Enzianblüten-ein Symbol der Befreiung

oder: Warum ein Sport-Lockdown nicht sinnvoll ist

Es ist Montag der 18. Mai 2020. Um 16:00 Uhr treffen sich die Marquartsteiner „Montags-Turner“ am Parkplatz der Realschule. Im Winter treffen sich die „Turner“ jeweils montags um 18:00 Uhr zu einem Fitness- & Gymnastiktraining. Michi H. ist der Übungsleiter. Ihm gelingt es immer wieder mit seinem vielfältigen Übungsrepertoire manch alten Knochen und lahmen Muskel wieder beweglicher zu machen. Von April bis Oktober sind die „Turner“ begeisterte Radfahrer. Die eine Gruppe zieht es mit ihren Mountainbikes, leicht stromunterstützt, auf die Almen und die Berge in der näheren Umgebung von Marquartstein. Die andere Gruppe radelt zum Chiemsee in die interessante Moorlandschaft bei Rottau und Staudach oder in die Täler und auf die kleineren Hügel des Chiemgauer Alpenvorlands. Im Winter sind auch viele der Turner als Langläufer, Tourengeher und als Alpinskifahrer aktiv.

Das Jahr 2020 wird für uns „Turner“ als historisches Mahnmal in Erinnerung bleiben. Anfang März wurde von heute auf morgen die Skisaison abgebrochen, wenige Tage später musste auch der Turnbetrieb eingestellt werden und wir Turner mussten uns als Risikogruppe einordnen lassen. Der jüngste unserer sportbegeisterten Gruppe ist wohl erst 62 Jahre alt. Doch über 80 Jahre alt sind bereits acht unserer Turner und unser Alterspräsident hat bereits das 93.Lebensjahr erreicht. Wegen der Coronapandemie war nun jeder auf sich allein gestellt. Das Gesundheitselixier „Spiel, Sport und Bewegung“ war plötzlich nicht mehr erlaubt.

Über kaum eine andere Botschaft haben sich deshalb die Turner mehr gefreut, als über die Zusage der bayerischen Regierung, dass der Sportbetrieb im Freien ab Anfang Mai wieder aufgenommen werden darf. Bei einem zufälligen Treffen im Sprechzimmer eines Marquartsteiner Arztes (denn die bewegungslose Zeit hatte für manchen Montagsturner gefährliche gesundheitliche Folgen) haben dann Michi H. und zwei weitere Turner sofort den nächst möglichen Montag ins Auge gefasst, und so kam es, dass die außergewöhnliche Radsaison 2020 mit einer Rekordteilnehmerzahl begonnen werden konnte. Jan B. führte seine Gruppe der „Flachradler“ der Ache entlang nach Schleching und zum Schmugglerpfad. Für die Bergtouren-Radler hatte Michi die Enzianblüte auf der Oberauerbrunstalm als Ziel auserkoren. Die Trainingsrückstände, verursacht durch den Lockdown, machten sich beim Aufstieg durchaus bemerkbar. Umso lohnender war das Ziel. Die Enzianblüte wurde wie eine Befreiung erlebt. Eines der schönsten Marterl, umgeben von einer einmaligen Blütenpracht, erwies sich einmal mehr als ein magischer Ort. Mit dem gebotenen Abstand saßen wir andächtig unter dem Kreuz und haben die klare und frische Luft, den Weitblick auf den Wilden Kaiser und die Lofer Steinberge genossen. Auch ohne Brotzeit und Bier konnten wir die heilenden Kräfte einer Erholungspause nach einer anstrengenden körperlichen Belastung genießen. Bei der Abfahrt ins Tal war besondere Vorsicht angeraten. Steile Geröllpassagen und enge Kurven waren dabei zu meistern. Den Abschluss unserer gemeinsamen Montagstour bildete eine Brotzeit im wiedergeöffneten Biergarten der „Zellerwand“. Aufgeteilt in Kleingruppen, bedient von freundlichen Damen im Dirndl, deren Schönheit auch durch Masken nicht beeinträchtigt werden konnte, verbrachten wir einen schönen Abend, der für immer in Erinnerung bleiben wird.

Am 17.3.2020 habe ich in dem Essay „Sport in Zeiten der Corona-Pandemie“ einige Überlegungen angestellt, was die Coronapandemie für den Sport bedeuten könnte. Folgendes habe ich dabei unter anderem ausgeführt:

Gebetsmühlenhaft wiederholen die führenden Politiker, die Bundeskanzlerin, die Ministerpräsidenten der Bundesländer, die Gesundheits- und Innenminister die Empfehlungen von biologischen Experten. Die Frage, ob die Expertise der Virologen wissenschaftlich abgesichert ist, ob Ihre Empfehlungen fundiert sind und ob ihre Handlungsanweisungen angemessen sind, können dabei von unserer Laiengesellschaft, zu der auch die Politiker hören, nicht beurteilt und beantwortet werden. Konträre Meinungen scheinen dabei ganz offensichtlich nicht erwünscht zu sein, wenngleich auch Laien die Frage nach der statistischen Qualität der veröffentlichten Daten zur Entwicklung des Coronavirus stellen sollten. Auch muss gefragt werden ob eine spezialwissenschaftliche Virologie über die notwendige gesellschaftspolitische Kompetenz verfügt, um die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge ihrer Entscheidungen angemessen zu beurteilen und ob sie selbst die medizinischen Gesamtzusammenhänge ausreichend beachten, die von ihren Empfehlungen und Entscheidungen betroffen sind.

Wenige Tage später kam es zum sog. „Lockdown“ in Deutschland. Seit dem 22. März musste der gesamte Sportbetrieb in Deutschland eingestellt werden. Weder Einzel- noch Mannschaftssport waren seitdem für nahezu zwei Monate erlaubt. Trainieren, Wettkämpfe ausüben und Meisterschaften waren verboten. Der gesamte Breiten- und Freizeitsport musste nahezu vollständig eingestellt werden. Das Leben der mehr als 90.000 Turn -und Sportvereine kam zum Erliegen.

In diesen Tagen (11. Mai 2020) meldete sich Perikles Simon in einem bemerkenswerten FAZ-Interview mit der Aussage zu Wort: „Der Sport weiß mehr als die Virologie“. Damit hatte er allerdings nicht die politisch Verantwortlichen im deutschen Sport gemeint, die nahezu ausnahmslos den „Sport-Lockdown“, verhängt durch die Bundesregierung und die Landesregierungen, nahezu kritiklos hingenommen haben. Gemeint hat er als Mediziner vielmehr das außergewöhnlich große gesundheitspolitische Potential einer aktiven Sportausübung, das für Kinder und Jugendliche als ebenso gesichert gelten kann, wie für Senioren und eine große Zahl von Risikopatienten.

Wer um die wissenschaftlich hinlänglich belegte positive Wirkung von Bewegung, Spiel und Sport für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger weiß, wer die verschiedenen Trainings- und Bewegungsmuster aus den Bereichen des Ausdauer- ,Kraft-, Schnelligkeit- und Fertigkeitstrainings kennt und deren Beitrag für die Stärkung eines intakten Immunsystems zu schätzen weiß, der kann zurecht seine Verwunderung zum Ausdruck bringen, dass der organisierte Sport diesen besonderen Lockdown nahezu kritiklos hingenommen hat. Obrigkeitsdenken und fragloser Gehorsam gab es offensichtlich nicht nur in den Turn- und Sportorganisationen der vergangenen zwei Jahrhunderten. Auch in diesen Tagen und Wochen haben sie eine fragwürdige Rolle gespielt.

Es stellt sich auch die Frage, welche Rolle der Sportausschuss das Deutschen Bundestages bei diesem Lockdown gespielt hat. Von einer Verteidigung der Interessen der Sporttreibenden kann dabei wohl kaum die Rede sein. Man kann es durchaus als skandalös bezeichnen, dass lediglich die „Geisterspiele“ des Profifußballs auf der Tagesordnung der Medien und der Politik standen. Dabei ist es ganz offensichtlich, dass nahezu bei jeder Form des sogenannten Freiluftsports die staatlich verordneten Hygieneregeln hätten eingehalten werden können. Die sportliche Praxis, die mittlerweile nach dem Lockdown zu beobachten ist, kann dies hinreichend belegen. Jogging, Fahrradtouren, Bergwanderungen, aber auch das Golfspiel, der Tennissport oder ein Beachvolleyball-Spiel, ausgeübt an der frischen Luft und in der freien Natur, haben ein Infektionsrisiko aufzuweisen, das selbst von den „Fernsehstarvirologen“ als äußerst gering bezeichnet wird.

Über Sinn und Unsinn des mehrwöchigen Lockdowns kann trefflich gestritten werden und immer mehr Kritiker melden sich zu Wort. Immer häufiger werden auch von seriösen Wissenschaftlern Bedenken geäußert, die zu beachten sind. Im Nachhinein ist man gewiss immer schlauer. Auf eine wissenschaftlich solide Weise kann die Frage, ob ohne Lockdown die Coronapandemie in Deutschland ebenso schnell abgeklungen wäre und vergleichsweise ähnlich harmlos gewesen wäre wie mit einem Lockdown und den entsprechenden Einschränkungen von wichtigen grundgesetzlich garantierten Freiheiten und Rechten, nicht beantwortet werden. Darum kann es bei den von mir hier vorgelegten Überlegungen zur gesundheitspolitischen Bedeutung des aktiven Sporttreibens nicht gehen. Zu wünschen wäre aber, dass man aus den Erfahrungen der vergangenen Wochen und Monate lernt und zukünftig bei vergleichbaren Situationen den Beitrag des Sports für ein gesundes und intaktes Immunsystem größere Aufmerksamkeit und mehr Beachtung schenkt.

Verfasst. 30.05.2020