe und Marketingerlöse ermöglichen für die Funktionäre des europäischen und des Weltverbandes ein leichtes Leben. Eine ausgeglichene Bilanz zwischen Einnahmen und Ausgaben kann jedoch nirgendwo in der Leichtathletik erkannt werden. Will die Leichtathletik sich in einem immer aggressiver werdenden Wettbewerb im Rahmen der Unterhaltungsindustrie behaupten, so bedarf sie einer radikalen Reform. Wer mit Leichtathletik Geld verdienen möchte, der muss sich den Gesetzen des Marktes stellen. Qualitätsmanagement in Bezug auf das Produkt Leichtathletik ist die Herausforderung der Stunde. Will man jedoch die Qualität des Produkts entscheidend verbessern, so bedarf es ganz offensichtlich eines neuen professionell ausgebildeten Personals. Dies gilt für die Führung gleichermaßen wie für die Exekutive. Aber auch die Athleten haben ihre Rolle grundlegend zu bedenken. Höhere Einnahmen zu fordern, ohne sich an den Kosten zu beteiligen, muss der Vergangenheit angehören. Wer mit einem nicht enden wollenden Dopingbetrug seine sauberen Gegner betrügt und dabei die Qualität des Produkts ganz erheblich beschädigt, ist nicht Opfer sondern Mitverursacher der Krise.

Man kann durchaus von einem Überlebenskampf der Leichtathletik sprechen, wenn man sich die harten Fakten vor Augen hält, mit denen diese Sportart konfrontiert ist. Ob sie ihn meistern wird, wird sich in den nächsten Jahren sehr schnell zeigen.

Letzte Überarbeitung: 07.06.2017