Wenn ein US-Amerikaner zum ersten Mal Europa besucht, sich für den Sport interessiert und sich darüber seine Vorstellungen machen möchte, so sind seine Erwartungen klar. So wie es bei allen Olympischen Spielen eine US-amerikanische Nationalmannschaft gibt, so gibt es auch eine Europäische Nationalmannschaft. Jährlich wird in 47 Einzeldisziplinen der europäische Leichtathletikmeister gesucht. Gleiches gilt für das Schwimmen und alle übrigen olympischen Sportarten. Am Ende eines jeden Jahres stehen die Europameister und damit die besten Sportler Europas fest und diese Athletinnen und Athleten vertreten den Kontinent bei den jeweiligen Weltmeisterschaften der internationalen Sportfachverbände.
Diese utopische Vorstellung von einem europäischen Sport muss nach einem längeren Aufenthalt des US-Amerikaners einer Ernüchterung weichen, die kaum zu übertreffen ist. Für die große Mehrheit jener, die sich selbst Europäer nennen, sind die Vorstellungen des US-Amerikaners weder wünschenswert noch sinnvoll. Sie haben nicht einmal den Charakter einer Vision. Sehr schnell wird dem US-Amerikaner allerdings klar, dass die Europäer selbst gar nicht wissen was Europa ist, welche Nationen dazugehören und welche nicht und welche Rolle sie dem Sport in Europa zumessen bzw. in der Zukunft zumessen wollen. Eine gemeinsame zukunftsorientierte Sportpolitik ist auf diesem Kontinent nicht zu erkennen.
Ist Europa das Europa der Europäischen Union oder ist es das Europa des Euro? Würde also der US-Dollar gegen den Euro, den Rubel, den Yen und den Juan bei den globalen Sportereignissen antreten? Ist Europa ein Nationenverbund wie die Vereinigten Staaten von Amerika, für die es kein Problem ist von einer Nationalmannschaft der Vereinigten Staaten zu sprechen? Warum ist dies in gleicher Weise für Europa derzeit völlig undenkbar?
Nicht weniger verwirrend sind die derzeitigen Erscheinungsformen des europäischen Sports, bei denen Europa als geografischer Ort eine bestimmte Rolle spielt. Zum ersten Mal in der europäischen Geschichte hat es 2015 Europäische Spiele in Baku gegeben, wie sie schon seit längerer Zeit für Asien (Asienspiele), Afrika (Afrikanische Spiele), Amerika (Panamerikanische Spiele) oder Ozeanien (Ozeanische Spiele) selbstverständlich sind. Die ersten Spiele haben allerdings in Aserbeidschan stattgefunden, einem Land, von dem man noch nicht sehr lange behaupten kann, dass es zu Europa gehört. Bei diesen Spielen ist es bis heute nicht klar, welchen Charakter sie haben werden. Die großen europäischen Sportverbände haben diese Spiele nicht gewollt und viele hatten auch nicht die Absicht daran teilzunehmen.
Unter Integrationsgesichtspunkten gab und gibt es in Europa einige Sportereignisse die sehr viel europäischer sind als dies für die Europäischen Spiele gilt, bei denen Nationen gegeneinander antreten. Dies gilt vor allem für den Weltcup der Leichtathletik, in dem sich seit 1977 eine Europaauswahl mit den besten Athleten und Athletinnen aus Asien, USA, Afrika zu vergleichen hat. Alle vier Jahre findet dieser Wettbewerb statt. Eine europäische Aufmerksamkeit hat er allerdings nur sehr bedingt gefunden. Eine Identifikation mit Europa ermöglicht auch der seit 1979 stattfindende Ryder-Cup. Hier tritt alle zwei Jahre ein europäisches Team gegen die besten Golfspieler der Vereinigten Staaten an. Eine wirkliche Identifikation der europäischen Bevölkerung mit der europäischen Ryder-Cup-Mannschaft ist allerdings nur bedingt zu erkennen. Die Spieler Europas werden dabei eher über ihre jeweilige Nationalität wahrgenommen. Die politische Idee „Europa“ spielt im Sport ganz offensichtlich nur eine äußerst nachgeordnete Rolle. Interessant ist auch die Idee der UEFA die Europäischen Fußballmeisterschaften zukünftig in mehreren Ländern gleichzeitig durchzuführen. 24 Nationalmannschaften würden in 13 verschiedenen europäischen Metropolen, in 13 verschiedenen Ländern spielen. Die gemeinsame Sprache Europas ist dabei die Sprache des Fußballs. Wirklich integrative Wirkungen lassen sich dabei für den Sport und Europa nicht erkennen.
Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass es ein Weißbuch des Sports der Europäischen Union gibt, dass sich das Europäische Parlament regelmäßig mit Sportfragen beschäftigt und dass die Europäische Union immer wieder finanzielle Mittel auslobt, um den Integrationsgedanken Europas mittels des Mediums Sports voranzutreiben. Der Sport als vielgerühmtes Medium der Integration und Inklusion, als sozialpolitisch bedeutsames Instrument und als Kommunikationsanlass zugunsten eines vereinten Europas ist auf europäischer Ebene ganz offensichtlich ein äußerst stumpfes Instrument. Eine visionäre europäische Sportpolitik ist in weiter Ferne, sie wird ganz offensichtlich von niemandem gewollt.
Dabei könnte es durchaus die sportliche Begegnung von Kindern und Jugendlichen sein, über die ein europäischer Gemeinschaftsgedanke aufgebaut, gepflegt und entwickelt werden könnte. Sommercamps, Skifreizeiten, Snow-Festivals und sich regelmäßig wiederholende Trainingslager mit Teilnehmern aus allen europäischen Mitgliedsländern der EU wäre gewiss ein bedeutsamer Baustein für ein dringend notwendiges europäisches Gemeinschaftsgefühl. Ein von der EU ausgerichtetes Interkontinentalfestival für Kinder und Jugendliche, bei dem sich unter anderem europäische Auswahlmannschaften mit den Teams der anderen Kontinente in ausgewählten Sportarten messen, wäre nicht nur für die Beteiligten ein nachhaltiges Erlebnis. Die Idee von einem vereinten Europa könnte dabei zumindest geträumt werden.
letzte Überarbeitung: 27.07.2018