„Schluss mit dieser Neutralität!“, so lautete am 17. Juni die Überschrift eines Zeitungsartikels in der FAZ, geschrieben von A. Hecker. Diese Forderung verweist auf die wohl naheliegendste Frage, was der Verfasser dieser Überschrift anstelle der „Neutralität“ sich wünscht. Würde er logisch denken, so müsste er sich die „Parteilichkeit“ der Sportorganisationen und des IOC wünschen, denn „Parteilichkeit“ ist das Gegenteil von „Neutralität“. Als Leser dieser Überschrift darf man erwarten, dass der Autor in seinem Artikel ein Angebot unterbreitet, was – wenn nicht die Parteilichkeit, die sich ja nun wirklich niemand, der Verantwortung in einer Sportorganisation übernommen hat, wünschen kann – anstelle der Neutralität gesetzt werden soll. Eine Antwort auf diese wichtige Frage findet sich jedoch in dem Beitrag nicht. Hingegen wirft dieser noch eine ganze Reihe weiterer Fragen auf, die darauf hinweisen, dass der Autor es nicht sehr genau mit seiner Sorgfaltspflicht hält. „Sport ohne Politik! Das gibt es. Jeden Tag. Auf dem Bolzplatz, im kleinen Verein um die Ecke. Aber nicht auf der großen Bühne. Das wäre ein Traum: eine unpolitische Fußballweltmeisterschaft, und unpolitische Olympische Spiele. Wer behauptet, dass es das gibt, ist ein Träumer oder ein als Romantiker getarnter Täuscher“. Dem ersten Teil dieser Sätze, muss widersprochen werden. Beim zweiten Teil setzt der Autor voraus, dass überhaupt jemand behauptet, dass es unpolitische Olympische Spiele geben soll. Verwendet man den Begriff des „Politischen“ und der „Politik“ in einer auch nur einigermaßen sinnvollen Weise, so unterliegt das Spiel von Kindern auf dem Bolzplatz ebenso einer politischen Grundlegung und damit einer bestimmten „Spielart“ von Kommunalpolitik so wie auch die internationalen Sportveranstaltungen grundlegend einen politischen Charakter haben und dabei eine ganz andere „Spielart“ von Politik, nämlich jene der internationalen Politik aufweist. Einen „unpolitischen Sport“ gibt es nicht so wie es auch keine unpolitische Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft etc. gibt. Allerdings macht es viel Sinn, „staatliche Politik“ und die Politik der Sportorganisationen, die man als deren „Sportpolitik“ nennen kann, begrifflich klar zu unterscheiden. Und die Sphären der staatlichen Politik müssen von der Sphäre der Sportpolitik grundlegend getrennt sein, sollen die Organisationen des Sports befähigt sein, mit einer unabhängigen Sportpolitik ihren eigenen Gestaltungsraum mit ihren Ideen und Handlungen auszufüllen.
„Aber könnte das IOC eines Tages nicht doch bekommen, was es zu organisieren vorgibt: unpolitische Spiele? Versuchen wir es mit einem Sakrileg: mit der Entnationalisierung.“ Auch die weiterführenden Ausführungen des Autors unterliegen ganz offensichtlich demselben grundlegenden Denkfehler wie bei seinen vorherigen Annahmen. Zum einen setzt er voraus, dass jemand „unpolitische Spiele“ fordert und sich wünscht, zum anderen meint er, dass dies mit der Entnationalisierung zu erreichen wäre. Wer der „jemand“ ist, wird nicht offengelegt, wen der Autor jedoch meint, kann vermutet werden. Dabei ist es ganz offensichtlich und auch der Autor selbst schreibt, dass das IOC die vorhandene Nationalisierung der Olympischen Spiele nicht zu verantworten hat, sondern dies vor allem den ständigen Versuchen staatlicher Bevormundung geschuldet ist, somit der Einmischung der Nationalstaaten in die Belange des IOC und der Olympischen Bewegung. Der Forderung nach einer „Entnationalisierung“ kann ich mich gerne anschließen. Der Tübinger Moraltheologe Moltmann hat dies bereits vor mehreren Jahrzehnten gefordert und ich habe mich dieser Forderung mehrfach in meinen Publikationen angeschlossen. Doch das Ergebnis dieser Forderung wären dabei nicht „unpolitische Spiele“, sondern Olympische Spiele mit einem anderen politischen Charakter. Der Weg, der dabei zu gehen wäre, wäre ein Weg bei dem sich das IOC und die Sportorganisationen durch eine engagierte, eigenständige und unabhängige Sportpolitik auszeichnen würden. Dabei müssten sich das IOC und die internationalen Sportorganisationen verbitten, dass Staaten sich bei der Suche nach einer ihnen genehmen Lösung einmischen, zumal die Sichtweisen unterschiedlicher Staaten unterschiedlich sein dürften. Eine Einmischung durch Nationalstaaten, so wie sie mit der Intervention westeuropäischer Staaten in Bezug auf die Olympischen Sommerspiele in Paris 2024 in diesen Wochen und Monaten nahezu täglich zu beobachten ist, müsste sich dabei von selbst verbieten.
„Thomas Bach, der Präsident des IOC, glaubt, Sportler und Sportlerinnen aus Russland wären keine Russen, würden sie als neutrale Athleten antreten. Mit dem Entzug von Hymne und Flagge, von allen Zeichen, die ihre nationale „Abstammung“ symbolisieren, so die Logik des IOC, würde dem Regime Putins in Paris die Gelegenheit entzogen, sich als gleiche unter den Nationen der Welt zu präsentieren“. Auch mit diesem Satz präsentiert uns der Autor dieses Artikels in der FAZ eine weitere fragwürdige Annahme, indem er vorgibt zu wissen, was der IOC Präsident „glaubt“. Dabei hat dieser in all seinen Reden und Publikationen zu keinem einzigen Zeitpunkt die Auffassung vertreten, dass neutrale Athleten1 mit russischemPass keine Russen seien. Im deutschen Sportjournalismus ist es mittlerweile anscheinend erlaubt, dass dem IOC-Präsidenten nahezu jeder Sündenfall des Weltsports zugeschrieben wird. Doch die hier geäußerte Unterstellung ist eine intellektuelle Beleidigung, die auf jenen zurückfällt, der sie aufgestellt hat.
Die Auffassung des Autors, dass dem IOC in Friedenszeiten der Nationalismus recht und billig ist und dabei das Gegenteil von Völkerverständigung bewirkt wird, ist eine berechtigte Kritik, die über viele Befunde belegt werden kann. Ein Beispiel unter vielen ist dabei der Medaillenspiegel, der von Politikern, aber auch von vielen Sportfunktionären und den Medien sehr gerne gepflegt wird, der jedoch vom Begründer der modernen Olympischen Spiele. Pierre de Coubertin und von der Olympischen Charta nicht vorgesehen war und ist. Ich teile den Wunsch nach Abschaffung des Medaillenspiegels bei Olympischen Spielen mit dem FAZ- Autor. Im Gegensatz zu mir hat dieser es allerdings in der Hand, bereits bei den Olympischen Spielen im Sommer 2024 in dem Sportteil seiner FAZ auf diesen zu verzichten. Man darf gespannt sein, ob seinen Worten Taten folgen werden.
Der FAZ- Autor zeigt über eine Reihe von ganz gut ausgewählten Beispielen wie der Sport in der Vergangenheit und auch noch in diesen Tagen als „Grabenkriegsersatz“ missbraucht wird und er stellt danach die Frage, was geschehen würde, wenn das IOC sich strikt an seiner Olympischen Charta ausrichten würde und Fahne, Hymne und Einmarsch der Nationen als Olympische Rituale verbieten würde. „Die Antwort ist so simpel wie ernüchternd: der olympische Sport würde zusammenbrechen“. Erneut macht der Autor eine Annahme, die einer genaueren Betrachtung nicht standhält. Der Wettkampfsport, der Hochleistungssport, aber auch der Sport auf dem Bolzplatz ist insofern immer auch „politischer Sport“, weil er ohne subsidiäre staatliche Unterstützungsleistungen nicht existieren kann. Talentsuche, Talentförderung, Kinder- und Jugendsportschulen oder „Eliteschulen des Sports“, Schulsport, bezahlte Trainer und Sportwissenschaftler, Reisen zu den Trainingslagern und zu den Wettkämpfen etc. sind ohne Akzeptanz durch die Staaten, aus denen die Athleten kommen und ohne eine staatliche finanzielle Unterstützung nirgendwo in der Welt möglich. Die nationalen und internationalen Sportorganisationen sind also ohne Zweifel auf die Förderung durch Staaten angewiesen. Diese Förderung muss aber nicht notwendigerweise auf die überall in der Welt übliche nationale Repräsentation durch sportliche Höchstleistungen hinauslaufen. Es gibt durchaus auch eine Möglichkeit der staatlichen Förderung, die dem Prinzip der Selbstlosigkeit entspricht, und die den Sportorganisationen d Autonomie, ein Eigenleben und eine eigene Sportpolitik zubilligt. Man spricht in diesem Zusammenhang vom „Subsidiaritätsprinzip“, wie es in der katholischen Soziallehre beschrieben wird und wie sie auch von den Gründungsvätern der Bundesrepublik Deutschland für die Beziehung zwischen Staat und Sport in Deutschland vorgedacht, vorgelebt und im Grundgesetz in Artikel 9 zum Ausdruck gebracht wird. Dies steht einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen dem Staat und dem organisierten Sport ebenso wenig im Wege wie die Umsetzung des Prinzips der Subsidiarität bei der Sportförderung.
Ein Hochleistungssport mit einem Regelsystem, das auch multikulturelle Mannschaften zulässt und eine Zulassung von Athletinnen und Athleten zu Wettkämpfen ohne Überprüfung der staatlichen Zugehörigkeit bzw. der Herkunft, könnte sich durchaus als äußerst wünschenswert herausstellen. Allerdings ist es naiv anzunehmen, dass die Grundlagen für ein derartiges internationales Hochleistungssportsystem ausschließlich aus Mitteln der privaten Wirtschaft finanziert werden könnten. Staatliche finanzielle Hilfen sind für die Weiterentwicklung des internationalen Hochleistungssports unverzichtbar.
Der FAZ- Autor mag Recht haben, dass es für Diktator Putin ein Leichtes ist, die vom IOC zugelassenen neutralen Athleten mit russischem Pass für eine weitere eigene Propagandashow zu nutzen. Zu fordern, dass deshalb das IOC seinen Neutralitätsstatus aufgeben soll, ist meines Erachtens weder sinnvoll noch kann eine solche Forderung nachvollziehbarund tragfähig begründet werden. Wird ferner noch behauptet, dass das IOC sich nur in seinen Handlungen gegenüber der Ukraine neutral verhält, so ist dies eine geradezu böswillige Behauptung, der in aller Entschiedenheit entgegen getreten werden sollte. Das IOC war die erste internationale Organisation, die Sanktionen gegenüber Russland ausgesprochen hat, die ein umfassendes Hilfsprogramm zu Gunsten des ukrainischen Nationalen Olympischen Komitees bereitstellte und darüber hinaus der Ukraine weitreichende Finanzhilfen zur Vorbereitung ihrer Olympiamannschaft übermittelt hat. Die mittlerweile erkennbaren Reaktionen des russischen Staates auf die Sanktionen des IOC und auf die Vorschläge von IOC- Präsident Bach zur Teilnahme „neutraler Athleten mit russischem Pass nach vorheriger Einzelüberprüfung“, zeigen sehr deutlich, dass sich das IOC gegenüber dem terroristischen Angreifer Russland keineswegs „neutral“ verhält, wie der FAZ- Autor glauben machen will, sondern dass Russland sich immer öfter gegen das IOC auflehnt und sogar „Gegenspiele“ plant, mit denen die weitere Zukunft der Olympischen Spiele gefährdet werden könnte.
Wer daran interessiert ist, dass uns die Olympischen Spiele auch noch in der weiteren Zukunft erhalten bleiben – und dieses Interesse muss man auch für die Sportredaktion einer der wichtigsten deutschen Tageszeitungen voraussetzen dürfen – der sollte alles dafür tun, damit derartige Angriffe auf die modernen Olympischen Spiele der Neuzeit mit aller Entschiedenheit abgewehrt werden.