Hall of Fame – Ein sportpolitisches Desaster

In diesen Tagen wird einmal mehr die sogenannte Hall of Fame, die Ruhmeshalle des deutschen Sports in Frage gestellt. Wie in der Sprache des deutschen Sports mittlerweile üblich bedient man sich dabei eines Anglizismus, um jenen Ort zu benennen, an dem nachfolgende Generationen sich des Ruhmes herausragender Sportler und Sportfunktionäre erinnern sollen. Beim Wort Ruhmeshalle denkt man an ein besonderes Gebäude, entworfen und gestaltet von einem berühmten Architekten, das möglichst in der Hauptstadt unserer Republik gebaut wurde, und in dem der Ruhm der zu ehrenden Persönlichkeiten durch deren visuelle und möglicherweise auch auditive Präsenz zum Ausdruck gebracht wird. Ähnlich wie bei den vielen mittlerweile berühmt gewordenen „Walk of Fames“, bei denen der Betrachter anhand von Fußabdrücken die Vita und sportlichen Erfolge herausragender Athleten erfahren kann, soll auch eine Ruhmeshalle ein Ort der Erinnerung sein, die eine interaktive Qualität besitzt und bei der möglichst auch ein didaktisches Anliegen zum Tragen kommt. Die für den deutschen Sport 2006 eröffnete Hall of Fame hat eine ganz andere Qualität. Sie ist nicht handfest real, sondern sie ist virtuell. Sie ist also überall und nirgendwo. Der Besuch erfolgt über einen Blick auf eine Internetseite und die Verweilzeiten in dieser Halle können sehr kurz aber auch sehr lang sein. Genaue Zahlen über die Besucher werden nicht veröffentlicht. Im praktischen Alltag des deutschen Sports ist diese Halle jedoch völlig irrelevant. Dennoch sorgt sie immer dann für Diskussionen, wenn neue Athletinnen und Athleten oder neue Persönlichkeiten des Sports in diese Halle berufen werden sollen.

Jüngst ging es um einen mittlerweile 80-jährigen Mann namens Gustav-Adolf „Täve“ Schur, der vor mehr als 50 Jahren der erfolgreichste Radrennfahrer der DDR gewesen ist. Bei den sogenannten Friedensfahrten durch die DDR, die er mehrfach gewonnen hatte, war er der Liebling der Bürger des zweiten Deutschen Staates. Als Sohn einer Arbeiterfamilie repräsentierte er in ganz besonderer Weise den Arbeiter- und Bauernstaat DDR. Mehr als 20 Jahre nach der Vereinigung war  nun zu entscheiden, ob dieser ehemaligen Leistungssportler in die deutsche Ruhmeshalle aufgenommen werden kann und einmal mehr wurde diese Möglichkeit verworfen. Der Fall Täve Schur wirft viele Fragen auf.

Was glauben die für die Hall of Fame verantwortlichen Funktionäre, wann ein Athlet alt genug ist, dass er  in die Hall of Fame aufgenommen werden kann? Wie lange muss er seine Karriere beendet haben, um die besondere Würde für einen Eintrag in der Hall of Fame aufzuweisen? Warum wurden einige Athleten direkt nach Beendigung der Karriere in diese Halle berufen, andere erst nach ihrem Tod? Viel wichtiger allerdings ist die Frage, nach welchen Kriterien entschieden wird, ob jemand ausreichend würdig ist, damit dessen Ruhm in der Ruhmeshalle zur Darstellung gebracht wird. Ist Mitgliedschaft in der NSDAP ein Ausschlusskriterium? Offensichtlich nein. Denn einige Mitglieder dieser Partei finden sich in der Hall of Fame wieder. Welchen sportlichen Erfolg muss man nachweisen, um in die engere Auswahl zu kommen? Olympiasieg und Weltmeistertitel reichen offensichtlich nicht aus. Müssen sie mehrfach nachgewiesen werden oder können auch ohne solche Erfolge Athleten aus ganz anderen Gründen in die Hall of Fame aufgenommen werden? Welche Persönlichkeitsmerkmale muss ein Athlet aufweisen, um den Gütekriterien einer Hall of Fame zu entsprechen? Muss er sich durch besondere Fair Play-Gesten auszeichnen, die möglicherweise plakativ zur Schau gestellt wurden und die darüber hinaus in einem fairen Sport eine Selbstverständlichkeit darstellen müssten? Ist es eher eine besondere rhetorische Begabung, die man erwartet? Oder hat sich der Athlet gut gegenüber der Presse dargestellt, wenn die Sportpolitiker erfolgreiche Athleten als außergewöhnliche Persönlichkeiten herausstellen? Die Frage, was eine außergewöhnliche Persönlichkeit kennzeichnet, ist nicht nur im Sport sehr schwierig zu beantworten und es müsste eigentlich naheliegend sein, dass man auf Persönlichkeitsbewertungen bei einem derartigen Auswahlprozess bewusst verzichtet, da sie notwendigerweise subjektiv sind und von Sympathie und Antipathie geprägt sein können. Ganz grundsätzlich muss man sich jedoch auch fragen, warum man als organisierter Sport Ruhm benötigt und welche Funktion der in der Hall of Fame gerühmte Athlet für das System des Sports haben soll. Meist ist dabei von der Vorbildrolle die Rede, obgleich die Vorbildfunktion von Sportlern für andere Menschen nicht nur von Wissenschaftlern äußerst umstritten ist. Viele Athleten lehnen zu Recht eine Vorbildrolle ab. Sie möchten sich auch nicht in diese Rolle zwingen lassen. Und möglicherweise kann es überraschen, wenn man feststellt, dass in der bestehenden Hall of Fame des deutschen Sports eine ganze Reihe von Athleten berufen wurden, die zum einen keine Vorbildrolle für sich beansprucht haben, und deren Handeln zum anderen ganz offensichtlich nicht vorbildlich gewesen ist. Nicht nur bei den Namen Becker, Hoeneß, Beckenbauer, Matthäus, Drechsler, Gienger oder Neckermann stellt sich die Frage, welche Werte des Sports durch sie repräsentiert werden sollen. Stellt man all diese Fragen, so kommt man bald zu der wichtigsten Frage, nämlich ob der Sport überhaupt eine Hall of Fame benötigt.

Allein die hier nur skizzenhaft vorgetragenen Einwendungen deuten darauf hin, dass die Frage vermutlich nur so beantwortet werden kann, dass man den Verantwortlichen des deutschen Sports empfehlen kann, möglichst schnell die Tore ihrer Hall of Fame zu schließen und das virtuelle Spiel zu beenden. Jedem gutem Athleten und jeder guten Athletin sollte vielmehr eine ständige Bühne geboten werden, in der sie sich mit all ihren Merkmalen und ihrer Persönlichkeit darstellen können. Die Aktions- und Präsentationsleistungen der Spitzensportler werden dabei eine ausreichende Ausdruckskraft haben, um unserer Gesellschaft zu verdeutlichen, um was es im deutschen Hochleistungssport geht, für welche Prinzipien und Werte dieser Sport sich einsetzt. Dies schließt auch ein Erinnern an frühere sportliche Leistungen mit ein. Dank der Massenmedien, die den Sport begleiten, hat dieses sich Erinnern durchaus seine Bedeutung und wurde und wird in der Berichterstattung über den Sport auch ausreichend praktiziert. Eine Hall of Fame, die ohnehin nur ganz selten besucht wird, ist hierfür nicht notwendig. Es sei denn, man wünscht sich regelmäßig ein Spektakel, wie es im Fall von Täve Schur inszeniert wurde.

Täve Schurs sportliche Leistungen habe ich als Jugendlicher über die westdeutsche Berichterstattung mitverfolgen können. Später habe ich das Sportecho der DDR gelesen und die Propaganda wahrgenommen, die die SED über sportliche Erfolge von Sporthelden der DDR praktizierte. Nach der Vereinigung begegnete ich Täve Schur mehrfach bei Veranstaltungen des wiedervereinigten deutschen Sports. Ich habe ihn dabei als äußerst sympathischen Menschen erlebt, der authentisch über seine Sportvergangenheit zu berichten wusste. Er war als Sohn einer Arbeiterfamilie überzeugter Kommunist in der DDR und ist dies bis heute in gewisser Weise geblieben. Deshalb war es für ihn naheliegend, nach der Wiedervereinigung Mitglied der Partei der PDS zu werden und für diese Partei dem Deutschen Bundestag anzugehören. Es war und ist auch naheliegend, dass aus seiner Sicht das Sportsystem der DDR äußerst positiv zu bewerten ist. In der DDR wurden Spitzenathleten vom Talent bis zum olympischen Sieg systematisch und engagiert gefördert. Die Ausbildung der Trainer hatte höchste Qualität. Die Sportwissenschaft der DDR war weltweit führend. Während der Existenz der DDR und auch danach wurden zentrale Strukturen dieses Systems  in den westlichen Sportnationen übernommen und imitiert, weil sie sich in der DDR als erfolgreich erwiesen hatte. Wer von Täve Schur eine Distanzierung vom DDR-Sportsystem erwartet, legt ihm einen Selbstbetrug nahe. Er hingegen bleibt überzeugter Kommunist oder Sozialist bei seiner Anschauung über das vergangene System und möchte sich nicht selbst verleugnen. Diejenigen, die ihn für die deutsche Hall of Fame als nicht würdig erachtet haben, sollten sich die Frage stellen, wie sie diese Charaktereigenschaften, die Schur auf diese Weise zum Ausdruck bringt einschätzen und ob es nicht gerade diese Charaktereigenschaften sind, die ihn geradezu prädestinieren, Mitglied einer deutschen Hall of Fame zu sein. Möglicherweise ist Schur vorzuwerfen, dass er mit seinem Bekenntnis zur ehemaligen DDR und deren Sportsystem indirekt immer auch den damaligen systematischen Dopingbetrug rechtfertigte. Ein besonderes Engagement im Anti-Doping-Kampf ist mir auch nicht für die Zeit bekannt, in der Täve Schur Mitglied des Sportausschusses des Deutschen Bundestages gewesen ist. Betrachtet man dies als entscheidendes Ausschlusskriterium, was durchaus sinnvoll wäre, so würde sich die Zahl der Mitglieder der deutschen Hall of Fame vermutlich sehr schnell halbieren. Der Anti-Doping-Kampf der in der Hall of Fame versammelten Athletinnen und Athleten ist ganz gewiss kein Ruhmeszeichen für diese besondere Halle. Angesichts der Diskussion über die Mitgliedschaft von Täve Schur in einer Ruhmeshalle des deutschen Sports, die alles andere als ruhmreich gewesen ist, möchte man sich wünschen, dass Täve Schur selbst die Konsequenzen aus dieser Diskussion zieht und darum bittet, dass man in der weiteren Zukunft niemals darüber nachdenken sollte, ob er in diese Ruhmeshalle einziehen darf, da er sich einem Eintritt in die Halle verweigern würde.

Verfasst: 23.05.2017