Handeln im Sport – Überlegungen zu einem sportpädagogischen Leitkonzept

Handlungstheoretische Ansätze können heute innerhalb der Sportwissenschaft in gewisser Weise bereits auf eine Tradition verweisen. Die vorliegenden handlungsorientierten Ansätze kann man dabei in zwei Klassen einteilen. Es gibt zum einen jene Ansätze, die an einer bestimmten Handlungstheorie orientiert sind (an der kognitivistischen Handlungspsychologie, am symbolischen Interaktionismus, an der Soziolinguistik und an verschiedenen philosophischen anthropologischen Konzeptionen).
Zum anderen gibt es jene Ansätze, die mit einem expliziten Handlungsbegriff arbeiten. Ganzheitlich- psychologische, struktural – genetische und anthropologisch – funktionale Handlungsbegriffe können dabei unterschieden werden.

Obwohl es bislang und vermutlich auch in der näheren Zukunft weder einen einheitlichen Handlungsbegriff noch eine allgemein gültige Handlungstheorie in der Sportwissenschaft bzw. Sportpädagogik gibt, hat der „handlungstheoretische Ansatz“ und dessen Diskussion auf wesentliche pädagogische Probleme des Sports in ganz neuer Weise aufmerksam gemacht; so zum Beispiel auf die soziale Interaktion im Sport, auf die Semantik der Bewegungshandlung, auf die Wichtigkeit der kognitiven Dimension beim sportlichen Handeln etc.

Soll mit Hilfe der handlungstheoretischen Erkenntnisse ein sportpädagogisches Leitkonzept entwickelt werden, wie es in diesem Essay versucht wird, so ist dabei zweierlei notwendig:

  1. Die Explikation des zu Grunde gelegten Handlungsbegriffs.
  2. Die Klärung was es heißen kann, zur Handlungsfähigkeit im Sport zu erziehen.

Bestimmungsstücke eines Handlungsbegriffs

  • Handlungen im Sport sind zielgerichtete Verhaltensweisen von Menschen, die von Tieren nicht realisiert werden können.
  • Sie ermöglichen die intentionale Gestaltung des Sports und die Kommunikation mit anderen im Sport handelnden Partnern.
  • Das Handeln ist im Sport aktiv und umweltbezogen, d.h. es wird ständig in die sportspezifische Umwelt eingegriffen und diese dadurch verändert.
  • Diese Wechselwirkung zwischen dem sportlich Handelnden und seiner Umwelt äußert sich dabei nicht im bloßen Reagieren. Das sportliche Handeln ereignet sich vielmehr intentional, zielgerichtet und rückgemeldet.
  • Sportliches Handeln konstituiert und ereignet sich in sportspezifischen Situationen. Sportliche Handlungen sind zeitlich und räumlich bestimmt.
  • Das sportliche Handeln ereignet sich zwar immer als individuelles Handeln, was aber nicht ausschließt, dass man in der Gruppe handeln und Handlungen auch kollektiv empfinden kann.
  • Sportliche Handlungen haben wie alle übrigen Handlungen auch jeweils eine bestimmte Qualität. Sie können falsch, richtig, neu, alt, nützlich, schädlich, kreativ, imitierend sein. Diese Qualität können Sie für das handelnde Individuum, für den Partner, für eine bestimmte Kultur und für die Gesellschaft haben.
  • Das sportliche Handeln ist wie das übrige Handeln an das Vorhandensein bestimmter „symbolischer Systeme“ geknüpft. Nur wenn solch ein symbolisches System angetroffen werden kann, ist es möglich, sinnvoll von einer „sportlichen Handlung“ zu sprechen.
  • Handlungen im Sport können ihrer Äußerungsform nach motorischer oder sprachlicher Art sein.
  • Im Sport handelnde Menschen können für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden, d.h. unter anderem auch, dass im Sport handelnde Personen auf ihre Intention hin befragt werden können.
  • Beim Handeln im Sport befolgt man Regeln, Normen, Gesetze und Konventionen.
  • Der Begriff der Regel verweist zum einen auf die prinzipielle Offenheit, Unabgeschlossenheit und Vieldeutigkeit menschlichen Handelns im Sport, macht zum anderen aber auch deutlich, dass es für ein in Rollen gespieltes geschlossenes und also auch antizipierbares Handlungssystem institutionelle und soziale Vorgaben gibt.
  • Der Begriff der „Bedeutung einer sportlichen Handlung“ und der Begriff des „symbolischen Systems des Sports“ verweist darauf, dass Sinn und Bedeutung einer sportlichen Handlung zuallererst immer durch Handeln im Sport, also in der Handlung selbst entstehen und durch sie hervorgebracht werden. Der Begriff „symbolisches System“ betont aber auch, dass Sinn und Bedeutung von sportlichem Handeln weitgehend vorbestimmt ist und intersubjektive Gültigkeit hat.

Merkmale der Handlungsfähigkeit im symbolischen System des Sports

Für das hier zur Darstellung gebrachte sportpädagogische Leitkonzept ist die Kennzeichnung der Handlungsfähigkeit im symbolischen System des Sports von zentraler Bedeutung. Für die in diesem Handlungsfeld erwünschte Handlungsfähigkeit lassen sich verschiedene wichtige Merkmale beschreiben:

Da ist zum einen der Sachverhalt, dass durch das Handeln die Vielfalt sportlicher Bewegungen verfügbar wird und in sportlichen Situationen leibliche, materiale und soziale Erfahrungen zugänglich sind. Handlungsfähigkeit im Sport wird somit nicht nur auf einem relativ breiten Bewegungskönnen und Bewegungswissen basieren. Es wird viel mehr vor allem darum gehen, dass mit diesem Können und Wissen vielfältige Erfahrungen und Erlebnisse in unterschiedlichen Situationen und an verschiedenen Orten der „Erlebniswelt Sport“ gemacht werden können.

Situationen im Sport sind in der Regel soziale Situationen. Sportliches Handeln ist insofern interaktives Handeln; es eröffnet und entwirft soziale Situationen. In diesem Sinne enthält Handlungsfähigkeit immer auch soziale Komponenten. Allgemein ist dies jedoch kaum zu beschreiben, umfasst aber Momente wie Kooperation und Wettbewerb: zusammen etwas tun, einander helfen, aber auch in Wettkämpfen miteinander zu konkurrieren.

Sport ist ein wesentlicher Teil des Freizeitlebens von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Handlungsfähig im Sport zu sein heißt insofern, zur Teilnahme an einigen wichtigen Bereichen des Freizeitsports fähig zu sein, den für einen selbst geeigneten Sport aussuchen und einschätzen zu können, sowie denjenigen Sport, der einem (möglicherweise auch massenmedial und in den sozialen Medien) präsentiert wird, bewerten zu können.

Wenn der im Sport Handelnde einen Bereich bzw. ein Sportangebot für sich selbst als wichtig einschätzt, so heißt dies jedoch nicht nur, dass das eigene sportliche Handeln in Bezug auf die richtige Ausführung der erwünschten Bewegungsmuster und hinsichtlich der Erlebnisqualität beurteilt wird, sondern es  bedeutet auch die Fähigkeit zur Beurteilung im Hinblick auf die gesundheitlich präventiven Wirkungen von sportlichen Bewegungshandlungen: was kann ich mir zumuten, was muss ich mir zumuten, wenn sportliches Handeln gesundheitlich wirkungsvoll sein soll? Und was muss ich dazu wissen?

Handlungsfähig im Sport sein heißt, sich in ihm und mit dem, was man kann, darstellen zu können, in ihm sich selbst und anderen befriedigende Leistungen zeigen zu können, eigene Ansprüche und Bewertungen anderer zu erfüllen, durch Handeln Ausgleich, Spannung, Anerkennung zu erfahren und Einblick in sich selbst, in eigene Möglichkeiten und Grenzen zu gewinnen und damit auch – wenigstens ein Stück weit – eine eigene „Ich Identität“ aufzubauen.

Da Sport etwas „Gemachtes“ ist, in seinen Bewegungs – und Spielformen, in seinen Werten, Regeln und Normen das Ergebnis von Handeln ist, ist er zugleich in ganz prinzipieller Weise auch veränderbar. Zur Handlungsfähigkeit gehört, diese Veränderlichkeit zu erkennen, sie auszunutzen und den gegebenen Sport – soweit dies sinnvoll ist – teilweise oder ganz, zeitweise oder auf Dauer in einen anderen, vielleicht sogar in einen „besseren“ Sport zu überführen. An dieser Stelle hat Handlungsfähigkeit einen innovativ – kritischen Charakter.

Handlungsfähigkeit beschreibt nicht alle Ziele des Sports. Zu diesen gehören u.a. auch Wahrnehmungsfähigkeit, Erlebnisfähigkeit, Empathie und Sensibilität für sich und andere. Gleichwohl kann man davon ausgehen, dass gerade auch diese Ziele durch das sportliche Handeln mit erworben werden und jedenfalls in diesem Sinne – alles in allem – auch ein Teil von Handlungsfähigkeit selbst sind.

Das hier auf der Grundlage von einigen handlungstheoretischen Überlegungen konzipierte sportpädagogische Leitkonzept kann meines Erachtens in allen Situationen des Sports, in denen pädagogische Absichten verfolgt werden, ein geeigneter Arbeitsrahmen darstellen. Dies gilt gleichermaßen für die pädagogische Arbeit mit Schülern im öffentlichen Schulwesen wie für pädagogische Anliegen, die beim Sporttreiben in Vereinen verfolgt werden. Auch in Handlungssituationen des Leistungssports kann dieses Leitkonzept eine Hilfe sein.

Anmerkung: Die ersten Ideen zu diesem pädagogischen Leitbild sind bereits 1978 in Vorbereitung eines wissenschaftlichen Kongresses am Institut für Sportwissenschaft in Tübingen entstanden. Ommo Grupe, Gunnar Drexel und Horst Ehnie waren dabei meine Diskussionspartner, denen ich wichtige Anregungen zu verdanken habe.

Letzte Bearbeitung: 24. April 2022