Die „Dopingspirale“ bei Arte – ein olympisches Mahnmal

Am 04. Juli 2017 wurde vom deutsch-französischen Kultursender Arte eine Dokumentation ausgestrahlt, in der das internationale Dopingproblem des Hochleistungssports unter dem Titel „Die Dopingspirale“ in einer bemerkenswerten Weise behandelt wurde. In 90 Minuten wurde das Dopingproblem in seiner Komplexität und in seiner Reichweite äußerst fachkundig aufgearbeitet, wie es in der Fernsehberichterstattung bislang noch nicht der Fall gewesen ist. Dabei wurden keine neuen Sachverhalte behandelt. Die behandelten Dopingfälle waren nicht nur für Experten bereits bekannt, sie wurden auch bereits hinlänglich in der Öffentlichkeit diskutiert. Das besondere dieser Dokumentation ist jedoch darin zu sehen, dass vermutlich noch nie zuvor die Akzente der Dopingproblematik so genau gesetzt wurden. Meines Erachtens lohnt es sich deshalb diese Akzente zu rekonstruieren und sie noch einmal thesenartig zusammenzufassen, ohne die Betrachtung der gesamten Dokumentation überflüssig werden zu lassen.

Die folgenden Thesen sollen vielmehr verdeutlichen, dass das Dopingproblem sich durch eine außergewöhnliche Komplexität auszeichnet, die bis heute meist nicht erfasst wurde und die Lösung des Problems ist dabei nach wie vor in weiter Ferne.

  1. Das Doping ist untrennbar mit der Logik des sportlichen Wettkampfes verbunden. Das Befolgen von Regeln ist wünschenswert, das Nichtbefolgen, der Regelverstoß, kann jedoch nicht ausgeschlossen werden. Doping scheint für die meisten sportlichen Höchstleistungen von entscheidender Bedeutung zu sein, wenn es um Sieg und Niederlage geht.
  2. Das Dopingproblem hat sich zu einem globalen Problem entwickelt. Es ist in allen Nationen anzutreffen, in denen Leistungssport getrieben wird.
  3. Das Dopingproblem beschränkt sich nicht auf wenige Sportarten wie häufig von Experten, Journalisten und der Öffentlichkeit angenommen wurde, es betrifft vielmehr sämtliche Sportarten. Besonders betroffen sind dabei die olympischen Sportarten. Das Dopingproblem ist vor allem auch in den sogenannten Profi-Sportarten anzutreffen. Dies gilt für Fußball, Basketball, Handball, Golf, American Football, Eishockey und Baseball gleichermaßen. Es gibt immer mehr Sportarten, in denen die Abweichung zur Norm geworden ist und das Nichtabweichen, das heißt die saubere Leistung, sich außerhalb der Norm befindet.
  4. Dopende Athletinnen und Athleten weisen einen Sozialisationsprozess auf, in dem eine systematische Verführung der Athleten aus einer fairen Sportwelt in eine Welt des Betruges stattfindet. Betreuende Sportärzte und Pharmakologen spielen bei der Ausbreitung des Dopingproblems in der Welt des Hochleistungssports eine zentrale Rolle. Sie versichern den Athleten, dass sie sich auf ihr Betrugssystem verlassen können.
  5. Die Welt-Anti-Doping-Agentur hat in vieler Hinsicht ihren Auftrag nicht erfüllt. Die Versäumnisse sind politischer, personeller, finanzieller und struktureller Natur. Einige nationale Anti-Doping-Labore stehen seit ihrer Gründung unter dem Verdacht, dass ihre Kontrollarbeit nicht gewissenhaft ausgeführt wird und dass die Gefahr zur Manipulation und Korruption besteht. Es ist offensichtlich, dass die meisten Dopingskandale nicht von den Anti-Doping-Agenturen aufgedeckt wurden. Die Aufdeckung des russischen Skandals kann allenfalls als journalistische Musterarbeit bezeichnet werden, bei der die Anti-Doping-Agentur so gut wie keine Rolle gespielt hat. Andere Skandale wurden von Whistleblowern, über staatliche Razzien oder durch weitere journalistische Recherchen aufgedeckt.
  6. Athleten die sich zum eigenen Dopingbetrug bekennen werden in der Regel geächtet. Die Nachteile für Geständige überwiegen gegenüber den Vorteilen der Lügner. Die Trainer sind meist zu einem Eingeständnis der Mitschuld nicht bereit. Whistleblower, die sich zum Dopingproblem öffentlich geäußert haben, werden nur kurzfristig von den Medien als Helden gefeiert. Mittel- und langfristig haben sie erhebliche Nachteile. Die große Mehrheit der internationalen Athleten schweigt zum Dopingproblem des Hochleistungssports. Das Dopingproblem wird von einer Omertà des Schweigens geprägt.
  7. Es gibt die ewige Suche nach neuen unerlaubten Substanzen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Kontrolleure sind im ständigen Wettlauf mit den betrügenden Athleten und deren medizinischen Experten. Die Liste der verbotenen Substanzen ist eine Anleitung zum Auffinden all jener Substanzen, die noch nicht verboten sind. Dabei fällt auf, dass immer wieder mit solchen verbotenen Substanzen die sportliche Leistung gesteigert wird, die längst bekannt sind und deren Nachweis möglich ist. So unter anderem Clenbuterol und EPO.
  8. Die Möglichkeit zur Nachanalyse der Proben bis zu zehn Jahre danach hat keine abschreckende Wirkung. Die Aberkennung früherer Leistungen und Erfolge hat für überführte Athletinnen keine Bedeutung. Ihr Betrug hat sich meist ökonomisch bezahlt gemacht.
  9. In der Öffentlichkeit werden mittlerweile alle Athleten des Dopings verdächtigt. Es besteht ein Generalverdacht. Der saubere Athlet hat auf diese Weise keinen Schutz. Für ihn ist es nicht möglich einen Nachweis für seine Sauberkeit zu erbringen.
  10. In der großen Mehrheit der Leistungssportnationen wird gar nicht oder nur ganz wenig kontrolliert. Eigene Anti-Doping-Programme existieren nicht. Deren Athleten werden allenfalls durch internationale Kontrollsysteme punktuell erreicht. Die Kontrolldichte ist völlig unzureichend.
  11. Die Haltung der Sponsoren gegenüber dem Dopingproblem ist zynisch. Nur im Ausnahmefall werden Verträge gegenüber Athleten gekündigt, die des Dopingbetrugs überführt wurden. Ein aktives Engagement der Sponsoren gegenüber dem Dopingproblem ist nicht zu erkennen. Die Dopingbekämpfung dient nur der Imagepflege des Sports.
  12. Die Wirkung der Dopingstrafen wird von vielen Experten angezweifelt. Von Athleten werden immer häufiger lebenslange Strafen gefordert. Diese sind jedoch gegenüber dem Gesetzgeber nicht durchsetzbar.
  13. Die Verbände haben nur ein begrenztes Interesse das Dopingproblem öffentlich zu diskutieren und mittel- und langfristig zu lösen. Bei vielen Verbänden besteht die Gefahr, dass Dopingfälle vertuscht oder bagatellisiert werden. Bei der IAAF hat dies dazu geführt, dass deren Präsident gemeinsam mit einer kriminellen Entourage, der auch der eigene Anti-Doping-Direktor angehörte, einen Dopingskandal verursacht haben, bei dem der Verdacht besteht, dass positive Dopingkontrollen gegen hohe Finanzsummen durch die Verbandsfunktionäre vertuscht wurden.
  14. In vielen Nationen muss ein systematisches Doping vermutet werden, bei dem auch staatliche Behörden und Politiker in höchsten Positionen eine entscheidende Rolle spielen. Die Politik und die Staaten befinden sich dabei in einer Rolle der Mittäterschaft. Sie profilieren sich über die sportlichen Spitzenleistungen ihrer Athleten, distanzieren sich jedoch von diesen, sobald sie des Betruges überführt wurden. Erfolge im Spitzensport sind auf diese Weise ein ideales Medium nationaler Repräsentation.
  15. Das Dopingproblem wird immer häufiger verdrängt. Dies gilt vor allem für die Zuschauer. Es wird aber auch von Experten, Funktionären und Politikern verdrängt. Je länger das Problem existiert, desto intensiver werden die Verdrängungsprozesse. Fußball ist jener Sport, in dem das Dopingproblem am meisten verdrängt wird und die FIFA und ihre Mitgliedsverbände an einer Aufklärung über das Problem und der notwendigen Bekämpfung des Betrugs nur ein begrenztes Interesse haben.
  16. Je mehr Geld mit sportlichen Leistungen verdient werden kann, desto raffinierter werden die Betrugsmethoden. So kommen heute bereits sehr teure Zelltherapien und genetische Manipulationen zum Tragen. In jüngster Zeit haben medizinische Experten vor allem Fußballspieler zelltherapeutisch behandelt. Mittlerweile wurde die Zelltherapie aus der Verbotsliste der WADA entfernt.
  17. Die Medien spielen eine zweifelhafte Rolle im Anti-Doping-Kampf. Hinsichtlich ihrer eigenen ökonomischen Interessen sind sie mehrheitlich an einem positiven Image des Hochleistungssports interessiert. Die Aufklärung über das Dopingproblem findet deshalb als Minderheitenjournalismus statt, dem es allerdings nicht selten an fachlicher Kompetenz mangelt.
  18. In Bezug auf die Dopingsubstanzen gibt es einen Rüstungswettlauf der Betrüger. Es gibt Mannschaftsärzte, die bemüht sind ihren Athleten Substanzen zu verabreichen, die besser sind als die der Konkurrenz, um auf diese Weise einen Leistungsvorteil zu erreichen. Es besteht große Gefahr, dass die aktuellen Methoden zur Leistungsmanipulation durch eine neue Generation abgelöst werde, deren Nachweis in weiter Ferne ist. Die Möglichkeit zur Genmanipulation scheint ganz offensichtlich bereits heute zu bestehen.
  19. Der Hochleistungssport ist ein Versuchsfeld unserer Gesellschaft für Enhancement, Leistungssteigerung und Perfektionierung des menschlichen Körpers. Der Hochleistungssport ist dabei ein Testfeld für noch nicht zugelassene Medikamente. Die Athleten sind bereit dabei höchste Risiken für Leib und Leben einzugehen. Die verbotenen Subtanzen werden weltweit angeboten. Sie haben einen Marktwert von mehr als 30 Milliarden Euro. Das Geschäft mit den Substanzen liegt in der Hand großer krimineller Organisationen. Führend für den Vertrieb ist die asiatisch-russische Mafia. Die Dopingsubstanzen werden meist in Laboren ehemaliger Ostblockstaaten hergestellt, so unter anderem in Moldawien. Die verbotenen Substanzen werden überwiegend über das Internet vertrieben. Es handelt sich dabei meist um Medikamente ohne Medikamenten-Patentschutz. Viele dieser Medikamente sind offiziell nicht zugelassen.
  20. Dopingmittel können irreversible Schäden hervorrufen. Die Zahl der geschädigten Athleten wächst jährlich weltweit überproportional schnell. Wiedergutmachungssysteme gegenüber unschuldig geschädigten Athleten gibt es nur ganz selten.
  21. Unter ökonomischen Gesichtspunkten lohnt sich der Betrug für die Dopingbetrüger in jeder Hinsicht. Es gilt dabei der Grundsatz – je höher die Einnahmen des Athleten, desto mehr kann in die Manipulation der sportlichen Leistung investiert werden.
  22. Die Forderung nach der Unabhängigkeit des Anti-Doping-Kampfes steht im Raum. Die Frage wie Unabhängigkeit gewährleistet werden kann wird hingegen bis heute noch nicht befriedigend beantwortet. Die Unterscheidung zwischen Judikative, Exekutive und Legislative ist im Anti-Doping-Kampf nur sehr ungenau zu erkennen. Die Rolle der WADA, der internationalen Verbände, des IOC, internationaler Gerichte, nationaler Gerichte und deren Zusammenspiel ist völlig unbefriedigend.

Die hier nur skizzenhaft wiedergegebenen Aspekte des internationalen Dopingproblems sollen der Information jener dienen, die an einem aufrichtigen, transparenten und ehrlichen Anti-Doping-Kampf interessiert sind. Die Komplexität des Problems ist dabei die eigentliche Herausforderung, der man sich im zukünftigen Anti-Doping-Kampf zu stellen hat. Angesichts all der gescheiterten Bemühungen der vergangenen Jahrzehnte im Anti-Doping-Kampf wäre Resignation durchaus verständlich. Im Interesse zukünftiger Athletengenerationen, im Interesse jener jungen Menschen, die an einem fairen sportlichen Wettkampf interessiert sind, im Interesse der nach wie vor relevanten olympischen Werte und für die Weiterentwicklung der humanitären Verhältnisse in modernen Gesellschaften hat sich Resignation jedoch selbst zu verbieten. Es sollte vielmehr zu einem völlig neuartigen Überbietungswettkampf eingeladen werden. Neue und kreative Ideen sind gesucht im heutigen und zukünftigen Anti-Doping-Kampf. Hierzu müssen all jene eingeladen werden, die heute Verantwortung für das System des Hochleistungssports tragen. An vorderster Front sollten dabei die Athleten stehen, denn es geht bei der Behandlung des Dopingproblems vor allem um die Athleten selbst, um ihre Wettkämpfe, um die Zukunft ihres Sports, um die Integrität der Athleten selbst und um ihre Rolle in der zukünftigen Gesellschaft.

Verfasst: 13.07.2017