Fair Play und Gerechtigkeit – das IOC stellt sich schützend vor seine wichtigsten Prinzipien

Nie zuvor in der Geschichte der Olympischen Bewegung hat sich ein Executive Board des IOC in einer Eindeutigkeit schützend vor seine wichtigsten Prinzipien, die Prinzipien des Fair Play und der Gerechtigkeit gestellt, wie dies bei dem Beschluss der Fall ist, das Russische Olympische Komitee (ROC) von den Olympischen Spielen in Pyeongchang auszuschließen. Nach der Publikation des McLaren-Berichts über die skandalösen russischen Dopingmanipulationen aus Anlass der Olympischen Spiele von Sotschi war es immer wieder zu effekthaschenden Forderungen einzelner Funktionäre gekommen, Russland von den Olympischen Spielen in Rio und von allen weiteren Spielen auszuschließen. In einem massenmedialen Spektakel, das seinesgleichen sucht, stand diese Forderung auf der Tagesordnung sämtlicher Medien, ohne dass auch nur annähernd deren juristische Angemessenheit ein einziges Mal überprüft wurde. Das IOC hat sich unter Führung von Bach hartnäckig und konsequent dieser Forderung widersetzt und hat sich vielmehr einer sachlichen Arbeit verpflichtet. Es wurden zwei Untersuchungskommissionen eingerichtet und beide mit ausreichender Kompetenz ausgestattet. In seinem Beschluss über den russischen Dopingskandal ist die IOC-Executive nun voll und ganz den Empfehlungen ihrer Untersuchungskommissionen gefolgt, hat jede Beeinflussung von außen abgewehrt und damit zumindest in Bezug auf diesen Beschluss eine wünschenswerte und politisch ausgesprochen bedeutsame Neutralität bewiesen, die man dem IOC auch bei zukünftigen Entscheidungen wünschen möchte.

Die Grundlage des Russland-Beschlusses des IOC ist vorrangig der Abschlussbericht der Untersuchungskommission unter Leitung von Samuel Schmid, dem ehemaligen Präsidenten der Schweiz. In diesem Bericht wird die systematische Manipulation des Anti-Doping-Systems in Russland in allen Details rekonstruiert und dabei wird vor allem der Manipulationsprozess erläutert, der sich im Labor während der Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014 ereignet hat. Schmid mit seiner Kommission schlägt dem IOC ausdrücklich vor, dass der saubere Athlet mit seinen individuellen Rechten zu schützen ist. Er fordert aber auch, dass strenge Maßnahmen zu ergreifen sind gegenüber allen, die unter gesetzlichen Gesichtspunkten für den Dopingskandal in Russland verantwortlich sind. Die Beschlüsse, die das IOC auf der Grundlage dieses Berichts getroffen hat sind radikal und folgenreich zugleich. So wird das Russische Olympische Komitee ab sofort suspendiert. Russische Athleten können zu den Spielen in Pyeongchang 2018 eingeladen werden, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllen. Sie können dort aber nur unter dem Namen „Olympic Athlete from Russia“ (OAR) starten. Sie können Sportkleidung mit diesem Namen tragen, ihre Fahne wird die olympische Fahne sein und bei Zeremonien ist die olympische Hymne zu spielen. Für die Spiele von Pyeongchang kann kein Mitglied des russischen Ministeriums für Sport eine Akkreditierung erhalten. Der ehemalige Minister für Sport, Witali Mutko und sein Stellvertreter Juri Nagornik werden für alle zukünftigen Olympischen Spiele ausgeschlossen. Dmitri Tschernyschenko, der CEO von Sotschi 2014 wird aus der Coordination Commission Peking 2022 ausgeschlossen und der Präsident des Russischen Olympischen Komitees, Alexander Schukow, ist für die Dauer der ROC-Suspendierung als IOC-Mitglied ebenfalls suspendiert. Das Russische Olympische Komitee wird darüber hinaus zur Zahlung von 15 Millionen US-Dollar verurteilt, damit die Kosten getragen werden können, die durch das Verfahren entstanden sind und gleichzeitig die Internationale Testing Authority (ITA) aufgebaut werden kann, die den globalen Anti-Doping-Kampf weiter voranbringen soll. Die Suspendierung des russischen NOK kann ab Beginn der Schlussfeier der Olympischen Winterspiele Pyeongchang 2018 teilweise oder ganz aufgehoben werden, wenn die Entscheidung der IOC-Exekutive vom ROC, den Athleten und den Offiziellen voll akzeptiert worden ist. Russische Athleten, die bei den Spielen in Pyeongchang unter neutraler olympischer Flagge teilnehmen wollen, werden von einer unabhängigen Kommission überprüft. Den Vorsitz dieser Kommission hat die frühere französische Sportministerin Valerie Fourneyron, die Vorsitzender der ITA, übernommen. Es gehören ihr außerdem Mitglieder der Pre-Games Anti-Doping Taskforce und Mitglieder der WADA an.

Wie nicht anders zu erwarten wurde der Beschluss der IOC-Executive insbesondere in den deutschen Medien als halbherzig diskutiert und kritisiert. „Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück“, „Beißhemmung beim IOC“, „Das Sowohl-als-auch-Komitee“ – so glauben Kommentatoren diesen Beschluss beurteilen zu müssen. In einem Bericht der ARD Tagesschau und in einer ARD Extrasendung wurden mittels längst überholter Dokumente bereits mehrfach wiederholte Vorwürfe gegenüber IOC-Präsident Bach erhoben, dass er sich Präsident Putin angedient habe und von ihm abhängig sei. Niemand fragt, ob es angesichts rechtsstaatlicher Prinzipien einen anderen Beschluss der IOC-Executive in dieser Sache hätte geben können. Wäre das IOC den angeblichen oder selbsternannten Experten und deren Ratschlägen gefolgt, so hätte man Russland auf der Grundlage der McLaren-Berichte sowohl von den Sommerspielen in Rio als auch von den Winterspielen in Pyeongchang ohne weitere juristische Verfahren ausschließen müssen. Dabei handelt es sich bei dem McLaren-Report nicht einmal um eine Anklageschrift. Es ist vielmehr ein Bericht, der von der WADA in Auftrag gegeben wurde und auf dessen Grundlage notwendige juristische Verfahren einzuleiten sind.

Folgen wir für einen Moment den Kritikern, die einen Ausschluss Russlands auf der Grundlage der McLaren-Berichte gefordert haben. Ihre Ausschlussforderung war zunächst auf die Olympischen Spiele in Rio ausgerichtet und wurde mit Blick auf die Olympischen Winterspiele in Pyeongchang wiederholt. Die Spiele in Rio hätten demnach ohne russische Athletinnen und Athleten stattgefunden, so wie in acht Wochen in Pyeongchang die Spiele unter Ausschluss aller russischen Athleten stattfinden würden. Aus den Spielen von Rio wären somit Athleten ausgeschlossen gewesen, in deren Sportarten weder ein genereller Dopingverdacht besteht, noch hat es Nachweise des Dopings gegenüber den ausgeschlossenen Athleten auf der Grundlage des McLaren-Berichts gegeben. Der Beschluss des IOCs wäre lediglich auf der Grundlage des McLaren-Reports erfolgt, der im Wesentlichen auf den Aussagen eines Kronzeugen beruht, der selbst in zentraler Position im russischen Betrugssystem den Dopingbetrug Russlands mit zu verantworten hatte. Eine Einbeziehung der olympischen Verbände hätte aus zeitlichen Gründen nicht erfolgen können, obgleich über das Startrecht bei Olympischen Spielen vorrangig die olympischen Verbände selbst zu entscheiden haben. Deren Entscheidungsbefugnis wäre somit außer Kraft gesetzt gewesen. Eine Anhörung der Beteiligten, insbesondere der Beschuldigten, hätte nicht stattgefunden. Wäre eine Kollektivbestrafung des IOC auf der Grundlage eines derartigen Verfahrens erfolgt, so hätte das IOC mit seiner Entscheidung jeglichen rechtsstaatlichen Boden verlassen. Den Applaus populistischer Juristen wäre man sich dabei wohl sicher gewesen. Nicht weniger wäre der skandalöse Durst der Massenmedien befriedigt worden. Unter ethischen Gesichtspunkten hätte es für diese Vorgehensweise jedoch keine Rechtfertigung gegeben. Die Prinzipien des Fair Play und der Gerechtigkeit wären dem massenmedialen Markt geopfert worden, auf dessen Einsicht leider auch in Zukunft nicht zu setzen ist. Für die deutschen Tageszeitungen sind die Maßnahmen des IOC „Pseudosanktionen“, „Bach beschädigt demnach die olympische Idee“ und „das IOC baut Russland goldene Brücken“. Für die ARD ist die Entscheidung eine „Mogelpackung“ und Bach ist, wie es in der deutschen Presse längst üblich geworden ist, „der opportunistische Freund von Putin“.  Die SPD-Funktionärin Freitag glaubt Bach „Kungelei“ vorwerfen zu müssen und behauptet von Absprachen zwischen Putin und Bach zu wissen. Belege werden für all diese Vorwürfe nicht erbracht. Das Feindbild Bach bedarf ganz offensichtlich einer deutschen Pflege. Von einem unabhängigen Journalismus, für den die fundierte Recherche das besondere Qualitätsmerkmal ist, kann dabei ganz gewiss nicht die Rede sein.

Der Schutz des Individuums und die Würde der Person werden bei dieser Art von Kritik ganz offensichtlich nur sehr gering erachtet. Die individuelle Freiheit des Individuums, die jedoch ein zentrales Merkmal einer modernen Demokratie darstellt, wird suspendiert. John Rawls hat deshalb in seiner Theorie der Gerechtigkeit mit Nachdruck den folgenden Grundsatz formuliert: „Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohls der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann. Daher lässt es die Gerechtigkeit nicht zu, dass der Verlust der Freiheit bei einigen durch ein größeres Wohl von anderen wettgemacht wird“ (John Rawls, A theory of Justice, 1971, 9).

Mit den Begriffen Gerechtigkeit und Fairness wird das eigentliche Problem des russischen Dopingskandals angesprochen, das bislang allerdings nur sehr unzureichend bearbeitet wurde. Schon seit längerer Zeit wird die Suche nach der Gerechtigkeit im System des Sports auf eine juristische Frage verkürzt. Juristen gelten als die einzigen ethischen Experten, obgleich die Ethik als Theorie der Moral eine philosophische Teildisziplin darstellt, welche vor allem in der Theologie, Pädagogik und Soziologie von Bedeutung ist. Doch in den Ethikkommissionen des Sports finden sich ausschließlich Juristen, die sich meist nicht bewusst sind, dass ihr juristisches Handeln auf philosophischen Grundlagen beruht. Die Fragen die im Sport zu klären sind, sind keineswegs so eindimensional zu beantworten, wie dies von diesen Juristen angenommen wird. Der russische Dopingskandal ist in erster Linie eine sportethische Herausforderung. Es geht im Zentrum um die Fragen des Fair Play und der Gerechtigkeit.

Bei der ethischen Diskussion dieser Fragen gibt es durchaus die Möglichkeit Individuen zu bestrafen, ohne dass diesen eine konkrete Tatbeteiligung nachgewiesen werden muss. Die Möglichkeit einer Kollektivhaftung ist unter ethischen Gesichtspunkten somit gegeben. Eine kausale Zuordnung einer Tat wird dabei durch eine kollektive Zurechnung ersetzt. Beispielhaft könnte hierbei die Rechtsprechung zur italienischen Mafia sein, wo alleine die Zugehörigkeit zur „cupola“ Grund genug ist, um die Mitglieder der „cupola“ kollektiv zu bestrafen. Auch in der Frage der Umwelthaftung gibt es tragfähige Argumente, die eine Kollektivhaftung nahelegen. Eine Grundbedingung dabei ist jedoch, dass die Verluste individueller Verantwortung durch Gewinne durch die Kollektivverantwortung aufgewogen werden sollten. Ist dies nicht der Fall, so sollte die Individualhaftung der Kollektivhaftung vorgezogen werden. Wenn es eine Systemverantwortung und damit eine Systemschuld gibt, dann ist streng zu prüfen, ob es für diese systemische Verantwortung nicht eine weitere Verantwortung, und zwar ein personale gibt.

Im System des Sports sind jedoch diese Bedingungen nur bedingt oder gar nicht anzutreffen. Zum einen ist die Frage der Mitgliedschaft des Athleten zur „cupola“ des russischen Sportsystems nicht geklärt. Wie überhaupt die Frage der Mitgliedschaft von Spitzensportlern nur unklar beantwortet wird. Die große Mehrheit ist nicht einmal Mitglied eines eingeschriebenen Vereins. Ungesichert ist auch die Mitgliedschaft von Funktionären, Politikern, Ärzten und Trainern. Viele Beispiele aus der Vergangenheit haben gezeigt, dass deren Kollektivhaftung juristisch nur ganz selten durchzusetzen ist. Noch entscheidender ist, dass ein Zugewinn an Gerechtigkeit und Fair Play durch die Kollektivhaftung aller Athleten nicht sichtbar ist. Warum soll ein russischer Handballspieler, in dessen Sportart international über Jahrzehnte so gut wie keine Dopingfälle angemahnt wurden, von den Olympischen Spielen ausgeschlossen werden, obgleich er jährlich mehrere Tests über sich hat ergehen lassen und sich dabei immer als sauberer Athlet erwiesen hat. Warum soll dieser Athlet für die Korruption und die Verbrechen seiner Funktionäre haften, die er möglicherweise noch nie gesehen hat und deren Handeln er aus naheliegenden Gründen nicht beeinflussen kann? Ist es gerecht, wenn Athleten, die sich vier Jahre auf Olympische Spiele vorbereitet haben, der Start bei Olympischen Spielen verboten wird, hingegen ihre Funktionäre, insbesondere die verantwortlichen politischen Akteure in diesem Spiel, nach wie vor in Amt und Würden ihre Arbeit fortsetzen? Sportminister Mutko wird trotz des Beschlusses des IOCs von keinem seiner politischen Ämter entfernt werden. Er selbst hat sich freiwillig keiner seiner Einflüsse entzogen. Es ist auch bis heute nicht erkennbar, dass Staatspräsident Putin auch nur ein Zeichen von Reue und Einsicht erkennen lassen würde. Und die Annahme, dass ein Sportgericht Putin bestrafen könnte, ist geradezu lächerlich. Die Annahme, dass die Kleinen gehängt werden und die Großen davonkommen ist hingegen nach wie vor auch in diesem Fall berechtigt.

Bei einer Forderung nach Kollektivhaftung im Sport sind aber auch aus der Perspektive einer juristischen Gerechtigkeit Zweifel angebracht. Die Entscheidung zur Kollektivhaftung kann nur auf der Grundlage angemessener und ausgewogener Gesetze und schriftlich niedergelegter Regeln erfolgen. In diesen Gesetzen müsste das Verhältnismäßigkeitsprinzip beachtet werden, ebenso muss ein rechtmäßiger Strafvollzug garantiert sein. Es bedarf aber auch einer Verfahrensgerechtigkeit. Anerkannte Verfahrensregeln sind einzuhalten ohne Ansehen der Person. Inzwischen beschlossene tragfähige neue Regeln können rückwirkend keine Gültigkeit besitzen. Nur so kann eine Rechtsdisziplin bewahrt werden. Zu diesen anerkannten Regeln gilt vor allem, dass nur auf der Grundlage einer richterlichen Entscheidung die Frage nach der Kollektivhaftung entschieden werden kann. Diese Entscheidung hat es in Bezug auf das infrage gestellte russische Kollektiv bis heute nicht gegeben. Populistische Forderungen im Vorfeld einer solchen Entscheidung sind dabei mehr als fragwürdig. Insbesondere dann, wenn sie von Juristen vorgetragen werden, die es eigentlich besser wissen müssten. Schließlich gehört auch zur juristischen Gerechtigkeit eine formale Gerechtigkeit, die darauf hinweist, dass alle gleich gelagerten Fälle auch gleich zu behandeln sind. Wäre dies der Fall, so müssten aus naheliegenden Gründen vergleichbare Verfahren nicht nur gegen Russland eingeleitet werden. Indien, Kenia, Türkei, Marokko stehen ganz oben auf der Liste der verdächtigen Länder. Verdachtsmomente gibt es somit in Bezug auf viele Spitzensportnationen und bei manchem System, so zum Beispiel beim chinesischen Sportsystem, stellt sich auch die Frage, inwiefern es sich überhaupt von außen überprüfen lässt. Transparenz und Glaubwürdigkeit sind verständliche Forderungen. Die Frage nach ihrer Umsetzbarkeit ist jedoch bis heute nicht beantwortet.

Angesichts all dieser ungeklärten Fragen ist es mehr als angebracht, wenn auf allen Ebenen des Sports dem Individualstrafprinzip (Person-Schuld-Strafe) das Wort geredet wird. Möglichkeiten der Systemstrafe müssen dem Individualprinzip unterstellt werden, womit einer Systemstrafe, eine Strafe ohne personal schuldige Täter, eine Absage zu erteilen ist.

Verfasst: 11.12.2017