Bei Olympischen Spielen ist es längst üblich geworden, dass Experten des Sports über den Ausgang der Spiele Prognosen wagen. Für Sotschi 2014 war dies auch der Fall. Die Verantwortlichen des DOSB hatten dabei für die deutsche Nationalmannschaft auf der Grundlage einer Expertise seiner hauptamtlichen „Abteilung Leistungssport“ die Prognose von 30+ gewagt. Das tatsächliche Resultat von 19 Medaillen ist mittlerweile allen bekannt und es stellt sich die Frage, wie es zu einer derart großen Differenz zwischen Prognose und Realität hat kommen können. Interessant ist dabei, dass in fünf weiteren Prognosen der Erfolg der deutschen Mannschaft weit weniger optimistisch eingeschätzt wurde. Das NOK von Kanada sagte 26, Associated Press 25, Infostrada 29, Sport Illustrated 30 und Sport-Express Russia 21 Medaillen voraus. Würde man der DOSB Prognose folgen, so wäre Deutschland am Ende auf dem zweiten anstelle des sechsten Platzes im Medaillenspiegel gelandet. Kanada hat für Deutschland den vierten, AP den fünften, Infostrada und Sport Illustrated den vierten und Sport-Express Russia den fünften Platz prognostiziert. Am genauesten waren die Prognosen von Sport-Express Russia, immerhin hatten sie 34 Medaillen für das russische Team prognostiziert, 33 sind es am Ende gewesen. Norwegen und Kanada wurden von den meisten Experten ebenfalls nahezu korrekt eingeordnet. Am meisten unterschätzt wurden die Niederlande.
Prognosen sind eine schwierige Angelegenheit. Sie können richtig und falsch sein, sie müssen jedoch nicht notwendigerweise falsch sein, nur weil sie nicht eingetreten sind. Unsere Zukunft ist offen und manche Prognose kann auch zum Ziel haben, dass das Prognostizierte in der Realität möglichst nicht eintritt. Dennoch müssen Prognosen nach den Kriterien gut oder schlecht und richtig oder falsch beurteilt werden und es muss gefragt werden welche Personen die jeweiligen Prognosen zu verantworten haben. Die deutsche Prognose zum Erfolg der deutschen Olympiamannschaft bei den Winterspielen von Sotschi war ohne Zweifel schlecht und sie wies ganz offensichtlich erhebliche Fehler auf. Irritierend war dabei die offensichtlich vorliegende Selbstüberschätzung der deutschen Experten in Bezug auf die Erfolgsmöglichkeiten unserer Nationalmannschaft. Immerhin haben die Expertenteams aus Kanada, England, Italien, USA und Russland der deutschen Mannschaft erheblich weniger Medaillen zugetraut als die deutschen Experten und von einem zweiten Rangplatz sind deren Prognosen weit entfernt.
Der Vergleich zwischen deutscher Realität und deutscher Prognose weist die Frage auf, in wie fern die Verantwortlichen für diese Prognose über die ausreichende fachliche Kompetenz verfügen, um den sportlichen Erfolg der deutschen Mannschaft prognostizieren zu können. Diese Frage ist an den damaligen Generalsekretär ebenso wie an die Vizepräsidentin Leistungssport und an den zuständigen Abteilungsleiter im DOSB zu richten. Es muss aber auch gefragt werden, ob die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Abteilung im Vergleich zur internationalen Konkurrenz ausreichend fachlich kompetent sind. Dringend stellt sich dabei auch die Frage, welche Weiterqualifikationen und Weiterbildungen in Bezug auf die Führung und Steuerung des deutschen Hochleistungssports in der nahen Zukunft notwendig sind, damit sich die Steuerungskompetenz im Vergleich zur internationalen Konkurrenz als ausreichend erweist. Es wäre jedoch falsch, würde man das angebliche Versagen der deutschen Nationalmannschaft ausschließlich der Führung und den hauptamtlichen Mitarbeitern innerhalb der Abteilung Leistungssport im DOSB zuschreiben. Dabei muss zunächst festgestellt werden, dass von einem Versagen der deutschen Olympiamannschaft, d.h. der nominierten Athletinnen und Athleten, meines Erachtens nicht gesprochen werden konnte. Die Mannschaft war vorbildlich aufgetreten, die Athletinnen und Athleten waren bemüht ihr Bestes zu geben, viele konnten Saisonbestleistungen erreichen und die große Mehrheit konnte in Sotschi großartige Erfolge einfahren. Erfolge sind jedoch immer nur dann möglich, wenn andere gleichzeitig Niederlagen zu verarbeiten haben. Sieg und Niederlage hängen auf das Engste miteinander zusammen und mancher Finalplatz hätte mit etwas mehr Glück auch ein Medaillenplatz sein können. Gewiss sind die erreichten Medaillen ein zwingend notwendiger Maßstab zur Beurteilung der Athleten, Trainer und letztendlich auch der Verbandsarbeit in den olympischen Verbänden. Olympische Medaillen sind nach wie vor zeitgemäß auch wenn dies derzeit etwas vorschnell von einigen Experten gegenteilig beurteilt wird. Folgt man der Logik des Hochleistungssports, so hat der Sieg-Niederlage-Code zu gelten und erste Plätze sind wertvoller als zweite oder dritte Plätze. Dass man die erreichten guten Plätze zählt ist dabei naheliegend. Naheliegend ist auch, dass man seine Ziele vorher in Bezug auf die Plätze definiert und dass man sich von außen daran messen lässt. Den DOSB für nicht erreichte Plätze verantwortlich zu machen ist jedoch eine vorschnelle Milchmädchenrechnung. Verantwortlich für Sieg und Niederlage ist zunächst und vor allem der jeweilige Athlet, in der zweiten Reihe zeichnet der Trainer für Erfolg und Misserfolg verantwortlich und nicht zuletzt sind es auch die Organisationsstrukturen der jeweiligen Fachverbände, die über Sieg und Niederlage entscheiden. Hier zeichnen sich in einigen Fachverbänden schon seit längerer Zeit erhebliche Probleme ab. Notwendige Reformen wurden versäumt und Trainings- und Wettkampfqualität entsprechen nicht mehr internationalen Ansprüchen. Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen für das Leistungssportpersonal sind mangelhaft, ein internationaler Wissensaustausch in der Trainerschaft ist ungenügend und zielführendes Wissensmanagement ist eher ein Fremdwort. Einige Spitzenverbände müssen geradezu als autistisch bezeichnet werden in Bezug auf den Umgang mit ihren eigenen Problemen. Sportarten bei denen der Erfolg u.a. vom Material abhängt, müssen dabei auch ihr technologisches Umfeld auf den Prüfstand stellen und in jenen Disziplinen, bei denen es vor allem auf Schnelligkeit, Kraft oder Ausdauer ankommt, stellt sich die Frage der Trainingsqualität und -intensität. Die nicht erreichten Erfolge beim Bobfahren, im Eisschnelllauf, im Langlauf und im Biathlon können in naher Zukunft durchaus korrigiert werden. Bereits die Spiele in Pyeongchang 2018 können ohne Zweifel ein sehr viel erfreulicheres Leistungsbild aufweisen, als dies in Sotschi der Fall war. Hohe optimistische Prognosen verbieten sich dabei allerdings von selbst. Sotschi hat gezeigt, dass auch im Wintersport immer mehr Nationen Medaillenchancen haben – allein 26 Nationen haben mindestens eine Medaille und mehr erringen können und große Sportnationen wie Großbritannien, Finnland, Italien und die Ukraine mussten sich dabei mit wenigen Medaillen begnügen. Kann Deutschland in dieser internationalen Konkurrenz auf Dauer einen Platz unter den besten fünf Nationen sichern, so ist dies durchaus ein schöner Erfolg und als eine Bestätigung für eine kompetente Führungsarbeit zu beurteilen.
letzte Überarbeitung: 04.12.2017